Nervenkrieg in der Notunterkunft
Immer mehr Obdachlose suchen in privaten Einrichtungen Unterschlupf. Doch das ist nicht der Grund, weshalb die Betreuer langsam an ihre Grenzen stossen.

Wenn sich der Winter von seiner garstigen Seite zeigt, wird dem Thema Obdachlosigkeit wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Was geschieht mit den Menschen, die kein Zuhause haben, wenn die Temperaturen eisig sind und der Schnee fällt? Die gute Nachricht vorweg: In den Deutschschweizer Städten ist das Angebot noch gross genug, um allen Obdach zu gewähren, die danach suchen. Die schlechte Nachricht: In einigen Einrichtungen ist die Kapazitätsgrenze erreicht.
So zum Beispiel im Pfuusbus der Sozialwerke Pfarrer Sieber in Zürich. Das Gratisangebot wurde zu Saisonbeginn buchstäblich überrannt. «Seit Ende November haben bereits 998 Personen bei uns übernachtet. Im letzten Jahr waren es im selben Zeitraum erst 746», sagt Pfuusbus-Leiterin Monika Christen auf Anfrage.
Die Zahl der psychisch Kranken steigt
Die freiwilligen Mitarbeiter des Pfuusbus haben aber nicht nur mit der steigenden Nachfrage zu kämpfen. Auch die Zahl der psychisch Kranken, die das Angebot nutzen, hat laut Christen klar zugenommen. Das sei eine grosse Herausforderung für das Team, denn die meisten seien im Umgang mit psychisch Kranken nicht geschult. «Man ist die ganze Nacht über angespannt und es braucht nur wenig, bis eine Situation eskaliert. Es ist enorm, was unsere Mitarbeiter täglich leisten», sagt Christen.
Video - Auf Kältepatrouille in Zürich
Zwei Obdachlose erzählen, warum sie auf der Strasse leben und was sie sich wünschen. Video: Tamedia/Mirjam Ramseier
Eine ähnliche Beobachtung macht Professor Jörg Dittmann von der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er steht seit längerer Zeit mit verschiedenen Institutionen für Obdachlose in der Stadt Basel in Kontakt. «Die Zahl der obdachlosen Menschen mit psychischen Erkrankungen hat in den letzten zwei bis drei Jahren zugenommen», sagt Dittmann. Das könne damit zusammenhängen, dass Menschen mit psychischen Problemen früher aus psychiatrischen Kliniken entlassen oder nur noch ambulant behandelt werden.



Viele Institutionen seien aber nur darauf ausgerichtet, die Grundbedürfnisse der Obdachlosen zu decken. «Sie stellen Kleider, Essen, Betten zur Verfügung. Für die Betreuung psychisch Kranker fehlen das Wissen und die Kapazität. Sie bindet nicht nur die Ressourcen, sondern stört auch die regulären Abläufe.» Ob die Grenze der Belastbarkeit bereits erreicht sei, lasse sich derzeit nicht sagen. «Aber die Hinweise darauf verdichten sich», so Dittmann.
Keine Statistik über Obdachlose
Überhaupt ist es schwierig, in der Schweiz Informationen über Obdachlose zu bekommen. Eine nationale Statistik gibt es nicht. In den Städten existieren neben den öffentlichen Einrichtungen zahlreiche Private, die Wohnungslosen Hilfe anbieten und diese werden unterschiedlich genutzt.
Während der Zürcher Pfuusbus überrannt wird, verzeichnet die Notschlafstelle der Stadt Zürich gemäss Nadeen Schuster, Sprecherin Soziale Einrichtungen und Betriebe Zürich, keinen Anstieg der Anfragen. Auf die hohe Zahl psychisch Kranker muss hingegen auch die Stadt reagieren und beschäftigt in ihren Einrichtungen zunehmend Mitarbeitende mit psychiatriepflegerischer Ausbildung.
«Es ist schwierig bis unmöglich, die obdachlosen Personen in Basel zu zählen.»
Jacqueline Lätsch, Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt Stadt Basel
Auch in der Stadt Basel bewege sich die Anzahl Übernachtungen in der kantonalen Notschlafstelle im üblichen Rahmen, sagt Jacqueline Lätsch, Bereichsleiterin Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Doch selbst sie muss sagen, dass sie keine Angaben zu Herkunft, Hintergrund und Zahl von obdachlosen Personen in Basel machen kann. «Es ist schwierig bis unmöglich, sie zu zählen.» Ein Hinweis darauf, dass es auch in der Stadt am Rhein mehr Obdachlose hat, gibt das Beispiel Schwarzer Peter: Bei dem Verein für Gassenarbeit waren 2010 noch rund 100 Personen gemeldet, weil sie keinen festen Wohnsitz in Basel hatten. 2016 waren es bereits 384.
Anlaufstellen als Zwischenlösung
Um das Ausmass der Obdachlosigkeit in Basel zu erfassen und die Öffentlichkeit für die Umstände von Betroffenen zu sensibilisieren, startet Professor Dittmann im kommenden Frühling eine Studie. «Unsere Erhebungen beziehen sich nicht nur auf Clochards, die auf der Strasse leben, oder Menschen, die in Notschlafstellen übernachten, sondern unter anderem auch auf jene, die bei Freunden oder Verwandten unterkommen, weil sie keine eigene Wohnung haben – sogenannte verdeckte Obdachlose», sagt Dittmann.
Generell will Dittmann ein besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit richten, denn immer häufiger würden Menschen Anlaufstellen als Zwischenlösung nutzen. Beispielsweise wenn sie in einer Stadt auf Stellensuche sind und nur wenig Geld fürs Wohnen ausgeben können. «Es gibt 13 verschiedene Arten von Wohnungslosigkeit. Das muss nicht notwendigerweise dazu führen, dass man auf der Strasse lebt.»
Silvio Flückiger, Leiter der mobilen Interventionsgruppe Pinto der Stadt Bern, stellt einen «langsamen, aber kontinuierlichen» Anstieg der Obdachlosenzahlen fest. Die Pinto-Mitarbeiter sehen in Bern regelmässig nach den Obdachlosen, kontrollieren, ob sie für die kalten Tage gut ausgerüstet sind und geben allenfalls Decken und Schlafsäcke ab. Gemäss Flückiger sind derzeit 23 Obdachlose in der Stadt. «2007 waren es noch 5 bis 8 Personen, die auf der Strasse lebten. Letztes Jahr waren es sogar 35.»
In Bern werden laut Flückiger einzig jene zu den Obdachlosen gezählt, die längere Zeit ausschliesslich draussen leben, über keine stabile Wohnsituation verfügen und keine meldefähige Adresse haben. «Wer ein, zwei Nächte in Bern strandet, wird nicht erfasst.» Es seien hauptsächlich Personen aus der Region. Ausländische Obdachlose gebe es kaum in Bern. «Unser primäres Ziel ist es, dass die Leute dorthin zurückkehren können, wo sie ein soziales Netz haben», sagt Flückiger.
Die Hintergründe für die Obdachlosigkeit seien höchst unterschiedlich. Doch auch Flückiger bemerkt, dass relativ viele Obdachlose psychisch krank sind. «Diese Krankheit hindert sie daran, drinnen zu ein. Sie ertragen die Nähe zu anderen nicht oder denken, dass sie beobachtet werden. Sie ziehen es daher vor, draussen zu bleiben.» (tif)
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