Vokativ
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UnterVokativ (auchAnredefall oderAnredeform) versteht man gemeinhin eine spezielle Form einesNomens, zumeist einesSubstantivs, die gebraucht wird, um denAdressaten einer sprachlichen Äußerung direkt anzureden oder anzurufen. Der Vokativ wird manchmal nicht alsKasus im grammatischen Sinne angesehen, weil er nicht alsSatzglied fungiert, sondern alsAnruf- und Anredeform des Nomens, die allerdings in manchen Sprachen oberflächlich wie ein Kasus aussehen kann. Eine solche kasusähnliche Vokativform gab es sehr wahrscheinlich imUr-Indogermanischen, welche bis heute in einigen Nachfolgesprachen Europas und desindoiranischen Sprachraums erhalten ist.
Definitorisches
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]„Der Anruf ist ein Hinweis auf eine zweite Person mit dem Zweck einer von dem Angerufenen selbst zu erschließenden Aufforderung. Seine charakteristische Kasusform ist der Vokativ.“
Der Vokativ wird in der deutschsprachigenSprachwissenschaft, in den europäischenPhilologien und in derIndogermanistik üblicherweise alsKasus aufgefasst und als solcher in der Formenlehre (Morphologie) verortet; in der angelsächsischen Sprachwissenschaft dagegen wird „vocative“ häufig alsPhrase verstanden und fällt damit in das Teilgebiet derSyntax. Diese unterschiedlichen Definitionen führen oft zu Missverständnissen. Dieser Artikel baut, der deutschsprachigen undindogermanistischen Tradition folgend, indessen auf der Definition des Vokativs alsAnruf- und Anredeform des Nomens auf.Die Vokativphrase wird weiter unten erläutert.
Vokativ als Kasus
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Der Vokativ wird in den Grammatiken derklassischen Sprachen zu den Fällen(Kasus) gezählt. Dies liegt darin begründet, dass er vor allem auf der Oberfläche wie ein Fall aussieht; man vergleiche die Deklinationsmuster des Wortes fürWolf in den miteinandern verwandten klassischen Sprachen Latein, Altgriechisch, Sanskrit und der mit diesen vermutlich nicht verwandtenKaukasussprache Georgisch:
Latein | Altgriechisch | Sanskrit | Georgisch | |
---|---|---|---|---|
Nominativ | lup-us | lýk-os | vṛk-aḥ | mgel-i |
Ergativ | mgel-ma | |||
Akkusativ | lup-um | lýk-on | vṛk-an | |
Genitiv | lup-ī | lýk-ou | vṛk-asya | mgel-is |
Dativ | lup-ō | lýk-ō(i) | vṛk-āya | mgel-s |
Instrumental | vṛk-eṇa | mgel-it | ||
Ablativ | lup-ō | vṛk-āt | ||
Lokativ | vṛk-e | |||
Adverbialis | mgel-ad | |||
Vokativ | lup-e! | lýk-e! | vṛk-a! | mgel-o! |
Funktion des Vokativs
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Der Vokativ sieht also zwar aus wie ein Fall, er hat jedoch eine andere Funktion als die übrigen Fälle. Während Nominativ, Genitiv und die anderen Fälle dazu dienen, dieSyntax, also den Satzaufbau einer Sprache zu gestalten, und das jeweilige Verhältnis zweier sprachlicherDenotate zueinander zum Ausdruck bringen, steht ein Nomen im Vokativ außerhalb des Satzes. Ein Vokativ dient – vereinfacht gesagt – dazu, den Kontakt zwischen Sprecher und angesprochener Person herzustellen (Anruf) oder aufrechtzuerhalten (Anrede).
Vokativbildung in den indogermanischen Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Der indogermanische Vokativ, der sich für gewöhnlich auf denSingular beschränkt, sei am Beispiel des Wortes für „Wolf“ illustriert, einem typischen maskulineno-Stamm:
Nominativ | Vokativ | |
---|---|---|
Urindogermanisch | *wl̥kʷ=o-s | *wl̥kʷ=e! |
Altindisch | vr̥k=a-s | vr̥k=a! |
Altgriechisch | lýk=o-s | lýk=e! |
Latein | lup=u-s | lup=e! |
Gotisch | wulf-s | wulf! |
Altkirchenslavisch | vlьk=ъ | vlьč=e! |
Litauisch | vilk=a-s | vilk=e! |
Erklärung zur Notation: Der sog.Themavokal wird vom jeweiligen Wortstamm mittels Gleichheitszeichen (=) getrennt, die eigentliche Kasusendung (im Nominativ zumeist -s) mittels Bindestrich. Nullendungen werden nicht angegeben. Der Stern (*) vor den urindogermanischen Wörtern bedeutet, dass es sich um hypothetische Wortrekonstruktionen handelt, die nicht durch schriftliche Quellen belegt sind.
Zwei morphologische Phänomene lassen sich beschreiben:
- Vermutlich bereits im Urindogermanischen wurde das Wortbildungssuffix-o- im Vokativ zu-e-abgelautet. Dieser Vokalwechsel hält sich auch in den wichtigsten Nachfolgesprachen, wenngleich-o- teilweise verändert wird.
