Eine wichtigevölkerrechtliche Setzung war die Verurteilung desVölkermordes an den Armeniern imOsmanischen Reich am 24. Mai 1915 in einer Protestnote durch dieTriple Entente; England, Frankreich und Russland drohten derjungtürkischen Regierung darin, diese„Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Zivilisation“ würden nach Kriegsende verfolgt werden. Juristisch wurde der Begriff erstmals1946 zur Ahndung der Kriegsverbrechen bei denNürnberger undTokioter Prozessen definiert und benutzt. Dieses Vorgehen war damals umstritten, da nach rechtsstaatlichen Prinzipien eigentlich nur Verbrechen verfolgt werden können, dienach dem Erlass eines entsprechenden Gesetzes begangen werden. Damit soll Willkür bei Strafmaß und Definition des Straftatbestands verhindert werden. Der Hinweis auf das nationalstaatliche Rückwirkungsverbot im Strafrecht greift hier allerdings zu kurz, da das Nürnberger Tribunal sich auf das Völkerrecht bezog und auf bestehende internationale Verträge und Verbindlichkeiten hinwies, die durch dasNS-Regime im internationalen Maßstab verletzt oder ignoriert worden waren.
In den Nürnberger Prozessen wie auch in mehreren Verlautbarungen derVereinten Nationen wurde und wird die Massenvernichtung inKonzentrationslagern als „crime against humanity“ beurteilt. Da die „industrielle Tötung von Menschen“ (Hannah Arendt) sich nicht ausschließlich gegen solche jüdischer Abstammung gerichtet habe, handle es sich nicht durchgehend um Völkermord, sondern um ein Verbrechen gegen die Menschheit.
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem: Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder: Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven; unabhängig davon, ob einzelstaatliches Recht verletzt wurde.“
Mit derLondoner Charta verständigten sich dieAlliierten auf ein gemeinsames Strafrecht, das ihren jeweiligen nationalen Rechtssystemen übergeordnet war. Sie bildete die juristische Grundlage für dieNürnberger Prozesse gegen die wichtigsten gefangenen NS-Machthaber.
Definition im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
Artikel 7 des 2002 in Kraft getretenenRömischen Statuts als Rechtsgrundlage desInternationalen Strafgerichtshofes definiert den Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im Einzelnen. Die Vorschrift listet eine Vielzahl einzelner Handlungen auf, die jeweils dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wenn sie „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs“ begangen werden:[1]
vorsätzliche Tötung,
Ausrottung,
Versklavung,
Vertreibung oder zwangszweise Überführung der Bevölkerung,
Freiheitsentzug oder sonstige schwer wiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts;
Folter;
Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere;
Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts im Sinne des Absatzes 3 oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen im Zusammenhang mit einer in diesem Absatz genannten Handlung oder einem der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen;
zwangsweises Verschwindenlassen von Personen;
das Verbrechen der Apartheid;
andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.
