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Provisorischer Nationalrat, 1918/19

Aus Historisches Lexikon Bayerns

vonMarkus Nadler

Der Provisorische Nationalrat des Volksstaats Bayern entstand nach dem Sturz der konstitutionellen Monarchie im November 1918. Er sollte nach der Vorstellung der Regierung Eisner bis zur Einrichtung einer dauerhaften, durch eine Verfassung legitimierten und gewählten Volksvertretung die Funktion eines Übergangsparlaments mit beschränkten Kompetenzen übernehmen. Mit der auf den 12. Januar 1919 terminierten Wahl zum neuen Landtag verlor der Provisorische Nationalrat seine Aufgabe. Er trat am 4. Januar 1919 zum letzten Mal zusammen. Sein Tagungsort war das Landtagsgebäude in der Münchner Prannerstraße.

Entstehung und Zusammensetzung

Soldaten vor dem Landtag im November 1918. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-5122)

Noch wenige Stunden vor Ausbruch derRevolution in Bayern fand am 7. November 1918 eine Sitzung der Kammer der Abgeordneten statt, die am Spätnachmittag endete. Um etwa 21 Uhr besetzten Soldaten im Namen desArbeiter- undSoldatenrats unter der Führung vonKurt Eisner (USPD, 1867-1919) das Landtagsgebäude in der Prannerstraße. Ungefähr nach einer Stunde begann eine improvisierte Sitzung im Saal der Kammer der Abgeordneten, die sich zur "vorläufige[n] konstituierende[n] Versammlung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte" erklärte und Eisner zum Vorsitzenden wählte, der die Republik(Freistaat) ausrief. Die Versammlung dauerte bis in die Morgenstunden, und währenddessen wurden durch Plakate und Presse die wesentlichen Folgerungen bekannt gemacht. Eisner einigte sich mit denMehrheits-Sozialdemokraten (MSPD) noch am Nachmittag des 8. November darauf, eine weitere Sitzung, diesmal unter Einbeziehung bisheriger Abgeordneter, im Landtag abzuhalten und seinRegierungskabinett ausUnabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und MSPD zu bestätigen. Diese Versammlung nannte sich "Provisorischer Nationalrat des Volksstaates Bayern".

  • Bekanntgabe der Gründung des Arbeiter- und Soldatenrats. (Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek)
    Bekanntgabe der Gründung des Arbeiter- und Soldatenrats. (Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek)
  • Proklamation der Bayerischen Republik und der Absetzung der Wittelsbacher vom 8. November 1918. (bavarikon) (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Plakatsammlung 2076)
    Proklamation der Bayerischen Republik und der Absetzung der Wittelsbacher vom 8. November 1918. (bavarikon) (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Plakatsammlung 2076)

Eine Begründung für diese Bezeichnung wurde nicht gegeben. Da aber auch von einer vorläufigen, provisorischen und einer späteren, konstituierenden "Nationalversammlung" gesprochen wurde, liegt eine Assoziation mit der Französischen Revolution und deren Nationalversammlung nahe. Das Grundwort "-rat" sollte zweifellos die Beteiligung der Räte betonen.

Während für die nächtliche Sitzung vom 7. auf den 8. November kein Protokoll existiert, wurde ein solches für die Nachmittagssitzung des 8. November angefertigt und veröffentlicht. Es ist das erste von zehn bis zum 4. Januar 1919 angefertigten Sitzungsprotokollen.

Im Provisorischen Nationalrat vermischten sich Elemente einer parlamentarischen Demokratie und einesRätesystems. Einerseits stand er in der organisatorischen und örtlichen Tradition des Landtags. Andererseits waren die revolutionären Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte stark vertreten. Ob sich im Ringen um die künftige staatliche Ordnung die Anhänger einer parlamentarischen Demokratie oder die Befürworter eines Rätesystems durchsetzen würden, war zunächst offen. Allerdings wurden im Dezember die Weichen zugunsten der ersteren gestellt. Denn Eisner musste dem Drängen unter anderem von Kabinettsmitgliedern nach baldiger Ansetzung einerLandtagswahl nachgeben und legte am 5. Dezember 1918 per Regierungs-Proklamation hierfür den 12. Januar 1919 als Termin fest.

