FRIEDENSVERTRAG - MIT WEM?
SPIEGEL: Herr Präsident, Sie haben kürzlich den Vorschlag gemacht, sich der Deutschlandfrage auf einem unkonventionellen, das heißt in Bonn bisher nicht sehr geschätzten Wege zu nähern. Sie haben gefragt, ob man nicht mit Deutschland endlich einen Friedensvertrag machen solle, ob man nicht die Sowjet-Union auf dem Umwege über einen Friedensvertrag an die deutsche Frage wieder heranführen könne. Was waren die Beweggründe, diesen Vorschlag, auf den die Sowjets überraschend reagiert haben, an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen?
GERSTENMAIER: Ich war, schon bevor ich 1949 in den Bundestag kam, der Meinung, daß die Deutschlandfrage eine Funktion der Weltpolitik geworden ist. Vielleicht ist das weitschweifig, aber es ist ja neuerdings in Mode gekommen, mehr oder weniger tiefsinnige historische Erörterungen anzustellen. Deshalb ist es vielleicht nicht so ganz abwegig, wenn ich folgendes sage: Nach 1918 war es mit der Weltmachtposition Deutschlands a la Bismarck vorbei. Die deutsche Großmachtposition jedoch war im großen und ganzen noch immer unbestritten. Sie hätte aber die Welt weder im Guten noch im Bösen zu irritieren brauchen, wenn nicht Adolf Hitler gekommen wäre und damit der Versuch, Deutschland wieder zu einer führenden Weltmacht zu machen. Der Versuch ging zwar völlig negativ aus, aber die Deutschlandfrage hat die Weltpolitik auch danach schwer belastet. Auch von Deutschland aus gesehen muß man zugeben, daß die Deutschlandfrage, vom Augenblick der bedingungslosen Kapitulation an, eigentlich nur eine Funktion der Weltpolitik geworden ist, das heißt: Das Schicksal Deutschlands hing sogleich davon ab, wie sich die führenden Weltmächte unter den Siegern miteinander oder auch gegeneinander verständigten. Bis zum heutigen Tage sehe ich nicht, daß sich darin irgend etwas grundlegend geändert hätte.
SPIEGEL: Was folgt daraus?
GERSTENMAIER: Ich bin der Meinung, daß die Deutschlandfrage nicht gelöst wird ohne eine weltpolitische Verständigung, also ohne Verständigung zwischen Ost und West. Dies war ja auch im großen und ganzen einer der Leitgedanken der seither von uns verfolgten Außenpolitik. Ich finde, daß mein eigentlich gar nicht programmatisch, sondern beiläufig vorgebrachter Vorschlag, den Friedensvertrag auf die Tagesordnung einer Gipfelkonferenz zu setzen, deshalb auch ganz selbstverständlich ist. Ich kann zwar nicht sagen, daß ich das mit dem Bundesaußenminister oder dem Bundeskanzler abgestimmt hätte, aber es scheint mir, daß mein Vorschlag im wesentlichen ganz gut in den Rahmen paßt, in dem wir uns bislang bewegt haben.
SPIEGEL: Wir dürfen Ihren Worten entnehmen, daß zumindest Sie persönlich sich niemals dem Glauben hingegeben haben, man könne die vierte Besatzungsmacht durch bewaffneten Druck zu einer Deutschlandlösung zwingen, sondern sich immer darüber im klaren gewesen sind, daß man einen Akkord der vier Mächte über Deutschland braucht. Bisher wurden doch die Dinge vielfach so angesehen, daß freie Wahlen am Anfang jeder Deutschlandregelung zu stehen hätten. Ihr Vorschlag hingegen scheint uns zu besagen, daß möglicherweise freie Wahlen am Ende einer Deutschlandregelung stehen, daß also der militärische und politische Status eines künftigen Gesamtdeutschlands vorher, vor freien Wahlen, zwischen den vier Mächten und in Fühlungnahme mit entweder den beiden deutschen Regierungen oder einem von ihnen gemeinsam zu bestimmenden Instrument festgelegt wird.
GERSTENMAIER: Ich möchte meine Antwort teilen, weil Ihre Frage eine zweifache ist. Zunächst zum bewaffneten Druck und was man damit Rußland gegenüber vermag. Ich gehöre eben auch zu den gebrannten Kindern unserer Generation, die keine Freude haben am Schießen, die sich auf der Jagd genau überlegen, ob sie schießen oder nicht schießen sollen. Wenn ich im Zweifel bin, lasse ich das Stück lieber passieren.
SPIEGEL: Wie ist das eigentlich theologisch?
GERSTENMAIER: Theologisch habe ich damit keine Schwierigkeiten, aber ein Exkurs darüber würde hier zu weit führen. Wir haben jedenfalls mit zweimaligem
großem Schießen in diesem Jahrhundert gar nichts erreicht. Ich will nicht ausschließen, daß es vielleicht einige Leute gibt, die ich nicht zu den Scharfsinnigsten im Volke der Dichter und Denker rechnen würde, die in düsteren Dämmerstunden sich vielleicht gesagt haben: Wenn wir mit Hilfe der Amerikaner stark genug geworden sind, dann kriegen die Russen so viel Angst, daß sie ganz von selber mit ihren Panzerdivisionen aus Eisenach abmarschieren, und zwar nicht nur bis nach Frankfurt an der Oder, sondern bis an die russisch-polnische Grenze.
SPIEGEL: Das hat man verschiedensten Orts gehört.
GERSTENMAIER: Vielleicht! Aber nur ganz wenige haben sich solche Anwandlungen gestattet! Der bewaffnete Druck, von dem Sie sprechen, ergab sich im Rahmen der auch von mir vertretenen Politik des Bundeskanzlers einfach aus der Einsicht, daß man sich nach allem, was nach dem Kriege geschah, darauf besann, daß es der sowjetischen Weltmacht gegenüber mit guten Worten allein noch nicht getan ist. Ich erinnere mich ganz genau, wie wir im Jahre 1950 in den Europarat kamen. Ich sagte damals: Wir Deutschen wünschen nicht den Gedanken unserer Beteiligung an einer Neuordnung Europas, unseren Willen zu einer europäischen Vereinigung zu verbinden mit dem anderen der Wiederaufrüstung Deutschlands. Das hatten wir von uns aus gar nicht im Sinn. Wir wünschen aber auch nicht - das ist der Punkt, an dem ich auch heute noch festhalte -, daß die anderen für uns etwas tun, was wir für uns selber nicht zu tun bereit wären. Nur aus diesen Motiven, und nicht in der fahrlässigen Annahme, eines Tages mit irgendeiner offensiven Drucktaktik auf die Russen Einfluß zu nehmen, um sie militärisch zu verdrängen, sondern ausschließlich aus Gründen der Defensive, des lebensnotwendig gewordenen Widerstandes gegen weitere russische Expansion, haben wir uns zur Wiederbewaffnung in der westlichen Schutzgemeinschaft entschlossen.
SPIEGEL: Nun ja, aber wann immer man Politik macht, die irgendwie mit Waffen zu tun hat, ob man nun Krieg führt oder aufrüstet, liegt die dynamische Überschätzung der eigenen Kraft ja nahe, besonders in Deutschland. Uns scheint, Teile unseres Volkes haben 1951/52 im Bewußtsein der neu auf uns zukommenden Stärke die reale Einschätzung für die Möglichkeiten unseres geteilten Landes vermissen lassen. Und wenn jetzt über den Friedensvertrag gesprochen wird, wenn Sie darüber sprechen, so scheint uns, man hat zu einer realen Einschätzung der Lage zurückgefunden. Denn die Frage, wie sie jetzt von Ihnen gestellt wird - erst Festlegung des gesamtdeutschen Status durch einen Friedensvertrag, dann freie Wahlen
- ist ja von den Sowjets 1952 an uns herangetragen worden. Der Abgeordnete Heinemann hat ja kürzlich im Bundestag zu nächtlicher Stunde darüber gesprochen. 1952 wollten wir diese Form der Fragestellung nicht akzeptieren. Vielleicht hatten wir nach gewissen schlimmen Ereignissen in Berlin und Prag Gründe, sehr vorsichtig zu sein. Fest steht aber, daß wir die Frage so, wie sie jetzt von Ihnen gestellt wird, 1952 nicht akzeptiert hätten. Also hat sich in der Zwischenzeit doch etwas getan, was Leute wie Sie dazu bringen kann, einen Schritt weiter zu gehen, als man damals zu gehen bereit war.
