

Hitlers Lieblingspilotin: "Ich möchte keinen Tag in meinem Leben missen"
Nazi-Starpilotin Hanna ReitschFür Hitler flog sie durch die Hölle
Am unerträglichsten erschien ihr der Gedanke, die Goebbels-Kinder im Führerbunker zurückzulassen. Jene sechs Sprösslinge des NS-Propagandaministers, das jüngste vier, das älteste zwölf Jahre alt. Eingesperrt im Bauch des brennenden Berlin, fünf Meter unter der Erde, wie in einem schaurigen Verlies. Gemeinsam mit einem zitternden Adolf Hitler und einem Häuflein verblendeter Nationalsozialisten - dem sicheren Tod geweiht.
Mit den Worten "Mein Gott, Frau Goebbels, und wenn ich 20-mal einfliegen soll, um die Kinder herauszuholen. Die dürfen hier nicht bleiben", beschwor Hanna Reitsch deren Mutter, wie sich Hitlers Leibwächter und Telefonist Rochus Misch erinnerte. Doch Magda Goebbels blieb hart: "Meine Kinder sollen lieber sterben, als in Schande und Spott zu leben." Kurz darauf kleidete sie ihre sechs Kinder in Weiß, kämmte ihnen die Haare und vergiftete sie mit Blausäure.
Hanna Reitsch war zu diesem Zeitpunkt längst schon wieder in der Luft. Ohne den Sinn der absurden Aktion zu hinterfragen, befolgte sie auch den letzten an sie gerichteten Befehl Hitlers: Auf sein Geheiß flog sie mitten durch den russischen Flakbeschuss, aus dem völlig zerstörten Berlin heraus.
Vielleicht hat es nie eine bessere Pilotin als diese Hanna Reitsch gegeben, ganz sicher gab es keine mutigere als die zierliche, blonde, nur 1,50 Meter große Frau. Sie stellte Rekorde in einer Männerdomäne auf und wurde im "Dritten Reich" zum Superstar. Doch mit der gleichen Verve, mit der sie Flugzeuge steuerte, machte sie sich auch zum Werkzeug des NS-Regimes.
"Verlangen, Sehnsucht, Heimweh"
Schon als Vierjährige, so Reitsch in ihren Memoiren, hatte sie nichts anderes im Sinn als Flugzeuge: Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich auf den Balkon und schickte sich an hinunterzuspringen. Entsetzt rissen die Eltern das Mädchen zurück und versuchten, ihm die Flausen auszutreiben: Hanna, geboren in der idyllischen schlesischen Kleinstadt Hirschberg, sollte Ärztin werden, wie ihr preußischer Vater.
Doch statt fürs Medizinstudium zu büffeln, trieb sie sich in jeder freien Minute auf dem Segelflugplatz herum. "Es war ein Verlangen, eine Sehnsucht und schließlich ein tiefes Heimweh, das in mir saß und mich nicht mehr losließ", schrieb Reitsch. Mit 20 Jahren gelang ihr der Weltrekord im Nonstop-Segelfliegen für Frauen. Fünf Jahre später überquerte sie als erste Frau im Segelflug die Alpen und begann damit, fabrikneue Flugzeuge auf Tauglichkeit zu testen: ein lebensgefährlicher Job, für den sie 1937 als weltweit erste Frau zum Flugkapitän ernannt wurde.
Im selben Jahr ging ihr sehnlichster Jugendwunsch, sich "als verkappte Militärfliegerin fürs Vaterland einzusetzen", in Erfüllung: Obwohl es dem Weltkriegsverlierer Deutschland qua Versailler Vertrag verboten war, militärisch aufrüsten, hatte Hitler seit der Machtübernahme den Ausbau der Streitkräfte forciert. Und Reitsch startete ihre Karriere als Forschungs- und Testpilotin der neuen deutschen Luftwaffe.
Sie stieg mit dem ersten deutschen Hubschrauber auf über 2300 Meter, erprobte Sturzflugbremsen und startete nach Kriegsausbruch lebensgefährliche Versuche, britische Ballon-Luftsperren mit einem am Bug des Flugzeugs befestigten Gerät zu kappen. Als sie sich hierbei um ein Haar das Genick brach, verlieh Hitler der waghalsigen Fliegerin im März 1941 das sonst nur Männern vorbehaltene Eiserne Kreuz II. Klasse. Erstmals erhielt Reitsch die Möglichkeit, sich ausführlich mit dem "Führer" zu unterhalten - und war begeistert.


