Diezweite Lautverschiebung, auchdeutsche, hochdeutsche, althochdeutsche undzweite germanische Lautverschiebung genannt, ist die sprachwissenschaftliche Beschreibung eines regelhaftenLautwandels im Bereich desKonsonantismus, durch den sich die nachmaligenhochdeutschen Dialekte von den übrigenaltgermanischen Varietäten fortentwickelten.
ZweiKonsonantenverschiebungen haben geschichtlich vomIndogermanischen über dasGermanische zumHochdeutschen geführt: dieerste und die zweite Lautverschiebung.[1] Durch die zweite Lautverschiebung wurde aus den südlichenwestgermanischen Dialekten diealthochdeutsche Sprache. Die Grenze dieser Lautverschiebung verläuft von West nach Ost, heute mehr oder weniger am Mittelgebirgsrand; sie wird alsBenrather Linie bezeichnet.
Der Beginn dieser Veränderung wurde traditionell (etwa mit Hilfe von ehemals lateinischen Ortsnamen, bei denen die Gründung der Orte archäologisch datierbar ist) auf das frühe 6. Jahrhundert n. Chr. datiert. Nach mehreren neu gefundenen Inschriften, wie etwa derRunenschnalle von Pforzen, begann sie jedoch erst ab ca. 600 (falls nicht die Schreibung konservativ ist und die neuen Laute noch nicht wiedergibt).
Bei der zweitenLautverschiebung handelte es sich um einen längerfristigen und mehrphasigen Prozess, der zu Beginn der Überlieferung des Althochdeutschen im 8. Jahrhundert n. Chr. noch nicht ganz abgeschlossen war. Die Ursachen für diese Lautverschiebung werden in der Forschung seit langem kontrovers diskutiert.
Für die Ursachen des Lautwandels gibt es verschiedene Hypothesen.[2][3]Jacob Grimm vermutete, dass die zweite Lautverschiebung vom physiologischen Stress der Völkerwanderungszeit verursacht wurde. Er hielt es für unmöglich, dass „ein so heftiger Aufbruch des Volkes nicht auch seine Sprache erregt hätte, sie zugleich aus hergebrachter Fuge rückend und erhöhend“.[4]Julius Pokorny behauptete, dass der Lautwandel von einemKlimawandel verursacht worden sei.[5] Er meinte, es habe um die Mitte des 1. Jahrtausends vor Christus in Europa einen Klimasturz gegeben. Die Menschen in den Höhenzügen Süddeutschlands und im Alpenraum seien deshalb gezwungen gewesen, mit festem Mundverschluss zu artikulieren, was eine Verstärkung derAspiration zur Folge hatte.[6]Sigmund Feist, Autor dergermanischen Substrathypothese, vermutete, die Änderungen im Hochdeutschen seien von einem nicht-indogermanischen Substrat verursacht worden, spezifisch der – möglicherweise dem Etruskischen verwandten –rätischen Sprache.[7] Für all diese Hypothesen gibt es jedoch kaum oder keine empirischen Belege.
Im Jahr 1949 postulierte der deutsche SprachforscherKarl Meisen, die hochdeutschen Dialekte hätten sich erst in der Zeit der Völkerwanderung im ehemals germanischen Kolonialgebiet Süddeutschlands auf hauptsächlich keltischer Grundlage (d. h. auf einemSubstrat) entwickelt.[8]Stefan Sonderegger hielt es für denkbar, dass die hochdeutsche Lautverschiebung als Folge germanischer Superstratsiedlung aufgalloromanischem Substrat nördlich der Alpen entstanden sei.[9] Auch Klaus-Peter Lange von der Universität Aachen zog galloromanischen Einfluss in Betracht.[10]Norbert Richard Wolf war der Meinung, dass ein (unspezifiziertes) sprachliches Substrat am wahrscheinlichsten sei.[11]
Von der zweiten Lautverschiebung betroffen sind die stimmlosenPlosive [p] (bilabial), [t] (alveolar) und [k] (velar) sowie in Teilen die stimmhaften Gegenstücke [b], [d] und [g]. Steht ein [p] imAnlaut eines Wortes, imInlaut nach denSonoranten [m], [n], [l], [r] oder tritt es alsGeminate (Doppelkonsonant) auf, so wird es zu derAffrikate [pf] verschoben, dementsprechend [t] zu [ts] ⟨z⟩ und [k] zu [kx]. Ungeminiertes, einfaches [p], [t], [k] nach Vokal wird zu Doppelfrikativ verschoben ([ff], [ss], [xx]). Diese Doppelfrikative werden allerdings im Auslaut, vor Konsonant und auch nach Langvokal zu [f], [s], [x] vereinfacht.[12]
Die Auswirkungen der Lautverschiebung werden besonders offensichtlich, wenn neuhochdeutscheLexeme, die verschobene Konsonanten enthalten, mit ihren Entsprechungen im Niederdeutschen und modernen Englischen verglichen werden, wo die zweite Lautverschiebung nicht bzw. im Niederdeutschen nur teilweise nicht durchgeführt wurde. Die folgende Übersichtstabelle ist im Bezug zu den entsprechenden Wörtern derindogermanischen Ursprache (G =Grimmsches Gesetz; V =Vernersches Gesetz).