GERSTENMAIER: Ich sehe nicht, inwiefern das richtig ist. Ich habe gesagt, daß ich auch heute noch, ebenso wie damals, der Meinung bin, es sei politisch wie übrigens auch sittlich, notwendig, das Unsere zu tun, um der weiteren Expansion Sowjetrußlands Widerstand entgegenzusetzen. Wenn Sie sagen, daß Teile unseres Volkes darauf nun Erwartungen gestellt haben, die in irgendeiner Hinsicht aus dem rein Defensiven ins Offensive - wenigstens in offensive politische Überlegungen - hinausgetreten sind, dann muß ich erwidern, daß ich dafür jede Verantwortung ablehne. Wir haben nichts dazu getan, um einen solchen Denkfehler in irgendeiner Weise zu unterstützen.
SPIEGEL: Wirklich nichts?
GERSTENMAIER: Wir haben ausschließlich gesagt: Wir stellen uns zusammen mit der freien Welt auf die Hinterbeine, wenn wir angegriffen werden. Ich bin der Meinung, daß wir das auch heute noch sagen müssen. Aber nun kommen Sie zu der Geschichtsdeutung von 1952: Ich bin in der Tat der Meinung, daß die sowjetischen Noten, die bei der letzten außenpolitischen Debatte mit den Angriffen Dehlers und Heinemanns eine so große Rolle spielten, auch heute noch interessant sind. Der Bundestag war damals mit allen seinen Parteien in dieser Sache schließlich einer Meinung! Herr Heinemann hätte auch damals wahrscheinlich etwas anderes gesagt, aber als einziger ...
SPIEGEL: Der war nicht im Bundestag.
GERSTENMAIER: Nein, er war nicht im Bundestag. Aber wenn er im Bundestag gewesen wäre, wäre er vermutlich der einzige gewesen, der etwas anderes gesagt hätte. Seine jetzige Partei war jedenfalls in dieser Sache völlig konform mit der Koalition!
SPIEGEL: Nur über die damals zu verhandelnden Integrationsverträge warf die SPD anderer Meinung.
GERSTENMAIER: Das ist wahr. Ich persönlich habe mit Herrn Heinemann oft genug die Klingen gekreuzt, so daß mir seine Vorwürfe im Bundestag gar nichts Neues waren. Das hat er ja hundertmal vorher gesagt - landauf und landab.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir wollten auch nicht die endlose Diskussion, ob damals etwa Chancen versäumt worden sind, wieder eröffnen.
GERSTENMAIER: Aber verzeihen Sie. Etwas ist doch für Sie wie für mich interessant. Ich kann hier ja nicht die Situation umkehren und Sie fragen, aber wenn ich das könnte, würde ich fragen: Haben Sie nicht einmal, ich möchte sagen, die Sowjet-Angebote Satz für Satz durchgeklopft? Haben Sie nicht die Noten daraufhin einmal durchgesehen und durchgeprüft, ob bei aller scheinbaren Bereitschaft der Russen, sich damals auf freie Wahlen in Deutschland einzulassen, dahinter nicht das Kalkül steckte, mit der Bezugnahme auf das Potsdamer Abkommen eine Situation oder eine Entwicklung herbeizuführen, die auf nicht absehbare Zeit ein sowjetrussisches Veto in der Bundesrepublik installieren und die freiheitliche Durchgestaltung Deutschlands erst recht blockieren sollte? Ich wundere mich immer, warum eigentlich Geschichtsdenker wie Herr Dr. Heinemann die Bezugnahme auf Potsdam, die damals in allen Noten steckte, völlig übersehen.
SPIEGEL: Wenn es darum geht, die Zuständigkeiten der »DDR« zu bestreiten, berufen auch wir uns heute noch auf Potsdam. Natürlich hatten die Sowjets damals wie heute ein Interesse daran, das deutsche Potential aus dem Weltkonflikt auszuklammern.
GERSTENMAIER: Ich bleibe noch einmal bei der Geschichtsdeutung von Herrn Heinemann. Herr Heinemann hat uns den Vorwurf gemacht, daß wir die ungewöhnlich verheerende Parole vom Primat der freien Wahlen - so ähnlich hat es geheißen in jener Nachtstunde - vor alles andere gestellt und damit jede Entspannung verhindert hätten. Ist das wahr? Nein, es ist gar nicht wahr. Will uns Herr Heinemann etwa sagen, daß wir zum Beispiel verlangt hätten, daß die Genfer Gipfelkonferenz im Jahre 1955 erst zustande kommen dürfe, nachdem vorher mindestens eine Vereinbarung über freie Wahlen stattgefunden hatte? Das ist ja gar nicht wahr!
SPIEGEL: Das war 1955.
GERSTENMAIER: Es ist auch nicht wahr, was sich weiter aus der Geschichtsmißdeutung Dr. Heinemanns ergeben müßte, wir hätten gefordert, daß in London über die Abrüstung auf der ganzen Linie erst verhandelt werden dürfe, wenn wir vorher unsere freien Wahlen mit Brief und Siegel gehabt hätten ...
SPIEGEL: Das war 1957.
GERSTENMAIER: ... Was ich sagen will, gilt von 1950 bis 1958! Wo hat der Primat der freien Wahlen von jeher gegolten, und warum hält man bis heute an ihm fest? Weil sich darin der Wille ausdrückt, Deutschland an dem Punkt, wo sich das Problem auf die Frage zuspitzt: Wer soll von Deutschland aus überhaupt verhandeln? Welche Art von gesamtdeutscher Repräsentanz? Und wie soll sie beglaubigt sein? Ich finde, darüber könnte man sehr nuanciert reden.
SPIEGEL: Nuanciert, sagen Sie?
GERSTENMAIER: Sehr nuanciert. Aber was auch immer geredet oder geschehen wird, wir möchten, daß mindestens einmal die 17 Millionen darüber in Freiheit abstimmen, in Freiheit entscheiden, in Freiheit das Wort nehmen können zu der weiteren Gestaltung der deutschen Dinge.
SPIEGEL: Aber es sind ja doch zwei verschiedene Sachen, die freien Wahlen als conditio sine qua non und erster Schritt für eine gesamte Regelung der deutschen Frage, oder die Erwägung, an welcher Stelle dieses Fahrplans die freien Wahlen zu stehen haben ...
GERSTENMAIER: Ausgezeichnet!
SPIEGEL: ... und bis zum letzten, vorletzten Jahr hat die Bundesregierung doch immer auf dem Standpunkt gestanden: Die deutsche Frage kann nur unmittelbar und durch freie Wahlen am Anfang gelöst werden. Und jetzt kommt man doch langsam zu einer Veränderung dieser Reihenfolge, eben mit Ihrer Friedensvertragsidee.
GERSTENMAIER: Als ich diese Gedanken geäußert habe, zu einem Ihrer Kollegen von der »Stuttgarter Zeitung«, da war von der Tagesordnung für eine Gipfelkonferenz die Rede. Ich sagte etwa: Wissen Sie, diese neun Punkte, die Bulganin für die Tagesordnung vorschlägt, die gefallen mir nicht alle gleichermaßen. Auf einige könnte ich gut und gern verzichten. Aber ich empfehle nicht, die Weltsituation noch damit zu komplizieren, daß man einen großen Streit über die Tagesordnung dieser neun Punkte macht. Ich meinerseits würde sagen: einverstanden, vorausgesetzt, daß die deutsche Frage mit draufkommt. Sie werden mir sofort entgegnen: Sie kennen doch Herrn Chruschtschew, der in schöner Monotonie seit Jahr und Tag sagt: Bonn - Pankow.
