Ein Realismus der schlimmsten Wendung: Laudatio zur Verleihung des Jürgen Bansemer & Ute Nyssen- Theaterpreises an Martin Crimp
In «Sanft und grausam», einer Adaption von Sophokles’ «Trachinierinnen», sagt eine Leibesvisiteurin mit Gummihandschuhen am Flughafen zu einer verzweifelten Frau: «Sie haben eine Waffe versteckt. Ich spüre sie neben ihrem Herzen.» Die Frau antwortet: «Ach, wirklich? Meinen Sie die Liebe?» Aber die Antwort ist: «Nicht Liebe, nein, ich rede von diesem Stachel.» – Dieser Stachel neben dem Herz, das ist der Splitter, mit dem Martin Crimps Figuren ihre Sätze ins Wachs der Geschichte ritzen.
Ein quälendes Objekt, verwachsen mit der Zuneigung, das aktiv werden und auch andere verletzen kann: durch Sprache, die in deren Herzen schneidet.
Jede und jeder in der Welt des Martin Crimp hat so eine Waffe. Die meisten empfinden sie als Verteidigungswaffe, aber auch als solche dient sie dazu, in die Sicherheit der Anderen zu schneiden. Für irgendwen ist sie immer schädlich, diese am Schmerz geschliffene Sprache, meist für alle. Und so viel Mühe sich auch jedes Wesen in den modernen Zivilisationsszenen dieser Stücke gibt, den Angriffscharakter ihrer spitzen Extra-Herzklappe zu verbergen, Martin Crimps Leibesvisitation ohne Gummihandschuhe dringt immer vor bis zu den Schmerzobjekten unter der Haut. ...
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Theater heute Mai 2021
Rubrik: Laudatio, Seite 34
von Till Briegleb
Gintersdorfer/Klaßen brainstormen mit dem Ballet of Difference am Schauspiel Köln zur Tanzgeschichte der Weimarer Republik: «Gymnastik»
Nach einigen Gintersdorfer/Klaßen-Inszenierungen sind gewisse dramaturgische Moves der Truppe bereits vertraut: Ein politisch und künstlerisch verschränktes Thema wird ausgelegt, aus verschiedenen Perspektiven vom möglichst diversen Ensemble beleuchtet und vorangetrieben, bis irgendwann ein oder zwei Performer von der Elfenbeinküste das gut gemeinte, aber oft...
Statt Necati Öziris Kleist-Dekonstruktion «Gott Vater Einzeltäter» inszenieren Saphir Heller, Lena Wontora und Ensemble am Nationaltheater Mannheim «Cecils Briefwechsel»
Im Rom des 3. Jahrhunderts soll es eine Cäcilia gegeben haben, die ein gottergebenes Leben führte, heilig gesprochen wurde, seither als Schutzpatronin der Kirchenmusik unterwegs ist und an einem Fronleichnamstag in den Jahren der europäischen Religionskriege besonders gefordert war. Drei Brüder aus den Niederlanden, so die Legende, sollen zusammen mit einem...
Das Deutsche Theater Göttingen lädt zur «Tankstelle am Wall»
«Hier kann man Spaß tanken», verspricht die Schauspielerin Marie Seiser fröhlich. Sie begrüßt mich am ersten Schalter der «Tankstelle am Wall» und schlägt mir ein paar gemeinsame Spiele vor. Nur wenige Augenblicke später stehe ich an einem verglasten Schalter in Göttingen und spiele Taketina. Das ist ein verwirrendes Rhythmus-Koordinations-Spiel, das man eigentlich...