- Das typische Kasussuffix für den Nominativ war-s. Der Vokativ selbst war in der Regel ohne Suffix, woran sich bereits seine Ausnahmestellung im Kasussystem erkennen lässt.
Entwicklung des Vokativs in den indogermanischen Sprachzweigen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In einigen indogermanischen Sprachzweigen ist der Vokativ außer Gebrauch geraten und seine Form darum verschwunden, in anderen dagegen ist er erhalten und wird bis heute verwendet. Einige Sprachen haben außerdem neue Vokativformen ausgebildet. Eine Übersicht:
Sprachfamilie | Vokativ bewahrt | maskuliner Vokativ erhalten, femininer Vokativ verschwunden | Vokativ völlig verschwunden | Vokativ neu gebildet |
---|---|---|---|---|
Baltische Sprachen: | Litauisch | Lettisch | ||
Germanische Sprachen: | Ostgermanisch (Gotisch) | Westgermanisch (Englisch, Niederländisch, Friesisch) Nordgermanisch (Dänisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch) | ||
Keltische Sprachen | Bretonisch | Gälisch,Walisisch | ||
Italische Sprachen: | Lateinisch | |||
Romanische Sprachen: | Portugiesisch, Spanisch, Katalanisch, Provenzalisch, Französisch, Rätoromanisch, Italienisch | Rumänisch | ||
Slawische Sprachen: | Bulgarisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Polnisch, Tschechisch, Ukrainisch | Obersorbisch | Niedersorbisch, Slowakisch, Slowenisch, Belarussisch | Russisch |
Indoiranische Sprachen: | Kurdisch | Hindi/Urdu | Persisch (Dari, Farsi) | |
Andere Sprachen: | Neugriechisch | Armenisch | Albanisch |
Griechisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]ImGriechischen ist der Vokativ Singular häufiger vom Nominativ verschieden, der Vokativ Plural ist aber immer identisch mit dem Nominativ Plural.
Altgriechisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Nominativ | Vokativ | Übersetzung | Anmerkungen | ||
---|---|---|---|---|---|
Maskulina | o-Stämme | lýkos (λύκος) | lýke! (λύκε) | Wolf | |
i-Stämme | óphis | óphi! | Schlange | ||
u-Stämme | hyiýs | hyiý! | Sohn | Nur imattischen Dialekt, sonst zum o-Stamm umgeformt:hyiós – hyié! | |
n-Stämme | kýōn (κύων) | kýon! (κύον) | Hund | ||
nt-Stämme | gérōn (γέρων) | géron! (γέρον) | Greis | ||
r-Stämme | patḗr (πατήρ) | páter! (πάτερ) | Vater | ||
ā-Stämme | polítēs (πολίτης) | políta! | Bürger | ||
Feminina | ā-Stämme | nýmphē (νύμφη) | nýmpha! (νύμφᾰ) | Mädchen | nur episch, in anderen DialektenSynkretismus mit dem Nominativ:nýmphē! |
Konsonantenstämme | nýx | nýx! | Nacht | ||
Besonderheiten | gynḗ | gýnai! | Frau | vereinzelte Form, vermutlich aus demobliquen Stammgýnaik- gebildet mit Abfall von-k |
Bei Maskulina der ā-Deklination fällt das End-s (-ς) der Endungen-ēs (-ης) bzw.-as (-ας) weg; wenn der Endung-ēs (-ης) eint (τ) vorangeht (-tēs, -της), ist die Endung-tă (-τᾰ). Beispiele: Nom.tamias (ταμίας), „Verwalter, Schatzmeister“ > Vok.tamia! (ταμία); Nom.bouleutēs (βουλευτής), „Ratsmitglied“ > Vok.bouleuta! (βουλευτά).
In der 3. Deklination entspricht der Vokativ fast immer dem Nominativ, es können aber Akzentverschiebungen oder Quantitätswechsel auftreten.
Neugriechisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]DasNeugriechische führt die Vokativformen für Feminina nicht fort und hat auch die Zahl der maskulinen Deklinationsklassen stark reduziert: Im Prinzip endet im Neugriechischen heute jedes Maskulinum auf Sigma (-s); so wurde deraltgriechische Nom.Sg.πατήρpatér umgeformt zuπατέραςpatéras. Dieses Sigma wiederum fehlt durchgehend in den neugriechischen Vokativformen. Eine Übersicht:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Maskulina auf -os: | kýrios | kýrie! | Herr |
géros | géro! | Greis | |
Maskulina auf -as: | patéras | patéra! | Vater |
Maskulina auf -us: | pappoús | pappoú! | Opa |
Maskulina auf -ís: | polítis | políti! políta! (archaisch) | Bürger |
Bei zweisilbigen männlichen Namen auf-os (z. B.Giorgos) sowie mehrsilbigen zusammengesetzten Namen, deren zweiter Bestandteil ein zweisilbiger Name ist (z. B.Karakitsos auskara +Kitsos), lautet der Vokativ niemals auf-e, sondern stets auf-o.Bei Nomina auf-tis (-της) endet der Vokativ auf-ti (-τη). Die archaische Form mit der Endung-ta (-τα) kann im gehobenen Sprachniveau sowie unter älteren oder konservativen Sprechern auch benutzt werden (sieheKatharevousa) oder zur scherzhaften Parodie dieser Sprachform dienen.
Lateinisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]ImLateinischen ist der Vokativ fast immer mit demNominativ identisch. Als Fall mit unterscheidbarer Form erscheint er unter anderem bei den (allerdings recht häufigen) maskulinen Wörtern der o-Deklination, die im Nominativ auf-us enden. In diesem Fall wird aus der Nominativendung (im Singular)-us im Vokativ die Endung-e (z. B.Brutus →Brute!,Christus →Christe!). Eine Ausnahme bilden im Nominativ auf-ius endende Wörter sowie bestimmte Formen desPossessivpronomens: erstere enden im Vokativ auf-ī, letztere haben eigene Formen (z. B.Claudia clamat: „Consule tibi, mi fili!“ – Claudia ruft: „Sorge für dich, mein Sohn!“). Griechische Namen auf -ēs und -ās bilden einen Vokativ auf -ē bzw. -ā:Orestē! (auchOresta!, zuOrestēs),Aenēā! (zuAenēās, NebenformAenēa),Amyntā! (zuAmyntās). Unregelmäßige Vokative sindHercle! für Hercules undJesu! für Jesus, letzteres ist der griechische Vokativ.
Legendär ist die Ansprache desAugustus zum abgeschlagenen Kopf des SchlachtenverlierersVarus:„Quinctili Vare, redde legiones!“ – „Quinctilius Varus, gib [mir] die Legionen zurück!“
Romanische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Rumänisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Das Rumänische hat als einzige romanische Standardsprache den Vokativ für Maskulina auf-e aus dem Lateinischen bewahrt und darüber hinaus Vokativformen auf-ule entwickelt; zudem kennt es heute einen Vokativ für Feminina auf-o, welcher vermutlich durchSprachkontakt entweder aus der benachbartenSlavia oder aus demAlbanischenentlehnt worden ist. Es gibt jedoch auch einige Substantive, die keine vom Nominativ unterschiedliche Vokativform ausgebildet haben, v. a. solche auf-e:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Maskulina | bărbat | bărbate! | Mann |
soț | soțulе! | Ehemann | |
frate | frate! | Bruder | |
Feminina | soră | sorо! | Schwester |
femeie | femeio! | Frau | |
soție | soție! | Ehefrau |
Eine weitere Besonderheit des Rumänischen besteht in der Herausbildung von Vokativformen im Plural. Diese Formen stimmen, anders als die entsprechenden Singularformen, allerdings mit einer anderen Kasusform überein, nämlich demCasus obliquus im Plural, der in der rumänischen Sprachwissenschaft häufigGenitiv-Dativ genannt wird. Man vergleiche:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Maskulina | bărbați | bărbaților! | Männer |
frați | fraților! | Brüder | |
Feminina | fete | fetelor! | Mädchen |
soții | soțiilor! | Ehefrauen |
Der Gebrauch des Vokativs Plural ist jedoch nicht zwingend; auch ein Gebrauch des Nominativs für die Anrede ist möglich.
Baltische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Beide lebende Sprachen des baltischen Sprachzweigs zeigen bis heute Vokativformen, und auch die ausgestorbenealtpreußische Sprache kannte solche.
Litauisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die litauische Sprache hat den Vokativ aus derindogermanischen Ursprache nicht nur erhalten, sondern weiter ausdifferenziert, und zeigt von allen europäischen Sprachen darum die größte Vielfalt an Vokativformen:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | ||
---|---|---|---|---|
Maskulina | o-Stämme | vilkas | vilke! | Wolf |
jo-Stämme | vėjas | vėjau! | Wind | |
jo-Stämme | brolis | broli! | Bruder | |
i-Stämme | vagis | vagie! | Dieb | |
u-Stämme | žmogus | žmogau! | Mensch | |
n-Stämme | šuo | šunie! | Hund | |
Feminina | a-Stämme | tautà | táuta! | Volk |
e-Stämme | katė | kate! | Katze | |
i-Stämme | žuvis | žuvie! | Fisch | |
r-Stämme | duktė | dukterie! | Tochter |
Lettisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In der lettischen Sprache ist der Vokativ zwar für die meisten Substantive vom Nominativ verschieden, aber weniger üblich als im Litauischen und wird v. a. bei den Feminina durch den Nominativ ersetzt.