SPIEGEL: Sie haben es erraten.
GERSTENMAIER: Nun schön. Ihr Stuttgarter Kollege sagte das gleiche. Ich aber sagte ihm, wie ich es jetzt Ihnen sage, daß ich nicht verlange, daß auf die Agenda »Wiedervereinigung Deutschlands« gesetzt werden soll, sondern es soll heißen: »Friedensvertrag mit Deutschland.« Das beinhaltet selbstverständlich auch an einem wesentlichen Punkt die Wiedervereinigung.
SPIEGEL: Es beinhaltet sogar das Verfahren über die Wiedervereinigung.
GERSTENMAIER: Ja, gewiß, das Verfahren auch. Ich glaube, daß von keiner Seite, weder vom Westen noch vom Osten, bei einigem Realismus wird erwartet werden können, daß man sich zu einem Friedensvertrag mit Deutschland herbeifindet, ohne daß vorher eine Übereinkunft darüber herbeigeführt ist, wie sich denn dieses Staatsgebilde nachher in dem Gebäude der Weltpolitik und der Weltinteressen ausnehmen wird.
SPIEGEL: Diese Erkenntnis, Herr Präsident, mag Ihnen nicht so sehr neu sein, aber man kann nicht sagen, daß sie Allgemeingut der Bundesregierung etwa im Jahre 1952 gewesen wäre. Denn damals wurde immer die Meinung vertreten von höchster Stelle, daß wir für die freien, Wahlen eben keinen Preis zu zahlen hätten, daß wir freie Wahlen absolut verlangen müßten, ohne Rücksicht darauf, wie die Regierung und das Parlament, die aus diesen freien Wahlen hervorgehen würden, in ihrer Haltung zu den Weltmächten sich darstellen würden. Es schiene uns eine wesentliche Änderung des Standpunkts Ihrer Partei zu sein, wenn sie Ihre Auffassungen teilte.
GERSTENMAIER: Ich würde - offengestanden nichts dabei finden, wenn es so wäre, wie Sie sagen. Und ich begrüße es, wenn eine so große Partei wie meine eigene soviel Elastizität und soviel Freimut besitzt, sich entsprechend den weltpolitischen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten weiter zu entwickeln. Die Weltgeschichte ist ein fließender Prozeß, und man wird ihn nicht aufhalten mit festgemauerten Grundsätzen.
SPIEGEL: Dann kann man also sagen, daß der Standpunkt, das wiedervereinigte Deutschland müsse Entscheidungsfreiheit in seinen Bündnissen haben, durch die Entwicklung überholt ist?
GERSTENMAIER: Nein, ich möchte folgendes sagen: Auch bei einer kritischen Durchleuchtung stellt sich mir die Sache anders dar als Ihnen. Ich bin der Meinung, daß in den Jahren 1950, 1951, 1952 unsere Situation eine andere war als heute, weil wir damals unendlich viel zurückhaltender sein mußten und uns in einer qualitativ anderen Position dem Westen gegenüber befanden als heute. Die ganze Kraft des Bundeskanzlers war darauf gerichtet, hier erst einmal einen Stand unter die eigenen Füße zu bekommen, der es ihm ermöglichte, die Füße einigermaßen frei zu bewegen und vor allem auch eine eigene und freie Stimme zu führen.
SPIEGEL: Und diese Etappe ist nun vorbei, jetzt muß die Politik angepaßt werden?
GERSTENMAIER: Ich würde sagen, diese Politik des Bundeskanzlers hat zu einem soliden, höchst wichtigen Ergebnis geführt. Wir haben einen soliden Stand im Rahmen des westlichen Schutzbündnisses, und wir haben verläßliche politische Verbündete. Ich vermag deshalb auch nicht zu erkennen, was eigentlich falsch gemacht worden wäre oder was korrigiert werden müßte. Ich sehe nicht, daß von Korrektur unserer Politik die Rede sein könnte sondern ich sehe nur, daß von Weiterbildung gesprochen werden müßte. Man muß sich darüber klar sein, daß wahrscheinlich nicht nur Rußland, sondern auch der Westen einer definitiven Befriedigung Deutschlands im Rahmen und in der Form eines Friedensvertrages, also einer Hineinpassung Deutschlands in die Weltpolitik mit der Möglichkeit zur Eigenbewegung, nur zustimmen würde, wenn einigermaßen zu übersehen ist, was denn dabei herauskommt.
SPIEGEL: Das würde bedeuten, daß Deutschland aus der gegen Rußland gerichteten Revisionsdynamik ausschiede. Und in diese Revisionsdynamik hat doch die Bundesregierung sich 1952 bewußt eingeschaltet. Sie hat die Befreiung Polens - Herr Präsident, das läßt sich nicht bestreiten - auf ihre Fahne geschrieben. Nicht irgendein Bundestagsabgeordneter - der Herr Bundeskanzler hat die Befreiung Polens damals auf seine Fahne geschrieben. Da, meinen wir, haben wir unsere Kräfte falsch eingeschätzt. Die Bundesregierung hätte damals schon klarmachen können, daß Deutschland keine prinzipielle Feindschaft gegenüber gewissen geschichtlichen Veränderungen im Osten hegt, daß es bereit ist, auf berechtigte Interessen, sollte der Osten sie anmelden, einzugehen.
GERSTENMAIER: Es mag schon sein, daß da und dort ein Wort gefallen ist in einem Überschwang der Gefühle von der Freisetzung oder - wie hieß das Wort? - von der Freimachung des Ostens, das besser unterblieben wäre. So ähnlich wie zwei, drei andere Worte, die es auch noch gibt und die man hier zitieren könnte, besser nicht gefallen wären. Aber ich halte das nur für einen lapsus linguae, nicht mehr, nicht weniger. Jedenfalls, eine definitive oder auch nur charakteristische Bedeutung für unsere Politik hat das nicht gehabt.
SPIEGEL: Was ist in der Politik definitiv? Was hat Bedeutung für die Politik gehabt?
GERSTENMAIER: Charakteristisch war etwas ganz anderes! Da war die Einladung aus Moskau. Ich habe damals Dr. Adenauer gesagt: Gehen Sie hin! Gehen Sie um Gottes willen hin! Er war auch ganz bereit dazu - übrigens nicht nur wegen der Kriegsgefangenen, und ich fand den Anlauf gar nicht so schlecht, obwohl auch daran kritisiert wird.
SPIEGEL: Wohl nicht ernsthaft?
GERSTENMAIER: Es gibt Kritiken daran vor und hinter den Kulissen - Sie haben ja gehört, was Thomas Dehler dem Bundeskanzler da vorgehalten hat in seiner Rede. Im übrigen wären wir weiter mit den Russen, wenn nicht damals diese Ungarn-Intervention erfolgt wäre. Wir müssen trotzdem weiterkommen.
SPIEGEL: Mit einem Friedensvertrag?
GERSTENMAIER: Wir müssen zunächst suchen, unseren Beitrag zu leisten zu der Klärung eines, gesamtdeutschen Status. Selbstverständlich soll eine Verhandlung des Friedensvertrages, auf einer Gipfelkonferenz nicht den Friedensvertrag von Paragraph 1 bis zum Schlußprotokoll bringen, sondern sie soll bringen die Klärung der allgemeinen Aspekte, die Klärung der Grundbedingungen eines gesamtdeutschen Status.
SPIEGEL: Aber auch das ist ja etwas Neues, Herr Präsident.
