KircheVerbotene Lust
Wir verfluchten unsere Erziehung«, gestand ein 35jähriger katholischer Abteilungsleiter. »Die Scham war beiderseits so groß, daß weder ich es wagte, die Scheide meiner Frau anzuschauen, noch wagte meine Frau, mein Glied zu berühren.«
»Ich bin in einer so streng katholischen Familie aufgewachsen«, bekannte ein 45jähriger Katholik ("verheiratet, keine Kinder"). daß ihm weniger einfalle, »was ich alles tat, um die Sexualität zu entdecken ... als vielmehr von dem, was alles getan wurde, um die Entdeckung der Sexualität zu verhindern«.
»Auch beim Baden der Kinder sollten wir nicht zuschauen«, erinnerte sich ein Katholik ("ca. 30 bis 40 Jahre"). »Je mehr ich spürte. ein nacktes Mädchen nicht sehen zu dürfen, desto faszinierender wurde für mich der Anblick eines nackten Mädchens. Bald war das Geschlechtsteil eines Mädchens das einzige, was mich an Mädchen interessierte Seit der ersten Beichte »betrachtete ich alles, was irgendwie mit dem Geschlecht zusammenhing, als schwere Sünde«.
62 größtenteils verheiratete Christen und fünf katholische Priester beichteten dem Münchner Religionsphilosophen Professor Fritz Leist, 58, per Brief und Bericht. Er sammelte die Texte für ein Taschenbuch. Unter dem Titel »Der sexuelle Notstand und die Kirchen« lieferte es der Freiburger Herder-Verlag in 15 000 Exemplaren Ende April an die Buchhandlungen aus.
Dort blieb es nur wenige Tage. Am 2. Mai war für den Verlag der erste, am 12. Mai der letzte Verkaufstag. Er zog das Buch zurück und läßt etwa 5000 übriggebliebene Exemplare vermutlich einstampfen.
Es ist der erste katholische Buch-Skandal seit über einem Jahrzehnt. So lange hat es in der Bundesrepublik keinen solchen Verkaufs-Stopp gegeben.
Das Buch hatte schon bei seinem Erscheinen so viel Widerhall gefunden wie wenige andere Werke des größten katholischen Verlags in Deutschland. Seitenlange Auszüge erschienen in der »Frankfurter Allgemeinen« und im SPIEGEL. Eine Illustrierte wollte das Buch einem Report zugrunde legen.
in den Auszügen, die der SPIEGEL abgedruckt hatte, berichteten amtierende Priester freimütig darüber, wie sie insgeheim den Zölibat umgehen (Heft 20/1972). Vor allem mit diesem Abdruck aus drei Briefen begründete der Herder-Verlag das Verbot des eigenen Werkes: Das Buch sei dadurch, so der Herder-Lektor Johannes Harling an Herder-Autor Leist, »pervertiert und zur Diskriminierung der Kirche mißbraucht« worden. Leist freilich denkt anders über die Briefe: »Derjenige, der priesterliche Schicksale kennt, weiß, daß solche Geschehnisse typisch sind.«
So offen wie die Priester hatten auch die anderen Bericht- und Briefschreiber ihre sexuellen Schwierigkeiten bekannt. Und wie die Autoren gab auch der Herausgeber die Schuld an diesen Nöten vor allem den Kirchen und ihren weithin überholten Morallehren. Leist: »Kampf gegen die Lust ist das Bestimmende in der Geschichte der abendländschen Christenheit.«
Daß Leist sich nicht auf der offiziellen Linie der katholischen Kirche bewegt, war unter anderem aus seinem erstmals 1953, zuletzt auch bei Herder als Taschenbuch erschienenen und mittlerweile in 110 000 Exemplaren verbreiteten Buch »Liebe und Geschlecht« bekannt.
Der Philosoph, zu dessen ersten Büchern nach dem Kriege »Zeugnis des lebendigen Gottes« und »Kultus als Heilsweg« zählten, hat mittlerweile etwa die Hälfte seiner 30 Werke Problemen der Sexualität gewidmet. Während Leist-Ehefrau Marielene Aufklärungsbücher für Kinder verfaßt, beschäftigt sich der studierte Tiefenpsychologe vor allem mit den Erwachsenen. Weil er sich sogar beim Paarungs-Periodikum »Jasmin« als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das »Lexikon der Erotik« verdingte, gab ihm Kardinal Döpfners »Münchener Katholische Kirchenzeitung« den Titel »Wissenschaftlicher Beischlafrat«. Andere bayrische Blätter nannten ihn »Religions-Kolle« und »Apostel des Unterleibs«.
Der Strafrechts-Sonderausschuß des Bundestages lud ihn 1970 als Sachverständigen zum Sexual-Hearing. Auch dort trat Leist eher gegen als für die kirchliche Moral auf: Sittlichkeit und Recht seien, »was die katholische Christenheit angeht, von ehelosen Männern bestimmt worden, die ihrerseits unterschwellig von einer panischen Angst vor der Übermacht der Frau besessen waren
Weder gegen Leists Ansichten noch gegen die Bekenntnisse seiner Briefschreiber erhob beim Herder-Verlag vor der Veröffentlichung irgend jemand Einspruch. Im Gegenteil: Angesichts der »zum Teil erschütternden Dokumente« fand Ludwig Muth, verantwortlicher Ressort-Chef für die Herderbücherei, der Verlag sollte »einen fälligen Aufklärungsbeitrag leisten«. Und Herder appellierte an die »Vertreter der Kirche, die das Problem des sexuellen Notstandes aus ihrer Diskussion nicht verdrängen dürfen«.
Für das Leist-Buch warb der Verlag überdies mit einem Interview, in dem der Professor urteilte: »Es ist allerhöchste Zeit, daß die römische Kirchenführung den Zölibat freigibt.« Lektor Harling meinte noch kurz vor der Drucklegung zu Leist: »Wenn Schwierigkeiten kommen, werden wir das schon meistern.« Und Herderbücherei -Chef Muth gab sich unmittelbar vor Erscheinen des Buches ebenfalls kühn: »Wir lassen uns von niemandem in die Enge treiben.«
Daß die sogenannte Amtskirche in Gestalt eines Bischofs oder Kardinals den Rückzug des Buches erzwungen habe, bestreitet der Herder-Verlag.
Sicher ist, daß dieses Unternehmen bischöflichen Zorn kaum ertragen könnte. Von jährlich 150 bis 200 neuen Titeln sind etwa 70 der katholischen Kirche und Theologie gewidmet. Die meisten liturgischen Bücher, die in deutschen katholischen Gottesdiensten benutzt werden, stammen aus dem Herder-Verlag.
Die Druckgenehmigung muß jeweils vom zuständigen Bischof erteilt werden.