Im Gegensatz zuKriegsverbrechen können Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch außerhalbbewaffneter Konflikte begangen werden. Zudem werden auch Angriffe gegen die eigene Zivilbevölkerung völkerstrafrechtlich erfasst. Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist weiter gefasst als der Tatbestand desVölkermordes. Während Völkermord den Willen zur Zerstörung bestimmter abschließend aufgezählter Gruppen (nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen) voraussetzt, können Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenjede Zivilbevölkerung begangen werden. Insubjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass ein Täter bezüglich der einzelnen Tathandlungvorsätzlich sowie in Kenntnis des systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung handelt.[2]
Imdeutschen Strafrecht sindVerbrechen gegen die Menschlichkeit nach§ 7Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) überall sowie durch jeden und an jedem strafbar (Weltrechtsprinzip, siehe§ 1 VStGB). Die Anwendung wird durch die Ausprägung desOpportunitätsprinzips in§ 153fStrafprozessordnung (StPO) wesentlich eingeschränkt. Insbesondere kann hiernach von einer Verfolgung abgesehen werden, wenn dieVerbrechen gegen die Menschlichkeit „vor einem internationalen Gerichtshof oder durch einen Staat, auf dessen Gebiet die Tat begangen wurde, dessen Angehöriger der Tat verdächtig ist oder dessen Angehöriger durch die Tat verletzt wurde, verfolgt werden“.[3]
Im französischen Strafrecht existierte der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (französischCrimes contre l’humanité) bis in die 1960er Jahre nicht. Dies änderte sich erst am 26. Dezember 1964 durch ein Gesetz, das die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte. Es bestand nur aus einem einzigen Artikel und berief sich zur Definition des Begriffs auf die Londoner Charta von 1945.Kriegsverbrechen als solche waren von dem Artikel nicht erfasst.[4]
Erst seit dem Inkrafttreten eines 1992 verabschiedeten neuen Strafgesetzbuches am 1. März 1994 definiert das französische Recht selbst den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seither bilden die Tatbestände, die Frankreich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wertet, den Beginn der Liste der Verbrechen im französischen StGB, demCode pénal (Artikel 211-1 und folgende). Angeführt wird diese Liste vomGenozid, der ausdrücklich von „anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abgegrenzt wird. Zu diesen wurden zum ersten Mal auch ausdrücklich Verbrechen gegen Angehörige von Widerstandsgruppen wie der französischenRésistance gezählt. Zudem verlangt das französische Recht das Vorhandensein eines konzertierten Plans, in dessen Rahmen eine Tat begangen worden sein muss, um als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gelten; dieser Aspekt spielte in der Londoner Definition von 1945 nur eine untergeordnete Rolle.[4]
2001 verabschiedete das französische Parlament (Nationalversammlung) ein Gesetz namensloi Taubira, in demSklavenhandel undSklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wurden.[5] Berichterstatterin für das Gesetz war die spätere JustizministerinChristiane Taubira.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden als solche seit dem 1. Januar 2011 in derSchweiz einen eigenenStraftatbestand (Art. 264a StGB). Obgleich während der damals gelten Rechtslage die meisten Verbrechen, die nach der Schaffung von Art. 264a als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten, schon strafbar gewesen sind, habe das Element des «ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung» (Art. 264a Abs. 1 StGB) gefehlt, wie esArt. 7 des Römischen Statutes kennt – so der Bundesrat. Dieses Element sei von zentraler Bedeutung und bilde den Kern der Strafnorm, da es den «außerordentlichen Unrechtsgehalt des Verbrechens» verdeutliche. Um allfällige Lücken im Schweizer Recht schließen zu können, wurde Art. 264a geschaffen, der insgesamt zehn Straftatbestände nennt. Diese sind:[6]
Verbrechen gegen die Menschlichkeit können von jedermann begangen werden; die Zugehörigkeit zu einerStaatsgewalt ist nicht erforderlich. Wie das Verbrechen des Völkermordes sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowohl in Friedenszeiten als auch im internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt strafbar. In einzelnen Fällen sind Überlappungen mit anderen Delikten möglich, so zum Beispiel bei Ausrottung (Art. 264a StGB), zumal Ausrottung auch unter Völkermord (Art. 264 StGB) fallen kann. Das ist dann der Fall, wenn mit ihr die Vernichtung einer bestimmten Gruppe (ethnisch,religiös etc.) beabsichtigt wird. Kann dem Täter eine völkermordsspezifische Vernichtungsabsicht nicht nachgewiesen werden, so schließt das die Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht aus. Der Angriff gegen die Zivilbevölkerung ist nicht an einen Angriff im Sinne des Kriegsvölkerrechts geknüpft und setzt somit keine Gewaltanwendung voraus. Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit kann ebenfalls durch absichtliches Nichtverhindern (Duldung) der Begehung der einzelnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllt sein.