GERSTENMAIER: Nun, wenn es etwas Neues ist, so habe ich gar nichts dagegen. Ich habe nur den Wunsch, daß wir unsere
Beziehungen zum Westen und unsere diplomatischen Beziehungen zum Osten dazu benutzen, sich mit oder ohne uns Gedanken darüber zu machen: Erstens, wie kann Deutschland in die Welt der Zukunft so hineingepaßt werden, daß Kriege, jedenfalls soweit sie in irgendeiner Weise auch nur von ferne mit uns Deutschen überhaupt etwas zu tun haben könnten, ausgeschlossen sind? Und zweitens, daß wir Deutschen insgesamt in den realen Genuß der Freiheit kommen, wie sie auch von den Russen in der Charta der Vereinten Nationen den Volkern dieser Welt zuerkannt wurde. Punkt eins also: Ost und West sollten sich einmal darüber unterhalten - und das sollte auf der bevorstehenden Gipfelkonferenz geschehen -, welche wesentlichen Elemente, welche wesenhaften Umrisse dieser gesamtdeutsche militärische und politische Status haben müßte.
SPIEGEL: Das setzt doch aber voraus, daß wir bereit sind; für Gesamtdeutschland auf das Recht zu verzichten, in der Nato zu sein. Wir müßten also das anerkennen, was der Außenminister eine politische Hypothek nannte, die zu übernehmen er sich weigere.
GERSTENMAIER: Was hat er gesagt? Eine politische ...
SPIEGEL: ... Hypothek. Es gehe nicht an, daß wir Deutschland mit einer politischen Hypothek belasten. Die liege darin, daß eine gesamtdeutsche Regierung nicht die Freiheit haben würde, über ihre Bündnisse frei zu entscheiden.
GERSTENMAIER: Dieses Wort des Herrn Außenministers braucht nicht auszuschließen, daß eine gesamtdeutsche Regierung aus freien Stücken mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des Friedensvertrages gewisse Beschränkungen übernimmt, die sie aus zwingenden Gründen im Interesse Deutschlands für notwendig hält. Auf einer Gipfelkonferenz sollte der Versuch gemacht werden, dieses Feld auszumessen, es zu umschreiten: Wie würde denn ein solcher Status aussehen, auf den sich Ost und West einigen könnten? Ich halte aber, wie Sie sehen, an unserer Gesamtkonzeption auch insoweit fest, als ich der Meinung bin, daß die Deutschen ein
- sogar entscheidendes - Schlußwort bei
der Sache sagen dürfen, das heißt, daß ihnen ein Friedensvertrag nicht einfach anbefohlen oder auferlegt werden kann, wie uns einst die bedingungslose Kapitulation auferlegt worden ist. Das ist unmöglich.
SPIEGEL: Da nun kommen wir sofort wieder auf die alte crux: Die Sowjets haben schon gesagt: Wir sind bereit, auf der Gipfelkonferenz über einen deutschen Friedensvertrag zu diskutieren - allerdings nicht über die Wiedervereinigung. Wenn die Deutschen mitreden sollen, dann können Bonn und Pankow zugezogen werden. Wie stellen Sie sich zu diesem Vorschlag, der schon jetzt, in dem vorbereitenden Notenabtausch, von den Sowjets in Washington gemacht wurde?
GERSTENMAIER: In doppelter Hinsicht will ich mich dazu äußern. Ich würde sagen erstens: Man kann von den Deutschen nicht verlangen, daß sie sich für ihre Kriegsgegner den Kopf über das zerbrechen, was die sich unter dem Frieden vorstellen. Die Allianz, die gegen Deutschland zu Felde lag, soll sich hier erst einmal den Kopf darüber zerbrechen, was sie den Deutschen präsentieren will. Wir müßten zweitens sagen: Gut, wir wollen sehen, ob wir das unterzeichnen können. Eine solche Frage könnte gestellt werden an Bonn, sie könnte ebenso gestellt werden an Pankow. Es wäre also durchaus denkbar, daß in einem solchen frühen Stadium jeder hintereinander oder zugleich gefragt wird.
SPIEGEL: Ja, aber wer soll den Friedensvertrag denn endlich, ganz egal, ob er den Deutschen paßt oder nicht paßt, entgegennehmen? Und wer soll darüber dann befinden, ob er von Deutschland unterzeichnet wird? Und wer soll dann schließlich unterzeichnen?
GERSTENMAIER: Da kann ich nur sagen Das ist die andere Aufgabe der Gipfelkonferenz. Wenn ich sage Friedensvertrag, dann bin ich der Meinung, daß zwischen den ehemaligen Alliierten gegen Deutschland nicht nur eine Verständigung über den wesentlichen Gehalt und über den gesamtpolitischen Status -, der militärische ist samt Sicherheitssystem nur ein Teil davon - gesprochen werden müßte, sondern daß auch selbstverständlich über den Punkt im Friedensvertrag gesprochen werden müßte, wer diesen Friedensvertrag wie, wo, wann entgegenzunehmen, zu prüfen und zu ratifizieren - oder abzulehnen hat.
SPIEGEL: In der letzten Sowjetnote an Amerika heißt es: »Die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik zu einem Staat, die sich in Kompetenz der beiden deutschen Staaten befindet, kann nicht Aufgabe dieser Konferenz sein.« Unterzeichnen sollen nach bisher veröffentlichter Ansicht der Sowjets Bonn und Pankow oder eine Konföderation beider Staaten.
GERSTENMAIER: Meine Herren, es hat wirklich gar keinen Sinn, wenn die Russen immer wieder sagen: Ja das können wir nicht, ohne daß wir die Bonner und die Pankower vorher in eine Konföderation gebracht haben. Warum können sie das nicht?
SPIEGEL: Sie könnten es schon ohne Konföderation, aber ob sie es wollen? Und vielleicht hat Chruschtschew seinen Leuten gegenüber da auch nur einen engen Spielraum?
GERSTENMAIER: Die Russen könnten sich auf jeden Fall vorher mit den Deutschen verständigen über den technischen Ablauf, über die technische Handhabung, ganz egal, ob getrennt bei Bonn und Pankow oder bei einem gesamtdeutschen Organ, das aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Nachher, wenn nach einer solchen Übereinkunft verfahren würde, müßte es dem gesamtdeutschen Gremium freibleiben, dazu ja oder nein zu sagen. Was wäre denn, wenn dieses Gremium, sei es einstimmig oder mit einer Mehrheit gegen eine Minderheit, übereinkäme, dazu nein zu sagen? Es bliebe alles, wie es ist. Das wäre das Schlimmste, was bei dem ganzen Unternehmen herauskommen könnte: daß der Status quo bestehen bliebe.
SPIEGEL: Man fürchtet aber auf westlicher Seite, daß jeder sondierende Schritt in Richtung auf eine Wiedervereinigung die westliche Integration stören und die Verteidigungsanstrengungen des Westens schwächen und erlahmen lassen würde.
GERSTENMAIER: Aber, verzeihen Sie, hier kann ich Ihnen in gar keiner Weise folgen. Ich habe gar nicht den Eindruck, daß die Leute im Westen Angst haben vor Verhandlungen. Da ist zwar sehr viel, leider sehr begründeter Zweifel, Ergebnis gescheiterter Verhandlungen, die in den letzten Jahren immer wieder versucht worden sind. Aber da ist keine Angst ...
SPIEGEL: Sagen wir nicht Angst vor Verhandlungen, Herr Präsident, aber sagen wir: Angst vor eigenen Vorschlägen.
GERSTENMAIER: Von den Deutschen oder von den Westmächten?
SPIEGEL: Angst vor eigenen Vorschlägen des Westens zur Lösung der deutschen Frage, die das gegenwärtige System der fortschreitenden Integration des westdeutschen Potentials in die westliche Verteidigungsgemeinschaft erschüttern, stören, verzögern könnte.
GERSTENMAIER: Ja, warum soll es denn solche Stimmen im Westen nicht geben? Auf der anderen Seite wird es bei den Russen, wenn die Verhandlungen laufen, auch Bedenken hin und Bedenken her geben. Die werden nur nicht publik.
SPIEGEL: Könnte der Westen nicht Vorschläge und Gegenvorschläge präsentieren?