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | ||
---|---|---|---|---|
Maskulina | o-Stämme | vilks | vilk! | Wolf |
jo-Stämme | vējš | vēj! | Wind | |
jo-Stämme | brālis | brāli! | Bruder | |
u-Stämme | tirgus | tirgu(s)! | Markt | |
n-Stämme | suns | suns! | Hund | |
Feminina | ā-Stämme | tauta | tauta! | Volk |
e-Stämme | kundze | kundz(e)! | Dame | |
i-Stämme | zivs | zivs! | Fisch |
Keltische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Für dasUrkeltische, das uns nicht überliefert ist, können Vokativformen rekonstruiert werden. Jedenfalls kennt die älteste belegtekeltische Sprache, dasGallische, durchaus Vokativformen auf -e für o-stämmige Substantive:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Urkeltisch (~ 500 v. Chr.) | *makwos | *makwe! | Sohn |
Gallisch (~ 0 Chr.) | mapos | mape! | Sohn |
Gälisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Sowohl in deririschen als auch in derschottischen Varietät der gälischen Sprachen hat sich der Vokativ bis heute erhalten, jedoch in seiner Gestalt stark verändert. Er tritt nur bei Maskulina der o-Deklination auf. In den frühesten Belegen des Irischen (also in denOgham-Inschriften) war die Nominativendung der o-Deklination(-os) bereits geschwunden, und ebenso die Vokativ-Endung-e, jedoch kam es durch diese zu einemUmlaut des Stammvokals a > i. Außerdem tritt schließlich eineVokativpartikel vor das Substantiv, die zu einer Lenierung des Anlauts m > mh [v] führt. Man vergleiche das Wort fürSohn in mehreren Stadien des Gälischen:
Nominativ | Vokativ | |
---|---|---|
Urgälisch (~ 0 Chr.) | *makkwos | *makkwe! |
Ogham-Irisch (~ 200–700 n. Chr.) | macc | *micc! |
Alt- u.Mittelirisch (~ 700–1200 n. Chr.) | mac | a mhic! |
Neuirisch (bis heute) | mac | (a) mhic! |
Im Plural der 1. Deklination tritt zudem gelegentlich die Endung-a im Vokativ auf:fir (Männer) –a fheara! (Männer!)
Britannische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Walisisch kennt bis heute Vokativformen. Deren Entwicklung ist vermutlich ähnlich verlaufen wie im Gälischen, allerdings ist die Partikela, die den Anlaut leniert (m >f), nicht mehr erhalten. Eine Umlautung des Stammvokals durch die ursprüngliche Endung-e hat nicht stattgefunden:
Nominativ | Vokativ | |
---|---|---|
Urbritannisch (> 500 n. Chr.) | *mapos | *mape! |
Altkymrisch (~ 800–1200 n. Chr.) | *mab | *a mhab! |
Neukymrisch (Walisisch) (bis heute) | mab | fab! |
DasBretonische hat vermutlich die gleiche Entwicklung durchgemacht, jedoch sind die Vokativformen mittlerweile außer Gebrauch:
Nominativ | Vokativ | |
---|---|---|
Bretonisch (heute) | mab | mab! |
Slawische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Gebrauch des Vokativs in der Slavia
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die nicht belegteurslawische Sprache und das seit dem Mittelalter belegteAltkirchenslawische haben den indogermanischen Vokativ fortgeführt und formenreich ausgebaut; viele dieser Formen leben in den heutigen slawischen Sprachen fort, darunter imTschechischen,Polnischen,Obersorbischen,Bulgarischen,Mazedonischen,Ukrainischen, in den nationalen Varietäten derserbokroatischen Sprache (Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch) und in den Dialekten desSlowakischen.
Vokativ in der Standardsprache | Vokativ im Substandard (Dialekte) | Vokativ verschwunden |
---|---|---|
|
|
|
Slawische Vokativformen im Vergleich
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Anders als im Lateinischen ist der Vokativ in den betreffenden slawischen Sprachen gut erhalten und nahezu immer vomNominativ verschieden.Es folgt ein Überblick über den Formenbestand der slavischen Sprachen im Vergleich zu den rekonstruierten (und darum mit Asterisk versehenen) Formen desUrslawischen. Dabei sind Formen, die sich nichtlautgesetzlich aus dem Urslawischen in die Tochtersprachen entwickelt haben, sondern durchAnalogie entstanden sind,orange markiert. Lautgesetzlicher bedingter Vokalwandel u > i (nur im Tschechischen) ist dagegengrün markiert.