Mitglieder, Gruppen, Fraktionen

Zusammensetzung des Provisorischen Nationalrats. (Grafik: Stefan Schnupp)

Die genaue Zusammensetzung des Provisorischen Nationalrats in den ersten Sitzungen ist nicht dokumentiert. Die meisten seiner Mitglieder kamen zwischen der ersten und zweiten Sitzung hinzu. Die zweite Sitzung fand allerdings aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten erst fünf Wochen später, am 13. Dezember, statt. In der Zwischenzeit erweiterte sich der Mitgliederkreis vor allem um Vertreter vonGewerkschaften, Vereinen und Verbänden. Einzelne Organisationen hatten gleich nach dem 8. November auf Berücksichtigung gedrängt, woraufhin die Regierung allgemein zur Beteiligung einlud. Die Entscheidungskompetenz über die Aufnahme der verschiedenen Akteure und Interessensgruppen wurde Eisner zugebilligt.

Den gedruckten "Verhandlungen" vorangestellt wurde das "Verzeichnis der Mitglieder des provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern nach dem Stande vom 21. Dezember 1918". Dort wurden namentlich, durchnummeriert und gegliedert nach den verschiedenen Körperschaften 256 Mitglieder benannt. Demnach waren 50 Mitglieder aus demLandesarbeiterrat, 50 aus demLandessoldatenrat und 50 aus demBauernrat.

Dazu kamen 39 Mitglieder des früheren Landtags: Für die SPD 29, für denBayerischen Bauernbund (BB) sechs und vier für die Liberale Vereinigung.

Die übrigen 67 Mitglieder vertraten die Gewerkschaften, Berufsverbände und Vereine, Kommunalverbände, Handwerkskammern und Handelsvereinigungen.

Unter den 256 Mitgliedern des provisorischen Parlaments waren erstmals auch Frauen, wenn auch nur acht (3,1 %).

  • Hedwig Kämpfer (USPD, 1889-1947), Vertreterin für den Landesarbeiterrat im Provisorischen Nationalrat. (Bild: Privatarchiv Rauch)
    Hedwig Kämpfer (USPD, 1889-1947), Vertreterin für den Landesarbeiterrat im Provisorischen Nationalrat. (Bild: Privatarchiv Rauch)
  • Maria Sturm (BVP, 1864-1935), Vertreterin des Vereins katholischer Lehrerinnen im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
    Maria Sturm (BVP, 1864-1935), Vertreterin des Vereins katholischer Lehrerinnen im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
  • Luise Kiesselbach (DDP, 1863-1929), Vertreterin des Hauptverbands bayerischer Frauenvereine in München im Provisorischen Nationalrat. (Quelle: Johannes Herwig-Lempp)
    Luise Kiesselbach (DDP, 1863-1929), Vertreterin des Hauptverbands bayerischer Frauenvereine in München im Provisorischen Nationalrat. (Quelle:Johannes Herwig-Lempp)
  • Emilie Mauerer (MSPD, 1863-1924), Vertreterin des Sozialdemokratischen Frauenvereins München im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
    Emilie Mauerer (MSPD, 1863-1924), Vertreterin des Sozialdemokratischen Frauenvereins München im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
  • Dr. Rosa Kempf (DDP, 1874-1948), Vertreterin des Hauptverbands der Bayerischen Frauenvereine im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
    Dr.Rosa Kempf (DDP, 1874-1948), Vertreterin des Hauptverbands der Bayerischen Frauenvereine im Provisorischen Nationalrat. (© Bildarchiv Bayerischer Landtag)
  • Anita Augspurg (USPD, 1857-1943), Vertreterin des Vereins für Frauenstimmrecht im Provisorischen Nationalrat. (Bayerische Staatsbibliothek)
    Anita Augspurg (USPD, 1857-1943), Vertreterin des Vereins für Frauenstimmrecht im Provisorischen Nationalrat. (Bayerische Staatsbibliothek)

Die Mitglieder aus den drei großen Gruppen, der Räte, der Abgeordneten des alten Landtags und der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen, schlossen sich ab Mitte Dezember in hauptsächlich parteipolitisch orientierte Fraktionen zusammen, nämlich der (Mehrheits-)Sozialdemokraten, der Unabhängigen Sozialdemokraten, der Bauernräte, der Demokratischen Fraktion und der Freien Vereinigung. Einige Nationalratsmitglieder blieben fraktionslos. Einen Sonderfall stellten die Soldatenräte dar, die teilweise wie eine Fraktion auftraten, deren Mitglieder aber auch anderen Fraktionen angehörten. Die Stärke und Zusammensetzung der Fraktionen des Provisorischen Nationalrats ist nicht explizit dokumentiert und daher nur teilweise bekannt.