GERSTENMAIER: Ich finde gar nichts dabei, daß man sich im Westen Gedanken macht. Im Gegenteil! Immer her damit. Aber wir Deutschen müssen, soweit wir frei reden und handeln können, wenigstens wissen, was wir wollen. Und ich finde, auch wir könnten es riskieren, Vorschläge zu entwickeln. Ich nehme auch an, daß sie kommen. Wir müssen dabei nur aufpassen, daß wir uns nicht anheischig machen, den anderen gewissermaßen vorzuschreiben, wie sie sich ihrerseits ihren Friedensvertrag mit den Deutschen zu denken haben.
SPIEGEL: Viel Spielraum ist da leider nicht. Hat uns nicht dieser Gedanke an die Geschlossenheit des Westens immer wieder gehemmt, zeitgemäße Vorschläge zu machen?
GERSTENMAIER: Ein Versuch dieser Gipfelkonferenz muß es doch sein, unabhängig von der Deutschlandfrage - schließlich ist die deutsche Frage und der Friedensvertrag nur ein Teil, vielleicht nur ein Teilchen - etwas für den Frieden der Welt zu tun.
SPIEGEL: Vielleicht wird die deutsche Frage gar nicht behandelt.
GERSTENMAIER: Wir müssen zwar bereit sein, alles Mögliche zu tun, damit sie überhaupt verhandelt wird. Aber wir können der Weltgeschichte nicht gegenübertreten mit der herrischen Geste und Pathetik: Ihr müßt! Wir können nur sagen: Um Gottes willen, tut das! Wir machen sogar einige Vorschläge und rühren alle Hände. Das ist unsere Pflicht.
SPIEGEL: Es könnte ja nun aber sein, daß wir uns auf direkte Weise der deutschen Frage im Moment überhaupt nicht nähern könnten, weil die Leute, die nun einmal in der Sowjet-Union zu sagen haben, und vielleicht auch die Leute, die in Amerika zu sagen haben, einer Annäherung in der deutschen Frage im Moment nicht günstig gegenüberstehen. Wäre es da nun abwegig, zu überlegen, ob man sich der deutschen Frage nicht von hinten herum, durch die Hintertür nähern könnte; etwa indem man gewisse positive Aspekte des Rapacki-Planes ...
GERSTENMAIER: Sie sagen: durch die Hintertür. Gut. Ich würde es nicht so ansehen. Ich würde alles, was zur Entspannung beiträgt, auch wenn es nicht in einer sichtbaren oder gar verbalen Verbindung zur deutschen Frage steht, nicht als »hinten herum« sehen, sondern würde es für einen unmittelbaren Beitrag auch zur Deutschlandfrage halten.
SPIEGEL: Was hielten Sie davon, wenn man Gegenvorschläge zum Rapacki-Plan entwickelt, der zwar gar nicht direkt die Wiedervereinigung zum Gegenstand hat, vielleicht auch gar nicht einmal zum Ziel, der aber doch indirekt gewisse Hilfen und gewisse Annäherungen in Richtung auf die Wiedervereinigung bringen könnte?
GERSTENMAIER: Ich bin völlig undoktrinär. Ich würde sagen: Warum nicht? Ich habe damals in einer Stellungnahme zum Rapacki-Plan gesagt, ich hielte ihn bei aller Würdigung der positiven Elemente, zum Beispiel der Kontrolle, in seiner gegenwärtigen Gestalt für nicht annehmbar. Ich muß dabei leider bleiben; denn wenn man ihn überprüft, dann halte ich es für ausgeschlossen, daß Deutsche, jedenfalls wenn sie ihr Amt und ihre Pflicht wahrnehmen wollen, sagen: Na ja, also gut, von dieser Position wollen wir mal ausgehen. Man kann es positiv wie negativ formulieren. Ich habe es so formuliert: Der Rapacki-Plan solle nicht nur Material für eine Gipfelkonferenz, sondern auch eine kritische Anregung für deutsche Gegenvorschläge sein.
SPIEGEL: Das wäre die positive Formel, die man vom Auswärtigen Amt nicht zu hören bekommen hat.
GERSTENMAIER: Ich will damit gar nichts sagen und will mich gar nicht äußern zu den Gegenvorschlägen, die im Anschluß an den Rapacki-Plan gemacht worden sind.
SPIEGEL: Sie meinen den Herrn Verteidigungsminister?
GERSTENMAIER: Da ist der Herr Verteidigungsminister, aber da sind auch andere Leute, die sich geäußert haben. Ich will mich dazu jetzt im einzelnen gar nicht äußern. Das ist ein vielschichtiges Problem. Ich will nur sagen: Ich bin völlig undoktrinär. Wir müssen zunächst mal dankbar sein, daß solche Dinge auf den Tisch kommen, womit nicht gesagt ist, daß man sie nun einfach aufnehmen und schlucken dürfte.
SPIEGEL: Sie sagen sehr mit Grund: Alles, was der Entspannung dient, kann auch in indirekter Weise der Wiedervereinigung dienen. Aber die Verpflichtungen unserer Rüstungspolitik machen doch offenbar nach Ansicht der Regierung gewisse Schritte notwendig, die nach Ansicht des Ostens nicht zur Entspannung führen, sondern sie verhindern.
GERSTENMAIER: Ich glaube, man muß hier ganz nüchtern sein und sagen: Solange natürlich in der politischen Verhandlung nichts in Sicht ist oder nichts Reales oder Konkretes auf dem Tisch liegt, was etwa die Überlegung zwingend herbeiführen könnte, ob Deutschland weiter in die Nato integriert werden muß, solange wird dieser Integrationsprozeß unweigerlich weitergehen. Es klingt vielleicht absurd, wenn ich sage: Säße ich im Kreml und hätte dort etwas zu sagen, dann würde ich empfehlen: Na, wollen wir nicht die Geschichte von 1952 wiederholen? Nur noch attraktiver wiederholen? Es müßte unter allen Umständen attraktiver sein als 1952, denn sonst geht die Sache wieder schief. So würde ich reden, wenn ich im Kreml säße.
SPIEGEL: Müßte das Kreml-Angebot tatsächlich attraktiver sei. Herr Präsident?
GERSTENMAIER: Es müßte attraktiver sein als im Jahre 1952. Damals war es doch nicht attraktiv genug, sonst wäre nämlich die EVG nicht an einer kleinen Mehrheit im französischen Parlament gescheitert ...
SPIEGEL: ... sondern schon bei uns? Die Offerte war uns damals, 1952, nicht attraktiv genug. Aber wir haben uns inzwischen geändert.
GERSTENMAIER: Ich glaube nicht, daß wir uns insoweit geändert haben. Es ist ein Punkt, da sind wir nicht bereit, nachzugeben, auch dann nicht, wenn wir damit ganz genau wissen, daß der Status quo nicht nur aufrechterhalten, sondern weiter zementiert wird. Das ist: Wir sind nicht bereit, unter das Denk- und Gesellschaftssystem des Marxismus-Leninismus zu kriechen.
SPIEGEL: Wo sind die Grenzen der Konzilianz? Was würde man Ihrer Ansicht nach in einem Friedensvertrag, der einer deutschen Instanz vorgelegt wird, akzeptieren können a) innenpolitisch, b) in der Grenzfrage, c) in der Wirtschafts- und Sozialstruktur, d) militärisch?