Hitlers Lieblingspilotin: "Ich möchte keinen Tag in meinem Leben missen"
"Seine ungezwungene und einfache Art strömte eine Zuversicht aus, die sich jedem, der in seine Nähe kam, mitteilte", schrieb Reitsch, die vor 100 Jahren geboren wurde, in ihren Erinnerungen. Auch der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, den die Pilotin im Juli 1943 kennenlernte, beeindruckte sie sehr: "Von Anfang an empfand ich die Atmosphäre in seiner Umgebung wohltuend", schwärmte sie. Was die Fliegerin ihren eigenen Memoiren zufolge jedoch nicht davon abhielt, Himmler die Meinung zu sagen.
In einem "mehrere Stunden" andauernden Streitgespräch habe Reitsch ihn ob seiner Ablehnung des Christentums sowie seiner Einstellung zu Frau und Ehe kritisiert. Als ein alter Fliegerkamerad ihr im Oktober 1944 eine schwedische Broschüre zukommen ließ, die von dem Massenmord in den Vernichtungslagern berichtete, fand sie laut Eigenaussage gar den Mut, Himmler erneut persönlich aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen.
Fanatisch bis zur Selbstaufopferung
"Und das glauben Sie, Frau Hanna?", fragte Himmler die Fliegerin. Der Reichsführer der SS leugnete die Gräueltaten in den Gaskammern. Und Reitsch war naiv genug, die Lüge zu schlucken. Zwar trat sie niemals der NSDAP bei und schlug die Ehrenmitgliedschaft beim "Bund Deutscher Mädel" aus. Auch verurteilte sie die antisemitischen Gewaltexzesse der Novemberpogrome 1938 und die Stigmatisierung der Juden mit einem gelben Stern.
Dennoch stellte Reitsch sich bereitwillig in den Dienst der Nationalsozialisten - und das, obwohl das frauenfeindliche Regime der Nazis ihr nicht nur die Teilnahme am Rhön-Flugwettbewerb von 1936, sondern auch die Aufnahme ins NS-Fliegerkorps verweigerte. Die populäre Fliegerin hielt Reden vor "Hitlerjugend"-Führern, flog an die Ostfront, um die Soldaten zum Weiterkämpfen zu motivieren - und legte einen Fanatismus an den Tag, der bis zur Selbstaufopferung reichte.
Nicht nur, dass Reitsch sich nach einem rasanten Test-Sturzflug mit dem Raketenflugzeug Me 163 Nase und Gesicht zertrümmerte sowie einen vierfachen Schädelbasisbruch erlitt. Die Fliegerin ging auch so weit, konkrete Selbstmordeinsätze zu fordern. Gemeinsam mit Kollegen entwickelte sie eine grauenvolle "Wunderwaffe": die bemannte V1-Rakete, also eine von Menschen gelenkte, mit Sprengstoff gespickte Lenkbombe.
Himmelfahrtskommando Berlin
Bei einem Besuch auf Hitlers Berghof im Februar 1944 trug Reitsch dem "Führer" ihren Plan vor. Doch der lehnte ab. Die Pilotin, mittlerweile sogar Trägerin des Eisernen Kreuzes I. Klasse, insistierte und erlangte zumindest die Erlaubnis, eine Testserie durchzuführen. Reitsch trainierte bereits die rund 70 deutschen, zumeist blutjungen Todeskandidaten - da landeten die Alliierten in der Normandie und vereitelten die als "SO" ("Selbstopfer") verbrämten Kamikaze-Einsätze.
Die selbstmörderischen Aktionen der Hanna Reitsch indes waren damit noch lange nicht zu Ende. Am 26. April 1945, nur wenige Tage vor der deutschen Kapitulation, brach sie zu ihrer gefährlichsten Mission auf: dem Flug ins brennende Berlin. Generaloberst Robert Ritter von Greim war von Hitler in den Führerbunker zitiert worden und bat Reitsch, ihn zu begleiten: ein Himmelfahrtskommando, auf das die Fliegerin sich klaglos einließ.