- Maskulina:
o-Stämme (‚Volk‘) | o-Stämme (‚Wolf‘) | jo-Stämme (‚Mann‘) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | |
Urslawisch | *narodъ | *narode! | *vьlkъ | *vьlče! | *mǫžь | *mǫžu! |
Tschechisch | národ | národe! | vlk | vlku! | muž | muži! |
Polnisch | naród | narodzie! | wilk | wilku! | mąż | mężu! |
Ukrainisch | narod | narode! | vovk | vovče! | muž | muže! |
Serbokroatisch | narod | narode! | vuk | vuče! | muž | mužu! |
Bulgarisch | narod | narode! | vъlk | vъlko! | mъž | mъžo! |
o-Stämme (‚Opa‘) | u-Stämme (‚Sohn‘) | jo-Stämme (‚Pferd‘) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | |
Urslawisch | *dědъ | *děde! | *synъ | *synu! | *konjь | *konju! |
Tschechisch | děd | děde! | syn | syne! | kůň | koni! |
Polnisch | dziad | dziadu! | syn | synu! | koń | koniu! |
Ukrainisch | did | didu! | syn | synu! | kin’ | konju! |
Serbokroatisch | djed | djede! | sin | sine! | konj | konju! |
Bulgarisch | djado | djado! | sin | sine! | kon | konjo! |
- Femina:
a-Stämme (‚Frau‘) | ja-Stämme (‚Seele‘) | ja-Stämme (‚Erde‘) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | |
Urslawisch | *žena | *ženo! | *duša | *duše! | *zemja | *zemje! |
Tschechisch | žena | ženo! | duše | duše! | země | země! |
Polnisch | żona | żono! | dusza | duszo! | ziemia | ziemio! |
Ukrainisch | žona | žono! | duša | dušo! | zemlja | zemle! |
Serbokroatisch | žena | ženo! | duša | dušo! | zemlja | zemljo! |
Bulgarisch | žena | ženo! | duša | dušo! | zemja | zemjo! |
ja-Stämme (‚Mädchen‘) | i-Stämme (‚Nacht‘) | ū-Stämme (‚Blut‘) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | |
Urslawisch | *děvica | *děvice! | *noťь | *noťi! | *kry | *kry! |
Tschechisch | čarodějnice (‚Zauberin‘) | čarodějnice! | noc | noci! | krev | krvi! |
Polnisch | zakonnica (‚Nonne‘) | zakonnico! | noc | nocy! | krew | krwio! |
Ukrainisch | bludnycja (‚Hure‘) | bludnyce! | nič | noče! | krov | krove! |
Serbokroatisch | djevica | djevice! | noć | noći! | krv | krvi! |
Bulgarisch | devica | device! | nošt | nošt! | krъv | krъv! |
Tschechisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Von allen slawischen Sprachen hat dasTschechische den Vokativ am besten für die meisten Substantive bewahrt, und ihn außerdem grammatikalisiert: Die Anrede im Vokativ ist die einzig mögliche, die Anrede im Nominativ ungrammatisch.[2]
Polnisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Hier einige Beispiele für die Bildung des Vokativ (poln.wołacz) imPolnischen:
Nominativ | Vokativ |
---|---|
Pani Ewa (Frau Eva) | Pani Ewo! (Frau Eva! ) |
Pan profesor (Herr Professor) | Panie profesorze! (Herr Professor! ) |
Krzysztof (Christoph) | Krzysztofie! (Christoph! ) |
Krzyś (Koseform vonKrzysztof) | Krzysiu! |
Ewusia (Koseform vonEwa) | Ewusiu! |
Marek (Markus) | Marku! |
Bóg (Gott) | Boże! (O Gott! ) |
Wenn die Person mit ihrem Namen angesprochen wird, benutzt man oft einfach den Nominativ. Die Verwendung des Vokativs klingt heutzutage gehoben oder respektvoll. Beispiel: „Paweł, …“ („Paul, …“) wäre die normale Alltagsanrede, während „Pawle, …“ höflich bzw. respektvoll klingt.
Russisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Auch im Russischen haben sich Reste des Vokativs – in ihrer isolierten Form als Ausdruck besonderen Respekts – erhalten. Beispiel:Бог (Bog, Nom.) –Боже (Bože, Vok.). Verwendung:Боже мой! (Bože moj!) – Mein Gott! Zudem gibt es in der Umgangssprache regelhafte Formen für Namen, die auf a bzw. я enden:Таня (Tanja, Nom.) –Тань (Tan’, Vok.),Наташа (Natascha, Nom.) –Наташ (Natasch, Vok.).[3]
Sorbisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Das in derLausitz gesprochene Obersorbische besitzt ebenfalls einen Vokativ. Dieser trittparadigmatisch nur bei männlichen Substantiven auf. Meistfrequentiert ist hierbei die Endung -o, doch tritt bisweilen auch -je auf:
muž 'Mann' –mužo!
dźěd 'Opa' –dźědo!
Pětr (Name) –Pětrje!
Von den Feminina hat nur ein Wort eine vom Nominativ verschiedene Vokativform:mać 'Mutter' –maći!
Bulgarisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Im Bulgarischen wird der Vokativ üblicherweise nur bei einer gewissen Vertrautheit der Gesprächspartner, also im Freundes- und Familienkreis verwendet. Obwohl es völlig üblich ist, auch weibliche, Personen bezeichnendeNomina wie z. B. Mama (мама (Nom.) –мамо (Vok.)) in den Vokativ zu setzen, wird hingegen das Setzen weiblicherVornamen in den Vokativ als grob und unhöflich bzw. sehr ordinär angesehen (z. B. DanielaДаниела (Nom.) –Даниело* (Vok.; Achtung – beleidigend![4])).
Belarussisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]ImBelarussischen wird der Vokativ überwiegend in den südlichen und westlichen Dialekten verwendet. Man vergleiche:
Maskulina | Feminina | |||
---|---|---|---|---|
Nominativ | дзед_ | сябар_ | баб-а | мам-а |
Vokativ | дзед-у! | сяб_р-а | баб-о! | мам-о! |
Übersetzung | Opa | Freund | Oma | Mama |
Iranische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Von deniranischen Sprachen haben vor allem jene Vokativformen bewahrt (oder neu ausgebildet), welche erst unzureichend schriftlichstandardisiert sind, nämlich diekurdischen Dialekte undPaschtunisch. Darum ist mit einer gewissen dialektalen Vielfalt zu rechnen.
Kurdisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]ImKurmandschi-Dialekt desKurdischen wird der Vokativ mit der Endung-o bei Maskulina und-ê bei Feminina markiert. Beispiele:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Maskulin | mêrik | mêriko! | Mann |
Feminin | jinik | jinikê! | Frau |
Viele arabische Namen, die das Kurdische übernommen hat, werden abgekürzt, sodass im Allgemeinen kurdische Frauennamen (im Nominativ wie auch im Vokativ) auf -ê und die Männernamen auf -o enden.
Beispiele für Männernamen:Mostafa > Misto, Mahmud > Maho, Sayyid > Sayo.
Beispiele für Frauennamen:Zaynab > Zaynê, Fatima > Fattê.
Paschtunisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Diepaschtunische Sprache kennt ebenfalls für Maskulina wie für Feminina Vokativformen. Bei den Maskulina allerdings ist die Vokativform identisch mit demObliquus II genannten Objektkasus:
Nominativ | Obliquus I | Obliquus II | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|---|---|
Maskulin | wrorورور | wrorورور | wroraوروره | wrora!وروره | Bruder |
Feminin | xorخور | xorخور | xore | xore!خورې | Schwester |
Indische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Altindisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die altindischen SprachenSanskrit undPali sowie deren ältere Stufe, dasVedische, kennen Vokativformen für fast alle Substantive – als einziger Zweig des Indogermanischen sogar einige mittelsAnalogie entstandene Formen für Neutra:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | Bemerkungen zu unregelmäßigen Entwicklungen | ||
---|---|---|---|---|---|
Maskulina | o-Stämme | vṛkaḥ | vṛka! | 'Wolf' | |
u-Stämme | śatruḥ | śatro! | 'Feind' | gleiches Muster für feminine u-Stämme | |
i-Stämme | agniḥ | agne! | 'Feuer' | gleiches Muster für feminine i-Stämme | |
r-Stämme | pitā́ | pita! | 'Vater' | ||
n-Stämme | rājā | rājan! | 'König' | ||
Feminina | ā-Stämme | kanyā | kanye! | 'Mädchen' | Analogie zu den maskulinen i-Stämmen |
ū-Stämme | vadhūh | vadhu! | 'Frau' | ||
ī-Stämme | strīḥ | stri! | 'Weib' | ||
Neutra | o-Stämme | rūpam | rūpa! | 'Körper' | Analogie zu den maskulinen o-Stämmen |
u-Stämme | madhu | madhu! | 'Honig' | selten Analogie zu den maskulinen u-Stämmen:madho! | |
i-Stämme | vāri | vāri! | 'Körper' | selten Analogie zu den maskulinen i-Stämmen:vāre! |
Hindi
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Der Vokativ ist im Hindi im Singular gleich demObliquus Singular. Im Plural ist er gleich dem Obliquus Plural ohne die Nasalierung (-o statt -õ). Damit ergeben sich vom Nominativ abweichende Endungen für die Maskulina auf -ā und im Plural:
Singular | Plural | Übersetzung | |||
---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | ||
Maskulin auf -ā | laṛkā | laṛke! | laṛke | laṛko! | 'Junge' |
Maskulin nicht auf -ā und Ausnahmen | guru | guru! | guru | guruo! | 'Lehrmeister' |
Feminin auf -ī | laṛkī | laṛkī! | laṛkiyã | laṛkiyo! | 'Mädchen' |
Feminin nicht auf -ī | bahū | bahū! | bahuẽ | bahuo! | 'Schwiegertochter' |
Romani
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die vom Altindischen abstammende SpracheRomani hat die indogermanischen Vokativmuster teils bewahrt, teils weiterentwickelt. Für den Plural hat es eine spezielle Form auf-le entwickelt:
Singular | Plural | Übersetzung | |||
---|---|---|---|---|---|
Nominativ | Vokativ | Nominativ | Vokativ | ||
Maskulin | phral | phrála! | phralá | phralále! | 'Bruder' |
Feminin | phen | phéne! phéno! | phenjá | phenjále! | 'Schwester' |
Singhalesisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Auch diesinghalesische Sprache kennt Vokativformen für Singular wie für Plural:
Nominativ | Vokativ | Übersetzung | |
---|---|---|---|
Singular | miniha | miniho! | 'Mann' |
Plural | minissu | minissune! | 'Männer' |
Vokativphrase
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Auch Sprachen, welche keinen morphologischen Vokativ aufweisen, könnenVokativphrasen ausbilden, welche sich von anderenNominalphrasen durch folgende Kriterien unterscheiden:
- Ein in der Anrede verwendetes Nomen fungiert alsIndex und wird daher nicht grammatischdeterminiert.
- Zum Nomen der Anrede können sichVokativpartikeln gesellen, welche die Adressatenrolle festlegen.