GERSTENMAIER: Innenpolitisch, würde ich sagen, müßte man die Grundsätze und die Richtlinien, die Sowjetrußland als Mitglied der Vereinten Nationen unterzeichnet hat, dem deutschen Volke verfassungsmäßig und auch realpolitisch in einem Sicherheitssystem gewährleisten. Ich habe also gar nicht den Ehrgeiz, einen besonderen Grundrechtskatalog für die Deutschen zu erfinden. - Zur Grenze: Ich sehe nicht, daß man etwas anderes herausholen könnte, als einen vertretbaren Kompromiß. Mehr will ich nicht sagen. Es wäre ganz töricht, wenn ein Deutscher, der eine bescheidene politische Verantwortung hat, vor der Verhandlung zu erkennen geben würde, welche Konzessionen er äußerstenfalls zu machen bereit wäre. Es geht mir auch nicht ein, daß wir von vornherein schlucken sollen, was uns die Russen mit den Polen plus Herrn Ulbricht in dieser Sache verordnet haben. Das halte ich nicht für zumutbar. - Zur Wirtschafts- und Sozialstruktur: Ich glaube, ich würde mich im gegenwärtigen Augenblick übernehmen, wenn ich dazu mehr als ganz allgemein sagen würde, daß sie nach den Gesetzen der Freiheit und Gerechtigkeit gestaltet werden müßte. - Militärisch: Vielleicht darf auch ein Laie riskieren zu sagen: Die Waffentechnik hat sich seit dem Jahre 1950 so entwickelt, daß sich daraus Konsequenzen für ein Schutz- und Sicherheitssystem ergeben, die man vor acht Jahren noch nicht voraussehen konnte. Wenn wir die Möglichkeit haben, davon zu profitieren, ohne uns in einem unzumutbaren Maß diesem Risiko auszusetzen, dann lassen sie uns das doch tun. Warum denn nicht?
SPIEGEL: Herr Präsident, wir sehen hier aber noch eine Divergenz zwischen Ihrer Meinung und zwischen der Politik der Bundesregierung. Unser Herr Bundesverteidigungsminister beispielsweise hat vorige Woche gesagt, die Präsenzstärke der Bundeswehr müsse so groß sein, daß ein selbstmörderisches Risiko für die Sowjets wie für jeden anderen Angreifer darin liegen müsse. Nun können Sie sagen, man soll nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, aber zu viele von diesen Worten sind schon gesprochen worden. Nach allem, was die Deutschen bisher schon angestellt haben, sind die Russen sehr wohl in der Lage anzunehmen: Dies ist maßgebliche Willensrichtung der Bundesrepublik. Und diese Willensrichtung scheint uns nicht auf Entspannung und nicht auf Wiedervereinigung zu zielen.
GERSTENMAIER: Nun, dem Verteidigungsminister muß man konzedieren, in militärischen Kategorien zu denken.
SPIEGEL: Das ist gut gesagt.
GERSTENMAIER: Der Verteidigungsminister tut ein übriges, indem er sich Mühe gibt, über sein militärisches Denken einen außenpolitischen Mantel zu legen.
SPIEGEL: Vielleicht will er nicht auf immer Verteidigungsminister sein?
GERSTENMAIER: Er ist sich jedenfalls durchaus dessen bewußt, daß in diesem Abschnitt der deutschen Geschichte militärische Denkkategorien nicht das Oberste sein sollten.
SPIEGEL Aber es werden doch Tatsachen geschaffen, die immer schwieriger aus der Welt zu schaffen und die mit dem künftigen Status eines wiedervereinigten Deutschland schlechtweg unvereinbar sind. Wir haben ja schon eine Äußerung von Chruschtschew dazu, der doch gesagt hat: Deutschland muß bedingungslos auf atomare Waffen verzichten, auch ein wiedervereinigtes Deutschland.
GERSTENMAIER: Und was kriegen wir dafür?
SPIEGEL: Entspannung und Minderung der Kriegsgefahr ist ein Selbstzweck, sagt Chruschtschew, dafür kann man keinen Preis fordern.
GERSTENMAIER: Ich rede ja nicht vom Preis, aber ich sage mir: Wir sollen einen Verzicht leisten, der mir an sich nicht schwerfallen würde. Aber wir Deutschen haben nicht so viel Geld und stehen nicht so großbramsig in der Weltpolitik daß wir es uns leisten könnten, auf etwas Wesentliches zu verzichten oder Vorleistungen zu erbringen, ohne daß eine Weltmacht wie Rußland auch nur im mindesten bereit ist, das in irgendeiner angemessenen Weise zu honorieren. Darüber muß doch mit Herrn Chruschtschew recht klar und nüchtern gesprochen werden. Ich nehme an, daß er das auch versteht.
SPIEGEL: Aber er bietet eine Gegenleistung, Herr Präsident, die mittelbar auch nach Ihren Worten von heute zur Entspannung führen und damit auch der Wiedervereinigung helfen kann. Er bietet zur Zeit nichts, was uns direkt zur Wiedervereinigung bringt, aber wenn- eine Entspannung die Wiedervereinigung bringt, aber wenn eine Entspannung die Wiedervereinigung fördert, dann bietet auch er etwas. Einem Verzicht Deutschlands auf gewisse Waffen würde ja im Osten ein Verzicht anderer Länder oder anderer Territorien auf gewisse Waffen gegenüberstehen. Das ist offenbar die Richtung, die Englands Regierung, gedrängt von Labour, und Labour wieder gedrängt von der etwas geängstigten Bevölkerung, einschlagen will. Wir werden doch erleben, daß die Engländer auf der Gipfelkonferenz vorschlagen werden: »Laßt uns in Mitteleuropa auf beiden Seiten des Vorhangs ein 'Disengagement', eine Verdünnung an Truppen und Waffen, vereinbaren.« Vielleicht ist das der Beginn eines totalen Truppenabzugs. Wenn wir annehmen, die Russen zögen aus der »DDR« aus, dann würde ja die Situation Ulbrichts in irgendeiner Form prekär
GERSTENMAIER: Das war auch Kennans Meinung.
SPIEGEL: Das muß auch unsere Meinung sein, weil wir doch zu Recht glauben, daß Ulbricht auf sowjetischen Baionetten sitzt. Auf denen ist ja bekanntlich nicht gut sitzen.
GERSTENMAIER: Es leuchtet mir aber nicht ein, daß nur die Atomwaffen verschwinden sollen, ohne daß auch die konventionellen Waffen begrenzt werden. Es kommt darum auf die Art des Rückzuges an ...
SPIEGEL: Oder auf die Art der Baionette?
GERSTENMAIER: ... und darauf, wie lang die Bajonette sind.
SPIEGEL: Wir sehen nur zwei Ansatzpunkte, die uns vielleicht in unmittelbarer Zukunft nicht weiterführen werden, die aber immerhin von den Russen angesprochen worden sind: Erst einmal militärischer Rückzug der Westmächte. In dieser Form vielleicht nicht akzeptabel, aber immerhin Rückzug der Russen. Zweites Angebot: In einer begrenzten Zone nur begrenzte Aufrüstung. In dieser Form vielleicht nicht akzeptabel, weil auch konventionelle Waffen verhandelt werden sollten ...
GERSTENMAIER: Das würde ich meinen.
SPIEGEL: ... aber immerhin ein Angebot. Für den ganzen Dialog zwischen Ost und West über Europa sieht man überhaupt keinen Gesprächsstoff, wenn man nicht über den Abzug der fremden Truppen, über eine gewisse Ausbalancierung der Streitkräfte in einem vielleicht begrenzten Gebiet verhandeln will. Da muß man nun fürchten, daß gerade die Linie, die Franz-Josef Strauß vertritt, dem entgegensteht: denn Strauß vertritt doch ganz offen die Meinung, wir müßten so viel Rüstung haben wie möglich, um die Russen zu einem Zugeständnis in der deutschen Frage zu bewegen. Und da, so ist zu fürchten, überschätzen wir unsere Position, und wir werden wieder einer Entspannung hinderlich sein, obwohl aus der Entspannung für Deutschland nur Vorteile entstehen könnten. Da eben, fürchten wir, gehen wir wieder einen Weg, der uns nicht weiterbringt, und der auch die westliche Sicherheit in Wahrheit nicht weiterbringt.
GERSTENMAIER: Der Bundesverteidigungsminister kann nicht gut etwas anderes tun und sagen, als woran er vertragsmäßig bis auf weiteres gebunden ist.
SPIEGEL: Aber er muß nicht Atombomben produzieren.