| Erste Lautverschiebung (Indoeuropäisch → Germanisch) | Phase | Zweite Lautverschiebung (Germanisch → Althochdeutsch) | Beispiele (Neuhochdeutsch) | Jahrhundert | Dialektgebiete |
|---|---|---|---|---|---|
| G: /*b/→/*p/ | 1 | /*p/→/ff/→/f/ | nd.slapen, engl.sleep →schlafen; nd.Schipp, engl.ship →Schiff | 4.–5. | Ober- und Mitteldeutsch |
| 2 | /*p/→/pf/ | nd.Peper, engl.pepper →Pfeffer; nd.Ploog, engl.plough →Pflug; nd.scherp, engl.sharp → obd., md.scharpf (dt.scharf) | 6.–7. | Oberdeutsch | |
| G: /*d/→/*t/ | 1 | /*t/→/ss/→/s/ | nd.dat,wat,eten, engl.that,what,eat →das,was,essen | 4.–5. | Ober- und Mitteldeutsch 1 |
| 2 | /*t/→/ts/ | nd.Tied, engl.tide →Zeit; nd.tellen, engl.tell →zählen; nd.Timmer, engl.timber →Zimmer[13] | 5.–6. | Ober- und Mitteldeutsch | |
| G: /*g/→/*k/ | 1 | /*k/→/xx/→/x/ | nd.,nl.ik,aengl.ic →ich; nd.maken, engl.make →machen; nd., nl.ook,wfri.ek →auch | 4.–5. | Ober- und Mitteldeutsch 2 |
| 2 | /*k/→/kx/ und→/x/ | dt.Kind →südbair.Kchind,hoch- und höchstalem.Chind | 7.–8. | Südbairisch, Hoch- und Höchstalemannisch | |
| G: /*bʰ/→/*b/ V: /*p/→/*b/ | 3 | /*b/→/p/ | dt.Berg,bist →zimbr.Perg,pist | 8.–9. | teilweise Bairisch und Alemannisch |
| G: /*dʰ/→/*đ/→/*d/ V: /*t/→/*đ/→/*d/ | 3 | /*d/→/t/ | nd.Dag, engl.day →Tag; nd.Vader,nfri.faader →Vater | 8.–9. | Oberdeutsch |
| G: /*gʰ/→/*g/ V: /*k/→/*g/ | 3 | /*g/→/k/ | dt.Gott → bair.Kott | 8.–9. | teilweise Bairisch und Alemannisch |
| G: /*t/→/þ/ [ð] | 4 | /þ/→/d/ /ð/→/d/ | engl.thorn,thistle,through,brother →Dorn,Distel,durch,Bruder | 9.–10. | gesamtes kontinentalwestgermanisches Dialektkontinuum |
Die erste Phase, die sich auf das ganze hochdeutsche Gebiet auswirkte, lässt sich vermutlich auf das 6. oder 7. Jahrhundert zurückdatieren. Die ältesten überlieferten Belege derTenuesverschiebung stammen aus der Zeit nach 650 aus demEdictus Rothari. Den Aussagen der Forschung zufolge liefern die vor-althochdeutschenRunen (ungefähr 600 n. Chr.) keinen überzeugenden Hinweis auf eine Tenuesverschiebung. In dieser Phase wurden die stimmlosenVerschlusslaute zwischenvokalisch zu Frikativgeminaten oder im Auslaut nach Vokal zu einzelnen Frikativen.