Wenn ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wird, beträgt die Mindeststrafe grundsätzlich nicht weniger als fünf Jahre; es werden fünf bis zwanzig Jahre vorgeschlagen. Bei besonderer Schwere der Tat – namentlich, wenn viele Menschen zum Opfer gefallen sind oder der Täter mit besonderer Grausamkeit agiert – kann ebenso eine lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt werden. Andererseits kann das Strafminimum bei einem Jahr liegen, wenn ein minderer Fall vorliegt. Eine Freiheitsstrafe von einem Jahr ist jedoch bei den Delikten «vorsätzliche Tötung» sowie «Ausrottung» ausgeschlossen, da hier mindere Umstände nicht möglich sind.[6]
In der Schweiz kommt das sogenanntemonistische System zur Anwendung. Das bedeutet, dass Völkerrecht und Landesrecht ein einheitliches System bilden und dass Normen des Völkerrechts keiner Übertragung ins Landesrecht bedürfen. Trotzdem war die Konkretisierung im Landesrecht notwendig, weil die Normen vonArt. 6 bisArt. 8 des Römisches Statuts sich an den Internationalen Strafgerichtshof richten, nicht aber direkt an die Vertragsstaaten, und sie somit nichtdirekt anwendbar sind. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, überhaupt gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten ergibt sich nur indirekt aus dem Risiko, bei ungenügenden Gesetzesgrundlagen die Verfahrenshoheit an den IStGH zu verlieren.[8]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Holocaust“ werden häufig fälschlicherweise als Synonyme verwendet. Bei den ersten drei Begriffen handelt es sich um Rechtsbegriffe, die zugleich wissenschaftliche Kategorien sind.[9]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind breit angelegte oder systematische Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Im Völkerrecht stellen sie einen Oberbegriff dar, unter den sowohl „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen den Frieden“ als auch „Völkermord“ fallen.
Kriegsverbrechen sind kriminelle Handlungen, die während eines bewaffneten Konflikts begangen werden und die vor allem gegen dieGenfer Konventionen verstoßen.
AlsVölkermord wird die koordinierte und geplante Vernichtung einer Gruppe von Menschen bezeichnet, wobei diese „Gruppe“ von den Tätern definiert wird.
AlsHolocaust wird das Vorhaben der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg bezeichnet, alle europäischen Juden zu ermorden.
Zur Terminologie: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder „… gegen die Menschheit“?
Der englische Begriffhumanity kann sowohl mitMenschlichkeit als auch mitMenschheit übersetzt werden. Neben anderen Kritikern hieltenKarl Jaspers undHannah Arendt die offizielle und übliche ÜbersetzungVerbrechen gegen die Menschlichkeit für einenEuphemismus und sprachen vonVerbrechen gegen die Menschheit. Arendt schrieb dazu in ihremBuch über den Eichmann-Prozess 1963:
„Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ‚Verbrechen gegen die Menschheit‘ als ‚unmenschliche Handlungen‘ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ geworden sind; als hätten es dieNazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig dasUnderstatement des Jahrhunderts.“[10]
Bernhard Kuschnik:Der Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Herleitungen, Ausprägungen, Entwicklungen. Duncker & Humblot, Berlin 2009,ISBN 978-3-428-13038-2.
Raoul Muhm:Germania: La rinascita del diritto naturale e i crimini contro l’umanità. Vecchiarelli Ed. Manziana, Rom 2004,ISBN 88-8247-153-5.
dt.Deutschland: Die Renaissance des Naturrechts und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
englischGermany: The renaissance of natural law and crimes against humanity.
Daniel Marc Segesser:Die historischen Wurzeln des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In: Institut für Juristische Zeitgeschichte Hagen:Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 8. 2006/2007,ISBN 978-3-8305-1471-8, S. 75–101(Google Books).
Stephan Meseke:Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. Eine völkerstrafrechtliche Analyse. 2004,ISBN 978-3-8305-0884-7.
Historisch-politischer Roman
Philippe Sands:Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte. Übers.Reinhild Böhnke. Fischer TB, 2009 (= 2. Aufl.)
↑abMichel Massé:L’évolution de la notion de crimes contre l’humanité. In: Jean-Paul Jean, Denis Salas (Hrsg.):Barbie, Touvier, Papon... Des procès pour la mémoire (= Collection Mémoires.Band83). Autrement, Paris 2002,ISBN 2-7467-0263-0,S.122–135,doi:10.3917/autre.salas.2002.01.0122 (französisch,cairn.info).