GERSTENMAIER: Er muß nicht Atombomben produzieren. Darauf haben wir ausdrücklich auch vertraglich verzichtet.
SPIEGEL: Aber er geht schwanger mit Atombomben-Plänen, freiwillig.
GERSTENMAIER: Sehen Sie, woran der Mann denkt und woran er leider denken muß, das ist, daß er den Integrationsprozeß seiner Bundeswehr in die Nato so lange weiter durchführen muß, bis eine andere Situation da ist, die es ihm erlaubt, mit dem Einverständnis unserer Partner im Westen diesen Prozeß abzubrechen, zu modifizieren oder etwas anderes zu tun. Solange eine solche Situation nicht herbeigeführt ist, kann man, ja darf man von dem Bundesverteidigungsminister, wenn er seiner Pflicht treu bleiben will, gar nicht verlangen, daß er etwas anderes tut als das, wozu er vertraglich verpflichtet ist, nämlich Deutschland weiter zu einem loyalen und denkbar wirksamen Partner der Nato zu machen.
SPIEGEL: Darf man vom Herrn Bundesminister des Auswärtigen etwas anderes verlangen?
GERSTENMAIER: Ich meine, daß der Herr Bundesaußenminister sehr fleißig ist. Er muß auch sehr fleißig sein, schon um unausgesetzt zu prüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, eine andere Situation herbeizuführen, auf Grund deren sich der Herr Bundesverteidigungsminister vielleicht ganz anderen Überlegungen nicht nur hingeben darf, sondern hingeben muß
SPIEGEL: Das ist klar gesagt. Wenn wir aber noch einmal insistieren dürfen: Was viele Leute für nicht nützlich halten, ist doch, wenn wir Deutschen in Verteidigungsdingen päpstlicher sein wollen ...
GERSTENMAIER: ... als welcher Papst?
SPIEGEL: ... als der Papst in Washington, und wenn wir uns Gedanken machen, wie wir der Nicht-Weltmacht Frankreich etwa zu einer Atombombe verhelfen können, an der wir im Hinterstübchen partizipieren ...
GERSTENMAIER: Tun wir das?
SPIEGEL: Man muß es leider fürchten.
GERSTENMAIER: Ich habe keine Unterlagen dafür. Dem Parlament ist darüber nichts mitgeteilt worden. Als einer der Stellvertreter des Vorsitzenden der CDU weiß ich davon auch nichts.
SPIEGEL: Wenn Sie uns autoritativ versichern könnten, die Furcht ist unbegründet, würden wir sie auch nicht mehr haben.
GERSTENMAIER: Nun, ich sage Ihnen, daß weder der Bundestagspräsident noch das Parlament darüber informiert sind, es sei denn, daß sich aus den Protokollen des Verteidigungsausschusses etwas anderes ergäbe, was ich aber für ausgeschlossen halte. Ich weiß natürlich, daß in der Presse Vermutungen dieser Art angestellt worden sind, aber ich muß wirklich sagen: bis jetzt habe ich weder in einem Parteigremium noch in einem Gremium des Parlaments etwas gehört, was diese Vermutungen zu bestätigen vermochte.
SPIEGEL: Aber wir verstehen Sie doch richtig, wenn wir sagen, Sie persönlich wären der Ansicht, daß die Bundesrepublik nicht den geringsten Grund hat, der Nato-Initiative in solchen Dingen vorauszulaufen, ihr voranzupreschen?
GERSTENMAIER: Das ist sehr gut formuliert. Ich bin nicht der Meinung, daß unsere Loyalität der Nato gegenüber - auf die ich großen Wert lege, genau denselben großen Wert, den ich jedem Vertragspartner Deutschlands gegenüber, auch wenn's der Kreml wäre, für geboten halte - beinhaltet, daß wir uns so in Marsch setzen müßten, daß es gedeutet werden könnte als ein Vorauslaufen. Das sollten wir nicht tun!
SPIEGEL: Würden Sie auch sagen, daß wir zumindest vertraglich nicht gehalten sind, die Bundeswehr atomar zu bewaffnen, sondern daß dies eine politische Entscheidung ist, die uns im Rahmen des Nato-Vertrages zu fällen obliegt? Oder geht das zu weit?
GERSTENMAIER: Der Nato-Vertrag sagt nicht, daß wir atomar bewaffnet werden müssen. Das steht nicht im Vertrag. Ich bin aber nicht der Meinung, daß das den Tatbestand ganz umschreibt. Ich möchte mich so ausdrücken: Wenn nichts geschieht, wenn sich nichts plötzlich ändert, dann sehe ich nicht, wie der Integrationsprozeß der Bundeswehr in die Nato, das heißt, ihre völlige Angleichung an die anderen Nato-Verbände in der Bewaffnung und so weiter überhaupt in einer qualifizierten. Weise gestoppt, geändert oder redressiert werden könnte.
SPIEGEL: Auch der atomare nicht?
GERSTENMAIER: Auch der atomare nicht.
SPIEGEL: Dürfen wir uns die Bemerkung erlauben, daß die Aktionen der Bundesregierung nach außen hin den verzweifelten Zustand dieses Dilemmas nicht erkennen lassen?
GERSTENMAIER: Ach, man muß doch auch ein bißchen gerecht sein. Der Bundeskanzler ist sehr vorsichtig mit Formulierungen ...
SPIEGEL: Nicht immer!
GERSTENMAIER: ... in einer bestimmten Richtung; und ich verstehe das. Aber schließlich hat er sich doch in einer höchst bemerkenswerten Situation - in Paris auf der Nato-Konferenz - zu einer Verlautbarung bereit gefunden, und ich kann nur wünschen, daß diese Verlautbarung eine charakteristische Aussage für die Richtung unserer Politik sein möge und nicht nur eine beiläufige oder momentane. Beiläufig und momentan ist es im Unterschied dazu, wenn Worte fallen wie die von der Befreiung.
SPIEGEL: Von der Befreiung Polens!
GERSTENMAIER: Das halte ich für einen lapsus linguae, der kann jedem einmal passieren. Aber dieses Wort von Paris* ist gar nicht beiläufig, sondern darin entscheidet sich, welchen Charakter und Grundzug unsere Politik jedenfalls solange haben soll, bis der Versuch, die Gipfelkonferenz zu einem ausreichenden Ergebnis zu bringen, durchgeführt ist.
SPIEGEL: Würden Sie es für möglich halten, daß beiderseits der bisherigen und jetzigen Zonengrenze eine atomwaffenfreie Zone diskutiert würde, ohne daß die deutsche Frage direkt angesprochen und damit verknüpft würde?
GERSTENMAIER: Das möchte ich nicht für möglich halten. Ich habe gegen den Rapacki-Plan zum Beispiel zwei, wie ich meine, gewichtige Einwände, die zu machen ich als Deutscher ohne Ansehung meiner parteipolitischen Position verpflichtet bin. Ich habe so, wie die Dinge stehen, den Wunsch, jede atomfreie Zone in ein Junktim zu bringen mit der Beschränkung der konventionellen Waffen. Das heißt also an dem Grundgedanken festhalten, daß die atomare Abrüstung verbunden werden muß auch mit einer Abrüstung und Beschränkung der konventionellen Waffen und Stärkeverhältnisse.
SPIEGEL: Regional, in einer regionalen Zone?
GERSTENMAIER: Vielleicht. Wenn möglich aber im ganzen.
SPIEGEL: Das ist klar genug.
GERSTENMAIER: Der andere Einwand ist der, daß wir nach Herrn Rapacki und Gomulka von vornherein auf jedes Junktim mit der Frage der Wiedervereinigung verzichten sollen. Das ist unbillig.
SPIEGEL: Ein verständlicher Wunsch. Könnte man dem Stichwort Konföderation ...
GERSTENMAIER: Gut, daß Sie darauf kommen!