/p/ → /f/ = [fː~f] (geschrieben ⟨ff, f⟩)
/t/ → /s/ = [sː~s] (geschrieben ⟨ss, s, ß⟩)
/k/ → /x/ = [xː~x] (geschrieben ⟨ch⟩)
Anmerkung: Inalthochdeutschen und mittelhochdeutschen Wörtern stehtz regelmäßig für den denti-alveolaren Frikativ /s/,s dagegen für den zurückgezogenen alveolaren Frikativ /s̠/. Die Schreibungh steht im Althochdeutschen nach Vokal für dieSpirans /x/, im (frühen) Althochdeutschen außerdem vor Konsonant; vor Vokalen und im späteren Althochdeutschen auch vor Konsonanten stehth wie im heutigen Deutsch für den Hauchlaut /h/.
Beispiele:
Es ist zu beachten, dass Phase 1 keinen Einfluss auf geminierte Verschlusslaute in Wörtern hatte, wie*appul „Apfel“ oder*katta „Katze“. Auch waren die Verschlusslaute nach anderen Konsonanten nicht betroffen in Wörtern wie*scarp „scharf“ oder*hert „Herz“, wo ein weiterer Konsonant zwischen den Vokal und den Verschlusslaut tritt. Diese Wörter blieben bis zur Phase 2 unverschoben.
In der zweiten Phase, die im8. Jahrhundert abgeschlossen war, wurden dieselben Laute zuAffrikaten (d. h. einem Verschlusslaut folgt eine Spirans). Dieses geschah in drei Umgebungen: im Anlaut, in der Verdopplung und nach einem Liquid (/l/ oder /r/) oderNasal (/m/oder /n/).
/p/ → /pf/ (im Althochdeutschen auch ⟨ph⟩ geschrieben)
/t/ → /ts/ (geschrieben ⟨z⟩ oder ⟨tz⟩)
/k/ → /kx/ [kχ~kh] (im Althochdeutschen ⟨ch⟩, ⟨c⟩, ⟨kh⟩, ⟨k⟩ geschrieben)
Beispiele:
Die Tenuesverschiebung fand nicht statt, wo eine Spirans dem Verschlusslaut vorausgegangen war, d. h. in den Lautfolgen /sp, st, sk, ft, ht/. /t/ blieb auch in der Lautung /tr/ unverschoben.
Die später folgende Änderung von /sk/ → /ʃ/, geschriebensch, fand im frühenMittelhochdeutschen statt und ist nicht Teil der Tenuesverschiebung.
Diese Affrikaten (besonders /pf/) haben sich in einigen Dialekten zu Spiranten vereinfacht. Somit wurde /pf/ in bestimmten Fällen zu /f/. ImJiddischen und in einigen ostmitteldeutschen Dialekten geschah dies im Anlaut, z. B. nd.Peerd, dt.Pferd, jidd.ferd. Es gab eine starke Tendenz zur Vereinfachung nach /r/ und /l/, z. B.werfen ← ahd.werpfan,helfen ← ahd.helpfan, aber einige Formen mit /pf/ bleiben erhalten, z. B.Karpfen.
Die Affrikatisierung von /t/→ /ts/ erscheint im ganzen hochdeutschen Gebiet.
Die Affrikatisierung von /p/ → /pf/ erscheint im gesamten Oberdeutschen, aber es gibt eine breite Variation im Mitteldeutschen. Je nördlicher der Dialekt, desto weniger weisen westmitteldeutsche Dialekte Konsonantenverschiebungen auf.
Die Affrikatisierung von /k/ → /kx/ ist geografisch stark eingegrenzt und fand nur in den südlichsten oberdeutschen Dialekten statt. DasTirolerische (südbairische Dialekte ausTirol) ist der einzige Dialekt, in dem die Affrikata /kx/ sich in allen Stellungen durchgesetzt hat. Im Hochalemannischen ist hingegen in den anderen Stellungen /k/ zu /x/ umgeformt worden, etwa beiChuchichaschte ‚Küchenschrank‘[ˈχʊxːɪˌχɑʃtə]. Dennoch gibt es /kx/ auch anlautend im modernen Hochalemannischen, das für jeglichesk inLehnwörtern benutzt wird, z. B.Karibik[kχɑˈriːbikχ].