Schon kurz vor Berlin mussten die beiden zum Sturzflug ansetzen, um den russischen Angreifern zu entrinnen. Nachdem ein Panzersprenggeschoss den rechten Fuß von Greim zertrümmert hatte, übernahm Reitsch den Steuerknüppel und lenkte das Flugzeug durch den russischen Flakbeschuss.
Tiroler Jodler im Führerbunker
Mit den Worten "Sie tapfere Frau! Es gibt noch Treue und Mut auf der Welt" empfing Hitler seine Lieblingsfliegerin, wie Reitsch sich erinnerte. Doch der Mann, der einst nach der Weltherrschaft gegiert hatte, war längst erledigt: "Seine Gestalt war jetzt stark vornübergebeugt, beide Arme zitterten ununterbrochen, und sein Blick hatte etwas gläsern Fernes", beschrieb sie Hitler in ihren Memoiren.
Nachdem Hitler Greim und Reitsch bereits je zwei Giftampullen für den Freitod überreicht hatte, änderte er in der Nacht auf den 29. April seine Meinung - und schickte die beiden wieder in die Luft. Greim, so die absurde Mission, sollte den abtrünnigen Himmler verhaften lassen und die letzten, noch vorhandenen Flugzeuge mobilisieren, um das Blatt im längst verlorenen Krieg noch zu wenden.
Reitsch gelang das Unfassbare: Mit einer kleinen Schulmaschine flog sie Greim aus dem Berliner Flammenmeer, ohne dabei abgeschossen zu werden. Doch nun endete ihre Glückssträhne. In Kitzbühel wurden Reitsch und Greim von US-Offizieren verhaftet. Greim schluckte die Giftkapsel, die ihm Hitler überreicht hatte. Kurz davor erfuhr Reitsch, dass auch ihre Eltern sowie ihre jüngere Schwester Heidi und ihre Nichten und Neffen aus Angst vor den russischem Militärs den Freitod gewählt hatten.
Äußere Modernität - inneres Mittelalter
Völlig am Boden zerstört entschied Reitsch sich dennoch für das Leben. Um sich, wie sie später schrieb, "vor Millionen anständige Deutsche" zu stellen und zu "versuchen, die Wahrheit ergründen zu helfen." Genau dieser bitteren Wahrheit jedoch wollte, konnte Reitsch nicht ins Gesicht sehen.
Anstatt sich klar von dem Wahnsinn des "Dritten Reiches" zu distanzieren, stilisierte sich die Fliegerin zur zutiefst unpolitischen Person, die stets nur ihre patriotische Pflicht getan habe. Sie verstand nicht, wieso sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr ihr Eisernes Kreuz mit Hakenkreuz tragen durfte.
Die Anerkennung, die der Fliegerin wegen ihrer Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland verwehrt blieb, holte sich Reitsch im Ausland, etwa in Ghana, Indien und den USA, wo sie 1961 von Präsident John F. Kennedy empfangen und 1972 als "Pilot des Jahres" ausgezeichnet wurde.
In der BRD indes vermied sie es, politisch Stellung gegen das NS-Regime zu beziehen. Und 1978 ging sie in ihrem Buch "Höhen und Tiefen" so weit, historische Fakten in Frage zu stellen: "Nun sind schon über 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen, und die Lügen, die über unser Land verbreitet wurden, scheinen als Geschichte 'Realität' geworden zu sein."
Hanna Reitsch, schrieb der SPIEGEL in seinem Nachruf, "verkörperte aufs äußerste zugespitzt die deutsch-nationale Schizophrenie zwischen äußerer Modernität und innerem Mittelalter, zwischen technisch-wissenschaftlicher Intelligenz und verblendeter 'Gläubigkeit', zwischen persönlichem Anstand und kollektiver Barbarei."
Am 24. August 1979 starb Hanna Reitsch in Frankfurt an Herzversagen. Kinderlos, bindungslos, bis zuletzt von dem Wunsch beseelt zu fliegen. Noch kurz vor ihrem Tod, mit 67 Jahren, stellte die Pilotin einen weiteren Segelflug-Weltrekord für Frauen auf.