SPIEGEL: ... im Sinne der Pläne Rapackis einen konstruktiven Aspekt abgewinnen? Salonfähig ist die Frage geworden, seit ein Bonner Minister, den wir alle schätzen, Ernst Lemmer, der Sache nicht ganz ablehnend gegenübergetreten ist, sondern gesagt hat: Unter gewissen Voraussetzungen, gewissen Mindestvoraussetzungen, wenn nämlich drüben in der »DDR« ...
GERSTENMAIER: ... die Verfassung respektiert würde, könnte man darüber reden.
SPIEGEL: Die Verfassung der »DDR« liest sich ja ganz demokratisch.
GERSTENMAIER: Ja, es gibt auch dort die Deklaration der Grundrechte. Aber leider sind das leere Worte! Ernst Lemmer hat, glaube ich, gesagt: Man kann konföderieren, aber nur Gleiches mit Gleichem. Das ist elegant gesagt. Ich halte aber von der Sache nichts! Der Gedanke ist im Februar 1957, wenn ich mich recht erinnere, von Ulbricht präsentiert worden und nicht ohne die Überdehnung, die Sowjetzone solle 50 Prozent der Sitze bekommen; damit wird dem Partner ja von vornherein gleich eine faustdicke Ungerechtigkeit und Dummheit zugemutet.
SPIEGEL: Was Absicht sein könnte.
GERSTENMAIER: Was natürlich Absicht sein könnte, aber dann kann sich Herr Ulbricht auch von vornherein die Mühe sparen.
SPIEGEL: Er muß vielleicht Aufträge ausführen, und vielleicht will er sie ausführen, wie der brave Soldat Schwejk jeden Befehl dadurch kaputtmachte, daß er ihn wortwörtlich ausführte.
GERSTENMAIER: Da finde ich die andere Geschichte, die ein Professor in Berlin ...
SPIEGEL: Professor Meder.
GERSTENMAIER: ... gebracht hat, sehr viel reizvoller. Bei hundert gesamtdeutschen Vertretern sind 27 von der »DDR«. Er hätte sich eigentlich bei Ulbricht zur Audienz anmelden und fragen sollen, was der davon hält.
SPIEGEL: Ulbricht hat schon gesagt, es komme nicht darauf an, ob die Zusammensetzung 50 zu 50 oder 27 zu 73 sei. Auf jeden Fall müßten einstimmige Beschlüsse herbeigeführt werden, da kein Teil den anderen majorisieren dürfe, und deshalb sei 50 zu 50 das vernünftigste.
GERSTENMAIER: Sie sehen also, es ist wieder mal nichts damit.
SPIEGEL: Trotzdem bleibt natürlich die Frage, ob in dem Prozeß zur Wiedervereinigung - dieses Wort hat sich ja eingebürgert - die Konföderation nicht eine Durchgangsstufe sein könnte. Was die Russen mit Annäherung bezeichnen, ist ja doch eigentlich nichts weiter, als daß sie eine revolutionäre Veränderung des gegenwärtigen Status in Mitteleuropa vermeiden wollen.
GERSTENMAIER: Wenn man seriös antworten will - und ich möchte das tun ...
SPIEGEL: Das ist auch eine seriöse Frage ...
GERSTENMAIER: ... kann darauf nur geantwortet werden, wenn nicht nur eine Anfangsstufe oder Übergangszeit ins Auge gefaßt wird. Man muß vor allem auf die Schlußstufe sehen. Ich glaube nicht, daß man ohne den Durchblick auf die Schlußphase und die Prozedur dahin darauf überhaupt eine seriöse Antwort geben kann.
SPIEGEL: Das würde also heißen, Herr Präsident, im gegenwärtigen Zeitpunkt wäre nach Ihrer Auffassung eine Einschaltung Pankows von uns aus nicht zu befürworten, und Sie könnten ihr nicht das Wort reden, weil das Endziel, die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, noch nicht in Sicht ist? Sie sehen im Moment keinen Sinn darin?
GERSTENMAIER: Nein, dann nicht, wenn man auf die daranhängenden weltpolitischen Gewichte sieht und das Kernproblem, das dabei zur Debatte steht. Ich glaube nicht, daß Moskau bereit wäre, seine Vorstellungen über einen Gesamt status Deutschlands in der Endphase von Bonn und Pankow her bestimmen zu lassen.
SPIEGEL: Nicht bestimmen, aber vielleicht von Pankow verhandeln zu lassen.
GERSTENMAIER: Aber dieses Problem muß doch verhandelt werden zwischen den Russen und ihren ehemaligen Alliierten im Westen. Da können die Russen doch nicht kommen und sagen: Auch hier machen wir die Pankower zu unseren Sachwaltern.
SPIEGEL: Wir wollten auf folgendes hinaus: Wir wollen einmal untersteilen, daß die Russen im Moment kein elementares Interesse daran haben, Deutschland wiedervereinigt zu sehen. Die Sache ist ihnen vielleicht im gegenwärtigen Moment zu unsympathisch. Sie löst Reaktionen aus in ihrem eigenen Herrschaftsbereich. Sie könnte Reaktionen in Polen auslösen. Wenn wir also annehmen, daß die Russen sich diesem Problem sehr zögernd nähern - wenn überhaupt -, dann könnte ihre Forderung, Pankow einzuschalten, ein Sperrriegel sein. Solange wir mit Pankow nicht reden, solange können die Russen auf dem Standpunkt verharren: Wir wollen uns dieser Frage nicht nähern. Und zwingen können wir ja so, wie die Dinge im Moment liegen, nicht. Die Russen sagen: Solange ihr nicht bereit seid, mit den Leuten in Pankow zu sprechen, solange wird eben über Deutschland nicht verhandelt. Diesen Standpunkt haben sie im Moment. Und wie wollen wir darauf reagieren?
GERSTENMAIER: Damit kommen wir zu dem Ausgangspunkt unseres Gespräches zurück. Wenn die Russen nicht über die Wiedervereinigung sprechen wollen, sondern auf Bonn und Pankow verweisen, dann sollten wir nicht verlangen, daß auf der Gipfelkonferenz ein Mehrheitsbeschluß gegen die Russen zustande kommt, der sowieso zu nichts führen würde, sondern daß das Problem eben in der Weise präsentiert wird, in der es unweigerlich in erster Linie Sache Rußlands und seiner früheren Alliierten gegen Deutschland ist: als das Problem eines Friedensvertrages mit Deutschland.
SPIEGEL: Hoffen wir, daß die Russen darauf eingehen.
GERSTENMAIER: Was in meinen bescheidenen Kräften steht, das will ich weiter dazu tun. Ich finde nicht, daß man Gedanken dazu hat, um sich möglichst schnell von ihnen zu trennen.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* »Ich habe den Brief des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Ein großer Teil seines Inhaltes ist uns aus zahlreichen anderen Briefen und Kundgebungen der sowjetischen Regierung in der Vergangenheit bekannt. Ich erkenne den maßvollen Ton dieses Schreibens an, den wir von sowjetischer Seite nicht immer gewohnt sind. Der Brief enthält eine Anzahl von Vorschlagen, die vage gefaßt sind. Es Ist deshalb nicht möglich, zu diesen Vorschlägen heute Stellung zu nehmen. Ich würde keine Bedenken haben, den Versuch zu machen, auf diplomatischem Wege bei der sowjetischen Regierung zu klären welche präzisen Vorstellungen sie mit diesen Vorschlägen verbindet.«
Bundestagspräsident Gerstenmaier (M.) beim SPIEGEL-Gespräch im Hamburger Hotel »Vier Jahreszeiten"*
Süddeutsche Zeitung
Generalaußenminister Strauß: »Macht ihnen den linken Flügel schwach«
Süddeutsche Zeitung
Bericht aus Vence: »... und beschäftigt sich der Bundeskanzler eingehend mit dem Rapacki-Plan«
Neue Ruhr-Zeitung
»Immer einen großen Bogen herummachen - das ist die ganze Kunst!«
The New York Times
»Gute Reise!«
* Mit SPIEGEL-Redakteuren Conrad Ahlers (lks.), Hans Dieter Jaene