Die Phase 3 hat einen geografisch begrenzteren Radius als die Phase 2. Hier wurden die stimmhaften zu stimmlosen Verschlusslauten.
/b/ → /p/
/d/ → /t/
/g/ → /k/
Lediglich die Verschiebung der Dentale /d/ → /t/ fand ihren Weg in das Gegenwartsdeutsch. Die anderen Medienverschiebungen sind begrenzt auf das Hochalemannische der Schweiz und das Südbairische in Österreich. Diese Medienverschiebung begann vermutlich im 8. oder 9. Jahrhundert, nachdem Phase 1 und Phase 2 sich nicht mehr weiter entwickelten. Andernfalls wären auch die daraus resultierenden stimmlosen Verschlusslaute weiter zu Frikativen und Affrikaten verschoben worden.
Dem Zufall der verschiedenen Lautgesetze und -entwicklungen ist geschuldet, dass in jenen Wörtern, in denenurindogermanische stimmlose Verschlusslaute gemäß demVernerschen Gesetz zu stimmhaften wurden, die dritte Phase den Laut zu seinem Ursprung zurückführte (*/t/ → /d/ → /t/): indogermanisch*meh₂tḗr → früh-urgerm.*māþḗr (Grimms Gesetz) → spät-urgerm.*mōđēr (Vernersches Gesetz) → westgerm.*mōdar → ahd.muotar.
Beispiele:
Was gelegentlich als Phase 4 begegnet, verschob die dentalen Spiranten zu /d/. Charakteristisch hierfür ist, dass sie ebenfalls das Niederdeutsche, Niederländische und teilweise Friesische erfasst. Im Germanischen standen die stimmlosen und stimmhaften dentalen Spiranten þ und ð in allophonischem Zusammenhang, þ im Anlaut und ð im Wortinnern. Diese verschmolzen in ein einziges /d/. Diese Verschiebung trat so spät auf, dass noch unverschobene Formen in den frühesten althochdeutschen Texten zu finden sind und kann daher auf das 9. oder 10. Jh. datiert werden.
frühes ahd.thaz → klassisches ahd.daz (engl.that, isländ.það : nd.dat, dt.das)
frühahd.thenken → ahd.denken (engl.think, wfries.tinke : nl. dt.denken)
frühahd.thegan → ahd.degan (asächs.thegan, engl.thane : nd. dt.Degen ‚Krieger, Held‘)
frühahd.thurstag → ahd.durstag (engl.thirsty,saterfries.toarstich : nl.dorstig, dt.durstig)
frühahd.bruothar,bruodhar → ahd.bruodar (engl.brother, isländ.bróðir : nd.Broder, dt.Bruder)
frühahd.munth → ahd.mund (asächs.mūð, engl.mouth : nl.mond, dt.Mund)
frühahd.thū → ahd.dū (asächs. anl.thū, engl.thou : nd.dü, dt.du)
In Dialekten, die von Phase 4, aber nicht von der Verschiebung des Dentals der Phase 3 erfasst wurden, Niederdeutsch, Hochdeutsch und Niederländisch, verschmolzen zwei germanische Laute: þ wirdd, aber das ursprüngliched bleibt unverändert.
| Lautwechsel | Hochdeutsch | Niederdeutsch | Niederländisch | Englisch |
|---|---|---|---|---|
| original /þ/ (→ /d/ in Hochdeutsch, Niederdeutsch und Niederländisch) | Tode | Dood | dood | death |
| original /d/ (→ /t/ in Hochdeutsch) | tote | doode (weibl.) | dode | dead |
(Zum besseren Vergleich werden die deutschen Formen hier mit -e angeführt, um die Auswirkungen der Auslautverhärtung auszuschließen. DieNominative sindTod undtot beide ausgesprochen [toːt].) Eine Konsequenz daraus ist, dass der grammatische Wechsel beim Dental (d/t) im Mittelniederländischen entfällt.