Artikellosigkeit
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die Vokativphrase ist in den meistenArtikelsprachen durch Abwesenheit jeglichen Artikels gekennzeichnet, im weiteren Sinne ist sie also eine Nominalphrase ohneDeterminativ. Die erste indogermanische Sprache, die einen bestimmtenArtikel ausbildete, war Griechisch (und zwar bereits etwa 800 v. Chr.). Unter antiken Grammatikern galt jedoch die Vokativpartikel ὦ (siehe oben) als Vokativartikel; diese Sichtweise ist heute nicht mehr üblich. Die griechische Vokativphrase wird also durch Artikellosigkeit gekennzeichnet. Im Laufe ihrer Entwicklung bilden auch diegermanischen,keltischen undromanischen Sprachen Artikel aus, sodass sich ein analoges Muster für deren Vokativphrasen ergibt.
Deutsch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Dies ist etwa im Deutschen der Fall, wo im Vokativ kein Artikel gesetzt wird: Da einAppellativum wie zum BeispielGast alsSatzglied für gewöhnlich nicht ohne Artikel steht (außer nachals), ergibt sich aus der artikellosen Verwendung eine Vokativphrase, welche üblicherweise mit einem Adjektivattribut angereichert wird. Dieses Attribut begleitet das Kopfnomen stets in seiner unbestimmten Form:
Lieber Gast, setz dich!Setz dich, lieber Gast!NICHT: *Lieber Gast setzt sich.
In der süddeutschen Umgangssprache und in denoberdeutschen Dialekten ist diese Art der Vokativphrase geläufiger, da hier auch Eigennamen von Personen in derNominalphrase einenproprialen Artikel mit sich führen (der wie ein bestimmter Artikel aussieht, aber keine semantische Funktion hat):
Das istder Peter.NICHT: *Das ist Peter.ABER:Lieber Peter!
Vokativpartikeln
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Einige Sprachen verwendenVokativpartikeln, welche im Anruf meistens dem Substantiv vorangestellt werden. Hierzu gehören etwaArabisch,Altgriechisch undAlbanisch.
Deutsch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Eine mögliche, jedoch keineswegs obligatorische Vokativpartikel im Deutschen ist das literarische "o". Demnach ist der Vokativ zuVater „o Vater!“, zuTochter „o Tochter!“ usw. Dieses "o" wurde aus demAltgriechischen, wo die Partikel ὦ (ō) lautet, ins Deutsche und andere europäische Sprachen entlehnt.
Arabisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Sehr bekannt und häufig verwendet ist dieVokativpartikelyā in der arabischen Sprache, z. B. inyā rajul!. Diese Partikel kann sowohlkonativ, also auffordernd, eingesetzt werden (etwa deutsch: ‘(h)ey Mann!’) als auchhonorifikativ, also ehrerbietend (vgl. deutsch (nach griechischem Muster): ‘o Mann!’).[5]
Hebräisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Auch in derneuhebräischen Umgangssprache wird die arabische Vokativpartikelya verwendet, vermutlich in Folge intensiven Kontaktes beider Sprachen.
Altgriechisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die altgriechische Anrede wurde häufig von der Vokativpartikelὦ begleitet, z. B.ὦ Σώκρατες! ‚o Sokrates!‘. Ein Fehlen derselben ist ein Zeichen sachlicher Kühle oder gar Geringschätzung:„Akoueis, Aischinē?“ „Ἀκούεις, Αἰσχίνη;“ „Hörst du, Aischines?“ fragt etwaDemosthenes seinen verhassten Gegner. Diese Partikel wurde auch im Lateinischen verwendet, allerdings nur dann, wenn der Eindruck entstehen sollte, man lehne sich an die griechische Sprache an. Über das Lateinische gelangte diese Partikel auch in die deutscheHochsprache, findet dort – ebenso wie im Neugriechischen – jedoch nur noch selten Verwendung.
Neugriechisch und die Balkansprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In der neugriechischen Sprache ist aus dem Vokativ des Wortesμωρόςmōrós, welches so viel wie „Dummkopf“ bedeutet, einePartikel entstanden, welche ihre abwertende Bedeutung verloren hat und deshalb imNeugriechischen häufig zur informellen Anrede verwendet wird:μωρέ!mōré!.
Daneben existiert eine weitere Partikelβρεvre gleichen Ursprungs, die aus der Kontraktion vonmoré zumre entstanden ist.
Beide Partikeln wurden in die anderen Sprachen desBalkansprachbunds, welche von der griechischen Sprache stark beeinflusst wurden, entlehnt: Albanischbre undmore, bulgarischbe undmore, rumänisch, serbisch und türkischbre dienen jeweils der familiären, informellen Anrede, vergleichbar dem jugendsprachlichen deutscheney oderAlter.
Besonders interessant verhält sich diese Partikel in dermazedonischen Sprache, wo sie sich in zwei Formen aufgespalten hat: für die Anrede an eine männliche Person lautet siemore, an eine weibliche Person dagegenmori.
Albanisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Dagegen ist die Partikelo im Albanischen sehr geläufig und wird häufig mit Anrufen und Anreden verbunden. Das Besondere an der albanischen Partikel ist, dass sie nicht zwingend vor dem Substantiv steht, sondern auch gelegentlich dahinter. In diesem Falle ersetzt sie das für die Anrede im Albanischen üblicheDefinitheitssuffix:
Maskulinum | Femininum | |
---|---|---|
Nominativ (ohne Definitheitssuffix): | çun | vajzё |
Vokativ mit Definitheitssuffix und Partikel: | o çun-i! | o vajz-a! |
Vokativ mit suffigierter Partikel: | çun-o! | vajz-o! |
Übersetzung: | Bursche | Mädchen |
Kurdisch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Im kurmandschi Dialekt des Kurdischen (vgl. oben) kann der Vokativ auch ohne Suffix mit Hilfe eigenständiger Wörter (sog. Partikeln) gebildet werden, die sich je nach Geschlecht der angesprochenen Person unterscheiden:
Name | Suffigierter Vokativ | Vokativ mit Partikel |
---|---|---|
Azad (m) | Azad-o! | lo Azad! |
Bêrîvan (f) | Bêrîvan-ê! | lê Bêrîvan! |
Prädikative Anrede
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die prädikative Anrede unterscheidet sich von der Vokativphrase dadurch, dass sie den Adressaten durch ein evaluatives, also wertendes Nomen, beschreibt (der Adressat erhält also ein Prädikat). In der deutschen Sprache ist die prädikative Anrede von der Vokativphrase dadurch zu unterscheiden, dass sie ein Pronomen der 2. Person alsDeiktikon enthalten kann, aber nicht muss:
- (du) Depp!,(du) Genie!,(du) Schlampe!
- (ihr) Arschlöcher!,(ihr) Helden!
- (Sie) Engel!,(Sie) Schnösel!
Dies ist in der Vokativphrase nicht möglich; das deiktische Pronomen wird hier intonarisch von der eigentlichen Phrase abgegrenzt:
- (du,) Schatz!
- (Sie,) Frau Müller!
Die Aussage ist denn auch eine völlig andere: Die prädikative Anrededu Schatz! soll jemanden alsSchatz, also als wertvollen oder lieben Menschen, charakterisieren. In der Vokativphrase(du,) Schatz! dientSchatz dagegen als Kosename, also als Ersatz für den Namen eines vertrauten Menschen. Noch deutlicher wird dies am DiminutivSchätzchen, das nur in der Vokativphrase gebraucht wird (um jemanden zu ermahnen), nicht aber als prädikative Anrede: *(du) Schätzchen!.
Skandinavische Sprachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In den nordgermanischen Sprachen hat sich eine spezifische Phrase etabliert, welche vor allem für Zuschreibungen mittels Appellativa verwendet wird; in Verbindung mit Personennamen ist sie nicht üblich. Als prädikativeKopula dient der Possessivbegleiter der 2. Person Singular, also des Adressaten. Beispiele aus allen vier Sprachen:
Dänisch | Schwedisch | Norwegisch | Isländisch | |
---|---|---|---|---|
Nominativ | geni | ängel | svin | fífl |
Vokativ | dit geni! | din ängel! | ditt svin! | fíflið þitt! |
Übersetzung | du Genie! | du Engel! | du Schwein! | du Idiot! |
Dabei wird im Isländischen zusätzlich dasDefinitheitssuffix (quasi der bestimmte Artikel) ans Substantiv angefügt.
DasIsländische kennt überdies vor allem für Eigennamen von Personen eine Vokativphrase, welche sich des Possessivbegleiters der 1. Person Singulars (also des Sprechers) bedient:
Jón minn! (Männername) /Helga mín! (Frauenname)
Bemerkungen und Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Alfons Nehring: Anruf, Ausruf und Anrede. Ein Beitrag zur Syntax des Einwortsatzes. In: Festschrift für Theodor Siebs zum 70. Geburtstag (hgg. c. Walther Steller, Breslau 1933).
- ↑Tanja Anstatt: „Der slavische Vokativ im europäischen Kontext“. In: Geist, L. / Mehlhorn, G. (eds.) (2008): Linguistische Beiträge zur Slavistik XV, München, S. 9–26. Online:https://dbs-lin.ruhr-uni-bochum.de/lotman/download.php?f=6964699fad7b9b1cdaf42a117deac550&target=0
- ↑Vgl. E.-G. Kirschbaum:Grammatik der Russischen Sprache. Cornelsen, Berlin 2004, S. 151.
- ↑Der Beleidigungsgrad lässt sich am Vergleich folgender Sätze ablesen:Даниела, какво зяпаш бе?(Hi Daniela, warum guckst du denn?) vs.Даниело, какво зяпаш бе?(Daniela, was glotzt du so?)
- ↑https://corpus.quran.com/documentation/vocative.jsp
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Eleanor Dickey:Greek forms of address. From Herodotus to Lucian. Clarendon, Oxford 1996,ISBN 0-19-815054-7.
- Eleanor Dickey:Latin forms of address. From Plautus to Apuleius. Oxford University Press, Oxford 2002,ISBN 0-19-924287-9.
- Virginia Hill:Vocatives. How Syntax meets with Pragmatics. Brill, Leiden 2014,ISBN 978-90-04-26079-5.