Tagung, Gremien, Tätigkeit

Der Provisorische Nationalrat kam insgesamt zehn Mal zusammen: nach dem 8. November erst wieder am 13., 14., 17., 18., 28., und 30. Dezember 1918 sowie am 2., 3., und 4. Januar 1919. Die Sitzungen fanden jeweils im Landtagsgebäude statt, wo die Verwaltung des bisherigen Landtags und insbesondere das Stenographische Büro zur Protokollierung der Verhandlungen zur Verfügung stand.

Da der Provisorische Nationalrat unmittelbar aus der Revolution hervorging, gab es zunächst keine rechtliche Grundlage für seine Zusammensetzung, Aufgaben und Kompetenzen. Allerdings verliehen ihm die Tagung im Landtagsgebäude und teilweise personelle Kontinuitäten einen gewissen äußeren Anschein von Gesetzmäßigkeit. Die Regierung Eisner sah anfangs im Provisorischen Nationalrat ein Legitimationsorgan für sich, billigte ihm später aber nur beratende Funktion zu und betrachtete ihn eher als Forum für ihre Erklärungen. Auch wenn die Auffassungen bzgl. einer Kontrollfunktion gegenüber der provisorischen Regierung unterschiedlich waren und schwankten, blieben letztlich sowohl der Einfluss des Provisorischen Nationalrats auf die Exekutive als auch seine politische Bedeutung insgesamt gering. Gleichwohl wurde aus der Einsetzung der Regierung durch den Nationalrat von dessen Mitgliedern auch ein grundsätzliches Recht auf deren Absetzung abgeleitet.

Diese Einsetzung war gleich in der ersten Sitzung am 8. November 1918 erfolgt, in der Eisner in seiner Eröffnungsrede als "Vorsitzende[r] des provisorischen Parlaments der Republik Bayern" auch bereits seinen Kabinettsvorschlag präsentierte. Anschließend wurde zunächst die "Wahl und Konstituierung des Präsidiums" vorgenommen. Zum Präsidenten bzw., wie es im Protokoll heißt, als "Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats" wurdeFranz Schmitt (SPD, 1862-1932) gewählt. Mit ihm im selben Abstimmungsvorgang wurden der erste und zweite Vizepräsident sowie vier Schriftführer und damit das gesamte Präsidium bestätigt, das als "Direktorium" bezeichnet wurde. Den Vorschlag zu dieser Zusammensetzung hatte der SPD-Vorsitzende Erhard Auer (1874-1945) vorgetragen.

Danach führte Schmitt als Präsident die "Wahl der Regierung der sozialen Republik Bayern" als Einzelabstimmung für jeden Kabinettsposten durch, indem sich die Mitglieder bei Zustimmung von ihren Sitzen erhoben.

In der zweiten Sitzung am 13. Dezember 1918 wurde eine provisorische Geschäftsordnung angenommen und eine Kommission eingesetzt, zum Entwurf einer "Satzung und Geschäftsordnung" (PNR Beil.Bd., Beil. 4). Deren Vorschläge behandelte der Nationalrat in der vierten Sitzung am 17. Dezember, setzte sie aber letztlich nicht in Kraft. Ausschüsse wurden nicht, wie dort vorgesehen, gebildet, so dass keine Ausschuss-Tätigkeit stattfinden konnte. Fraktionen konstituierten sich erst nach der zweiten Sitzung. Eine weitere Kommission für "Auswärtige Politik" wurde in der vierten Sitzung als Kontrollinstrument gegenüber der Regierung beantragt, fand jedoch keine Zustimmung.

Der Provisorische Nationalrat befasste sich in den übrigen Sitzungen mit Anträgen, Anfragen und Interpellationen zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Themen wie derLebensmittelversorgung, den Staatsfinanzen, derLage der Soldaten und anderer Berufsgruppen sowie mit der Gründung einesLandwirtschaftsministeriums und eines Nationalgerichtshofs (Staatsgerichtshof). Auch Anträge zur Aufnahme weiterer Mitglieder in den Nationalrat wurden mehrfach beraten. Fragen der Gesetzgebung spielten dagegen eine untergeordnete Rolle, da die Regierung die Gesetzgebungskompetenz beanspruchte. Der Provisorische Nationalrat kann daher nicht als vollwertige parlamentarische Körperschaft angesehen werden. Er beschränkte sich darauf, die Regierung zu ersuchen, bei verschiedenen Anliegen gesetzgeberisch tätig zu werden. Auch bei der Wahlordnung oder beim Staatsgrundgesetz vom 4. Januar 1919 erfolgte keine Mitwirkung des Provisorischen Nationalrats. Dieses legte in Artikel 17 fest, dass bis zur Verabschiedung einerVerfassung "die revolutionäre Regierung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt" ausübt.

Beendigung

Der Provisorische Nationalrat beschränkte sich auf wenige Sitzungswochen, da er nur als Übergangsparlament bis zur Konstituierung einer verfassunggebenden Nationalversammlung fungierte. Nachdem die Wahl für den 12. Januar 1919 angesetzt wurde, tagte der Provisorische Nationalrat am 4. Januar 1919 ein zehntes und, wie sich zeigen sollte, letztes Mal. Die Mitglieder durften auch davon ausgehen, dass es die letzte Sitzung sein würde, wenngleich Präsident Schmitt in den Schlussworten dieser Sitzung ankündigte, den Nationalrat erneut einzuberufen, sofern sich eine Notwendigkeit dazu ergebe. Es war beschlossen worden, dass es sich nur um eine Vertagung handele. Die Tagung des Provisorischen Nationalrats insgesamt wurde weder geschlossen noch das Gremium aufgelöst.

Der neu gewählteLandtag konnte nach der Wahl am 21. Februar 1919 zu seiner ersten Sitzung zusammengerufen werden. Wegen derErmordung Kurt Eisners und der Schüsse im Landtag an diesem Tag, konnte sich dieser jedoch nicht konstituieren. Angesichts der unklaren politischen Konsequenzen fasste der vomZentralrat einberufeneKongress der bayerischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte am 28. Februar 1919 den Beschluss, dass die Tagung des Provisorischen Nationalrats jetzt für geschlossen erklärt werde und die Tagung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte nun den Provisorischen Nationalrat darstelle. Die Autorität des Rätekongresses hierfür wurde aber von den bürgerlichen Parteien und der SPD nicht anerkannt. Die Konstituierung des Landtags war erst am 17. März 1919 möglich.

Literatur

  • Matthias Bischel/Franz Menges, Bayern in der Weimarer Republik, in: Manfred Treml (Koord.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, München 2020, 185-217.
  • Wolfgang Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie. Die Entstehung der Bamberger Verfassung vom 14. August 1919 (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 29), München 2013.
  • Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867-1919. Eine Biographie, München 2001.
  • Michael Henker/Matthias Bachmann/Wolfgang Reinicke (Hg.), Bollwerk der Freiheit. 60 Jahre Bayerische Verfassung, Bayerischer Landtag. Begleitpublikation zur Ausstellung des Bayerischen Landtags und des Hauses der Bayerischen Geschichte (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 35), Augsburg 2006.
  • Georg Köglmeier, Die zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19. Legitimation - Organisation - Funktion (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 135), München 2001.
  • Joachim Lilla, Der Bayerische Landtag 1918/19 bis 1933. Wahlvorschläge – Zusammensetzung – Biographien (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 21), München 2008.
  • Julius Wilhelm, Das Stenographenbüro des Bayerischen Landtags, in: Das Bayerland 45 (1934), 99-104 [darin Bericht des Bürodirektors der Kammer der Abgeordneten Will: "Am 7. November 1918"]

Quellen

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Markus Nadler, Provisorischer Nationalrat, 1918/19, publiziert am 20.10.2025; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL:<http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Provisorischer_Nationalrat,_1918/19> (26.11.2025)