Der westgermanische stimmhafte velare Frikativ /ɣ/ wurde im Althochdeutschen in allen Stellungen zu /g/ verschoben. Man glaubt, dass dieser frühe Lautwandel spätestens im 8. Jahrhundert abgeschlossen war. Da die Existenz von einem /g/ in der Sprache eine Voraussetzung für die süddeutsche Verschiebung vong →k war, muss dies der Phase 3 der Kerngruppe der Hochdeutschen Konsonantenverschiebung vorausgehen. Die gleiche Veränderung ereignete sich unabhängig davon im Altenglischen um das 10. Jahrhundert (sich verändernde Muster vonAlliterationen lassen diese Datierung als zulässig erscheinen), aber mit der wichtigen Ausnahme, dass vor einem hellen Vokal (e,i) dieanglofriesische (auchnordseegermanische)Palatisierung eintrat und sich stattdessen ein /j/ ergab. Das Niederländische hat sich das ursprüngliche germanische /ɣ/ bewahrt, obwohl im Niederländischen dies mit der Graphie ⟨g⟩ wiedergegeben wird. Der Unterschied zwischen diesem (dem niederländischen) und dem englischen bzw. deutschen Konsonanten ist in der geschriebenen Form nicht sichtbar.
Das westgermanische *ƀ (vermutlich gesprochen [v]), ein Allophon von /f/, wurde im Althochdeutschen zwischen Vokalen und ebenfalls nach /l/ zu /b/.
asächs.liof (nd.leev) : ahd.liob,liup (dt.lieb)
asächs.haƀoro (nd.Haver) : ahd.habaro (schweiz. bair. schwäb.Haber ‚Hafer‘)
asächs.half (nd.halv) : ahd. dt.halb
mnd.lēvere (nd.Lever) : ahd.lebara (dt.Leber)
asächs.self (nd.sülv) : ahd. dt.selb
asächs.salƀa (nd.Salve) : ahd.salba (dt.Salbe)
Bei starken Verben wie dem deutschenheben (nd.heven) undgeben (nd.gäven,geven) trug die Verschiebung dazu bei, die [v]-Formen im Deutschen zu eliminieren. Aber eine genaue Beschreibung dieser Verben wird erschwert aufgrund der Auswirkungen des grammatischen Wechsels, in dem [v] und /b/ innerhalb einzelner, früher Formen desselben Verbs miteinander wechseln. Im Falle von schwachen Verben, wie z. B.haben (nd. nl.hebben, engl.have) undleben (nd. nl.leven, engl.live), haben die Konsonantenunterschiede einen unterschiedlichen Ursprung; sie sind Resultat desPrimärberührungseffekts (germanische Spirantenregel) und einem darauf folgenden Prozess von Angleichung.
Das Hochdeutsche erfuhr die Verschiebung /sk/, /sl/, /sm/, /sn/, /sp/, /st/, /sw/ → /ʃ/, /ʃl/, /ʃm/, /ʃn/, /ʃp/, /ʃt/, /ʃw/ im Anlaut. Die Verschiebung /sk/ zu /ʃ/ vollzog sich auch in den meisten anderen westgermanischen Sprachen, vgl. ahd.scif → nhd.Schiff, asächs.skip → nd.Schipp, aengl.scip → engl.ship. Die englischen Wörter mitsc- sind gewöhnlich Lehnwörter aus dem Lateinischen (z. B. lat.scriptum → engl.script), Französischen (anormann.escren →screen) oder Nordischen (anorw.skræma →scream; vgl. aengl.scriccettan → engl.shriek „schreien, kreischen“ neben anord.skrækja → engl.screak)
dt.spinnen (/ʃp/) : nd. nl.spinnen, engl.spin
dt.Straße (/ʃt/) : nd.Straat, engl.street
dt.Schiff : schwed.skepp
Andere Veränderungen schließen eine allgemeine Tendenz zurAuslautverhärtung im Deutschen, im Niederländischen, im Friesischen und in weitaus begrenzterem Ausmaß im Englischen ein. So werden im Deutschen /b/, /d/ und /g/ am Ende eines Wortes als /p/, /t/ und /k/ ausgesprochen, im Niederländischen /b/ und /d/ als /p/ und /t/ und im Friesischen /d/ als /t/.[15]
Die ursprünglich stimmhaften Konsonanten werden für gewöhnlich in der modernen deutschen und niederländischen Rechtschreibung verwendet. Wahrscheinlich weil zugehörige gebeugte Formen, bei denen wie beim PluralTage das Wort nicht mit dem Verschlusslaut endet, die stimmhafte Form haben. Wegen dieser gebeugten Formen sind sich Muttersprachler auch in Bezug auf die Grundform der zugrundeliegenden stimmhaftenPhoneme bewusst und schreiben das Wort analog. Allerdings wurden imMittelhochdeutschen diese Laute oft phonetisch geschrieben: Singulartac, Pluraltage.
Abgesehen von þ → d war die hochdeutsche Lautverschiebung vor den Anfängen der Schriftlichkeit des Althochdeutschen im 9. Jahrhundert eingetreten. Eine Datierung der verschiedenen Phasen ist daher nur annäherungsweise möglich.[16]
Unterschiedliche Schätzungen erscheinen gelegentlich, z. B. bei Waterman, der die Meinung vertrat, dass die ersten drei Phasen ziemlich nahe aufeinander folgten und auf alemannischem Gebiet um 600 n. Chr. abgeschlossen waren, aber noch zwei oder drei Jahrhunderte brauchten, um sich nach Norden auszubreiten.
Die nützlichsten chronologischen Datenquellen sind deutsche Wörter, die in Texten der spätantiken und frühmittelalterlichen Periode zitiert werden. Aussagekräftig sind früh bezeugte Personennamen wieBuccelenus (aus germanischButto + lin, mit cc = tz),Zaban undPhāt (mit ph = pf) sowie früh bezeugte Ortsnamen wieZiurichi (‚Zürich‘, ausTurīcum) undZurzacha (‚Zurzach‘, ausTorta aqua), die alle aus dem 6. Jahrhundert stammen; der PersonennameDorih ist aus dem frühen 7. Jahrhundert bezeugt.[17] Frühe Verschiebungsbeispiele aus dem Mittelfränkischen sindstaffulus undhase ‚Hass‘ aus dem 7. und 8. Jahrhundert.[17] Weniger aussagekräftig ist der PersonennameEtzel für den im 5. Jahrhundert bezeugtenAttila, da der Name erst sehr viel später überliefert wird.[17] Die Tatsache, dass viele lateinische Lehnwörter im Deutschen verschoben erscheinen (z. B. lateinischstrata → deutschStraße), hingegen andere nicht (z. B. lat.poena → dt.Pein), erlaubt die Datierung des Lautwandels vor oder nach der entsprechenden Periode der Entlehnung.
Der Wiener GermanistPeter Wiesinger hat einzelne Verschiebungsschritte für dasbairische Dialektgebiet anhand der Lautveränderungen vorgermanischer geographischer Namen datiert:[18]
Eine relative Chronologie für die Phasen 2, 3 und 4 kann ziemlich einfach dadurch festgestellt werden, dass t → tz der Verschiebung von d → t vorausging und diese muss þ → d vorausgegangen sein. Andernfalls hätten alle Wörter mit einem ursprünglichen þ alle drei Verschiebungen durchlaufen und als tz enden müssen. Da die Formkepan für „geben“ im Altbayrischen belegt ist, zeigt sie, dass /ɣ/ → /g/ → /k/ und /v/ → /b/ → /p/ verschoben wurde. Daraus ist zu folgern, dass /ɣ/ → /g/ und /v/ → /b/ vor Phase 3 erfolgte.

Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass Phase 1 im nachmaligen ober- und mitteldeutschen Sprachraum wirksam war, Phase 2 und 3 jedoch nur im nachmaligen oberdeutschen Sprachraum (inklusive Schweiz, Österreich, Südtirol) und Phase 4 die ganze deutsche und Niederländisch sprechende Region betraf. Die allgemein akzeptierte Grenze zwischen Mittel- und Niederdeutschland, diemaken-machen-Linie, wird dieBenrather Linie genannt, da sie in der Nähe der Düsseldorfer VorstadtBenrath denRhein quert. Demgegenüber wird die Hauptgrenze zwischen Mittel- und OberdeutschlandSpeyerer Linie genannt. DieseIsoglosse quert den Rhein nahe der StadtSpeyer und ist damit etwa 200 km weiter südlich zu verorten als die Benrather Linie. Mitunter wird diese Linie auch dieAppel-Apfel-Linie genannt.
Jedoch ist eine genaue Beschreibung der geographischen Verteilung des Wandels viel komplexer. Im Rheinland und in der Pfalz gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen einem Gebietmit verschobenen Lauten und einem Gebietohne verschobene Laute. Vielmehr ist die Gültigkeit der potenziell möglichen Verschiebungen abhängig vom jeweiligen Laut(p, t, k) und teilweise sogar nur von dessen Position im Wort; in gewissen Fällen sind selbst nur Einzelwörter betroffen. So liegt beispielsweise dieik-ich-Linie weiter nördlich als diemaken-machen-Linie in Westdeutschland, stimmt mit ihr in Mitteldeutschland überein und liegt an ihrem östlichen Ende weiter südlich, obwohl beide die gleiche Verschiebung /k/ → /x/ anzeigen. Diese sich besonders deutlich im Westen fächerartig zergliederndenIsoglossen zwischen niederdeutscher beziehungsweise niederfränkischer Lautung und hochdeutscher Lautung nennt man denrheinischen Fächer.[19]
| Dialekte und Isoglossen desRheinischen Fächers (Absteigend von Norden nach Süden: Dialekte in den grau unterlegten Feldern, Isoglossen in den weißen Feldern)[20] | ||
| Isoglosse | Norden | Süden |
| Niederfränkisch (Niederländisch, Niederrheinisch) | ||
|---|---|---|
| Uerdinger Linie (Uerdingen) | ik | ich |
| Limburgisch | ||
| Benrather Linie (Grenze: Niederfränkisch – Mitteldeutsch) | maken | machen |
| Ripuarisch (Kölsch,Bönnsch,Öcher Platt) | ||
| Bad Honnefer Linie (StaatsgrenzeNRW-RP) (Eifel-Schranke) | Dorp | Dorf |
| Westmoselfränkisch (Eifler Mundart, Luxemburgisch, Trierisch) | ||
| Linzer Linie (Linz am Rhein) | tëschen, tëscht | zwëschen, zwëscht ‚zwischen‘ |
| Bad Hönninger Linie | op | of ‚auf‘ |
| Ostmoselfränkisch (Koblenzer Platt) | ||
| Bopparder Linie (Boppard) | Korf | Korb |
| Sankt Goarer Linie (Sankt Goar) (Hunsrück-Schranke) | dat | das |
| Rheinfränkisch (Hessisch, Pfälzisch) | ||
| Speyerer Linie (FlussMain) (Grenze: Mitteldeutsch – Oberdeutsch) | Appel | Apfel |
| Oberdeutsch | ||
Manche aus Phase 2 und 3 hervorgegangenen Konsonantenverschiebungen können auch imLangobardischen beobachtet werden. Die frühmittelalterliche germanische Sprache Norditaliens ist allerdings nur durch Runenfragmente sowie einzelne Namen und Wörter in lateinischen Texten aus dem späten 6. und 7. Jahrhundert bezeugt. Deshalb erlauben die langobardischen Quellen keine ausreichenden Nachweise. Daher ist es unsicher, ob diese Sprache die komplette Verschiebung oder nur sporadische Reflexe der Verschiebung aufwies. Doch ist die aus dem benachbartenAltbairischen bekannte Verschiebung b→p deutlich erkennbar. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Verschiebung in Italien begonnen oder aber dass sie sich nach Süden wie nach Norden gleichermaßen ausgebreitet hat. Ernst Schwarz und andere sind der Auffassung, dass die Verschiebung im Althochdeutschen aus dem Sprachkontakt mit dem Langobardischen hervorging. Wenn es wirklich eine Verbindung gibt, würde der Nachweis im Langobardischen darauf schließen lassen, dass die Phase 3 bereits im späten 6. Jahrhundert begonnen haben muss, also viel früher als bisher angenommen. Hingegen bedeutet dies nicht zwingend, dass sie sich schon damals im heutigen Deutschland verbreitet hatte.
Wenn, wie manche Wissenschaftler annehmen, das Langobardische eine ostgermanische Sprache und nicht Teil des deutschsprachigen Dialektraums war, ist es möglich, dass parallele Verschiebungen unabhängig im Deutschen und im Langobardischen stattgefunden haben. Die noch erhaltenen Wörter des Langobardischen zeigen jedoch klare Ähnlichkeiten zum Bairischen. Deshalb sind Werner Benz und andere der Auffassung, dass das Langobardische ein althochdeutscher Dialekt ist. Es bestanden enge Verbindungen zwischen den Langobarden und den Proto-Bayern: Die Langobarden waren bis 568 im „Tullnerfeld“ angesiedelt (etwa 50 km westlich von Wien); einige Gräber der Langobarden sind nach 568 angelegt worden; offenbar sind nicht alle Langobarden im Jahre 568 nach Italien gezogen. Die Verbliebenen scheinen Teil der sich neu formenden Gruppe derBajuwaren geworden zu sein.
AlsColumban (Missionar der Lombarden) kurz nach 600 zu den Alemannen am Bodensee kam, ließ er Fässer zerschlagen, diecupa genannt wurden (englischcup; deutsch Kufe). So berichtet esJonas von Bobbio (vor 650) in der Lombardei. Dies zeigt, dass zur Zeit Columbans die Verschiebung von p zu f weder imAlemannischen noch im Langobardischen stattgefunden hatte. DerEdictus Rothari (643; erhaltene Handschrift nach 650; siehe oben) aber belegt die Formengrabworf (‚einen Körper aus dem Grab werfen‘, deutsch Wurf und Grab),marhworf (‚ein Pferd, ahd.marh, wirft den Reiter ab‘) und viele andere Verschiebungsbeispiele.
Demnach ist es also am wahrscheinlichsten, die Konsonantenverschiebung als eine gemeinsame langobardisch-bairisch-alemannische Verschiebung der Jahre 620–640 anzusehen, als die drei Stämme enge Kontakte zueinander hatten.
Als Beispiel für die Folgen der Verschiebung kann man die folgenden Texte aus dem späten Mittelalter vergleichen. Die linke Seite zeigt einen mittelniederdeutschen Ausschnitt aus demSachsenspiegel (1220) ohne Lautverschiebung, die rechte Seite zeigt den Text aus dem mittelhochdeutschenDeutschenspiegel (1274), in dem die verschobenen Konsonanten zu erkennen sind. Beides sind verbreitete Rechtstexte dieser Periode.
| Sachsenspiegel (II,45,3) | Deutschenspiegel (Landrecht 283) | |
|---|---|---|
| De man is ok vormunde sines wives, to hant alse se eme getruwet is. Dat wif is ok des mannes notinne to hant alse se in sin bedde trit, na des mannes dode is se ledich van des mannes rechte. | Der man ist auch vormunt sînes wîbes zehant als si im getriuwet ist. Daz wîp ist auch des mannes genôzinne zehant als si an sîn bette trit nâch des mannes rechte. |
Die hochdeutsche Konsonantenverschiebung ist ein Beispiel einer Lautveränderung, die keine Ausnahmen zulässt, und wird daher häufig von den Junggrammatikern als solche angeführt. Jedoch bezieht das moderne Standarddeutsch, obwohl auf dem Mitteldeutschen basierend, sein Vokabular aus allen deutschen Dialekten. Wenn ein ursprüngliches deutsches Wort (im Gegensatz zu einem Lehnwort) von der Verschiebung nicht betroffene Konsonanten enthält, werden sie gewöhnlicherweise als niederdeutsche Formen erklärt.
Entweder kam die verschobene Form außer Gebrauch, wie bei:
oder die zwei Formen existierten Seite an Seite, wie in:
Jedoch ist hierbei eine weitere Gruppe von Wörtern mit anlautendemp zu beachten, die nicht etwa aus dem Niederdeutschen, sondern demOberdeutschen stammen bzw. eine Schreibkonvention deroberdeutschen Schreibsprache bewahren (das ist auch der Grund, warum viele Orts- und Personennamen in Bayern und Österreich anlautendesp haben, z. B.Pichler, Pointner, Kreuzpaintner, Puchheim, Penning, Ruhpolding):
Die überwiegende Mehrheit von Wörtern im Gegenwartsdeutsch, die bestimmte Muster von Konsonanten enthalten, die bei der Verschiebung beseitigt worden waren, sind jedoch aus dem Lateinischen, den romanischen Sprachen, dem Englischen oder den slawischen Sprachen entlehnt: