Das KalksteingebirgeṬūr ʿAbdīn (syrischܛܘܪ ܥܒܕܝܢ ; „Berg der Knechte [Gottes]“) liegt in Nordmesopotamien am Oberlauf desTigris im Südosten der heutigenTürkei.
In der Antike war das Gebirge unter verschiedenen Namen bekannt, unter anderem alsBit-Zamani. In der syrisch-aramäischen Tradition wurde es auchṬuro d'Mosch genannt, während es in griechischen und lateinischen Quellen alsMons Masius erscheint.
Das Gebiet ist seit Jahrhunderten überwiegend vonaramäischen Christen bewohnt, die eine der ältesten kontinuierlich bestehenden christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens bilden. Trotz starker Abwanderung im 20. Jahrhundert bestehen bis heute mehrere historische Klöster und Dörfer, in denen das aramäische Erbe weiter gepflegt wird.
Im Süden, beiMardin, fällt der Gebirgsstock steil zur mesopotamischen Ebene hin ab. DerTigrisdurchbruch bildet die östliche Grenze, und im Norden grenzt der Tur Abdin an die Ebene vonDiyarbakır. Die Westgrenze ist schlecht definiert und wird ungefähr durch das Vulkanmassiv desKaracadağ gebildet.

Der Tur Abdin ist überwiegend eher hügelig denn als eigentliches Gebirge ausgebildet und wirkt eher wie eine Hochebene. Eine Ausnahme bildet der Steilabfall bei Mardin. Er wird von einigen fruchtbaren Tälern durchzogen, etwa das Tal vonGercüş. Das Gebirge war früher dicht bewaldet.Karsthaltige Böden bilden die überwiegende Bodenbeschaffenheit. Sie sorgen dafür, dass die im Winter und Frühjahr zahlreich auftretenden Niederschläge durchsickern, sodass der Boden im Sommer trocken ist und mit großem Aufwand künstlich bewässert werden muss.
Derakkadische Name des Tur Abdin lautete vermutlichNawar. Inassyrischer Zeit hieß es Ka(š)šiari (KURka-ši-a-ri, ḪUR.SAG ka-ši-ya-ra, ḪUR.SAG ga-ši-ya-ar-ri) und bildete eine eigeneProvinz. Versuche, den Namen auf den Stamm derKaška zurückzuführen,[1] werden allgemein abgelehnt.[2] Der Name Kaschiari scheint auch das Gebiet westlich des eigentlichen Gebirges, also die Gegend vonHarran umfasst zu haben, zumindest zur ZeitAdad-nirari II. Das Gebiet umMardin hieß auchIṣalla, der Begriff bezeichnete jedoch vermutlich vor allem den Karaça Dağ. Unter Assurnasirpal war ein Teil des Gebirges alsKURNerebu bekannt, seine genaue Lage ist jedoch umstritten.
Der griechische Name lauteteMasios oros (Strabon, Geographika 16,1,23), einige vermuten hier eine Ableitung vom aramäischenMasch. Wahrscheinlicher ist jedoch eine Ableitung vom akkadisch/sumerischenMush/Mash („Schlange“). Im SchöpfungsmythosEnūma eliš betrachteten Assyrer und Babylonier die Gebirge zwischen Zagros und Taurus als Manifestation vonTiamat, die imAufstand gegen die Götter von Marduk erschlagen und gespalten wurde, danach warf er ihren Körper auf den Boden. So wurden die Gebirge erschaffen. Vermutlich wurden ursprünglich alle Gebirge so bezeichnet, bevor sie nach und nach neue Namen bekamen. Das Gebiet gehörte zuMygdonien. Strabo zählt folgende Städte auf, die am Fuße des Masios lagen:Tigranocerta,Carrhae,Nikephorum,Chordiraza undSinnaka. Das Gebiet um Mardin trug in römischer undbyzantinischer Zeit auch den NamenIzalla, vermutlich abgeleitet von der assyrischen Landschaft Iṣalla, deren Zentrum jedoch weiter westlich lag.
Vermutlich überschritt bereits der akkadische HerrscherNaram-Sin das Gebirge. Es wird auch angenommen, dass die altassyrischen Handelsrouten nach Anatolien über das Gebirge führten.
Die älteste Erwähnung des Tur Abdin findet sich in einer Keilschrifturkunde ausBoğazköy, die von dem Verlust eines silbernen Gefäßes (a-ga-nu KÙ.Babbar) im Kaschiarigebirge handelt. Der Vertrag zwischen demhethitischen GroßkönigŠuppiluliuma I. undTette vonNuḫašše erwähnt das Gebirge (KBo I 4). Als Bewohner des Tur Abdin werden seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. dieAramäer erwähnt (assyrische Keilschrifttexte). Das Gebirge wurde erstmals vonAdad-nirari I. undSalmānu-ašarēd I. erobert. Das Gebirge war für die Assyrer vor allem von militärischer Bedeutung, da seine Kontrolle den Zugang zu den Kupfervorkommen vonErgani und der fruchtbaren Ebene vonDiyarbakır sicherte.
Feldzugsberichte vonTukulti-Ninurta I.,Tiglat-Pilešar I.,Aššur-bel-kala,Tukulti-Ninurta II.,Adad-nirari II.,Aššurnâṣirpal II. undSalmānu-ašarēd II. erwähnen eine Überschreitung. Angaben zur genauen Route fehlen meist. Tiglat-Pilesar I. berichtet aus seinem 3.palu:[3] „Ich betete zu Assur und den großen Göttern, meinen Herren. Ich bestieg den Berg Kašiari.“Assur-nasirpal I. beschreibt auf der Seite D desweißen Obelisken, wie er einen Aufstand bestraft: „Ich erhob eine Fackel, ich marschierte rasch in die Kašiariberge und zog gegen jene Städte. Während der Nacht umzingelte ich sie und bei Sonnenaufgang kämpfte ich gegen zahlreiche Streitwagen und Fußtruppen und fügte ihnen schwere Verluste zu… Ich eroberte die StadtAmlattu, die StadtSaburam, die StadtRuzidak, die StadtBugu, die StadtUstu, aufrührerische Städte im Land derDannuna, ich zündete sie an…“[4]
In der ZeitAššurbānipals gab es im Tur Abdin Weinanbau,[5] Wein gehörte zum Tribut an Assyrien und wurde hier noch im 19. Jahrhundert angebaut.
Im 6. Jahrhundert v. Chr. fiel der Tur Abdin zusammen mit dem übrigen Mesopotamien an die persischenAchaimeniden, die zuvor dieMeder und dasNeubabylonische Reich besiegt hatten. Sie kontrollierten das Gebiet, bisAlexander der Große ihr Reich 330 v. Chr. eroberte. Anschließend beherrschten die makedonischenSeleukiden die Region.
Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. befand sich Nordmesopotamien unter der direkten oder indirekten Herrschaft der iranischenParther, die wiederholt Kriege gegen die Römer führten, die hier im Verlauf des 2. Jahrhunderts n. Chr. zunehmend an Einfluss gewannen. Spätestens seit KaiserSeptimius Severus gehörte der Tur Abdin als Teil der römischen ProvinzMesopotamia zumImperium Romanum.
Die Bewohner des Tur Abdin sollen laut späterer Überlieferungen bereits im 1. Jahrhundert von den ApostelnThomas undThaddäus zum Christentum bekehrt worden sein. Sicher nachweisbar ist das Christentum hier allerdings erst in derSpätantike. Den damals gegründeten zahlreichen Klöstern und Kirchen verdankt das Gebiet seinen heutigen Namen.
Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert bildete der Tur Abdin die Grenze zwischenOstrom und dem persischenReich der Sassaniden, der Nachfolger der Parther; das Gebirge bildete eine Art Vorposten des Oströmischen Reiches.[6] Während die Eroberung durch dieAraber nach 640 zunächst das Ende der Verfolgung durch dieoströmisch-byzantinischen Reichskirche bedeutete, verschlechterte sich die Lage derindigenensyrischen Christen nach dem Sieg derSeldschuken in derSchlacht bei Manzikert 1071. Der Tur Abdin wurde vonTimur Lenk um 1400 massiv geplündert, viele Klöster und Siedlungen wurden zerstört.[7]
Seit dem Spätmittelalter gehörte der Tur Abdin zum Osmanischen Reich. Besonders im 19. und 20. Jahrhundert kam es zuMassakern an den syrischen Christen (auch bekannt alsAramäer,Assyrer oderChaldäer) durch die osmanisch-türkische Armee undkurdische Familienclans, verstärkt imJahr des Schwertes 1915, als viele historische und jahrhunderte alte christliche Dörfer durch Vertreibung und Ermordung der Bewohner entvölkert wurden.[8][9]
Noch um 1970 lebten dennoch zahlreicheSuroye/Suryoye im Tur Abdin, Suroye/Suryoye ist die eigensprachliche Bezeichnung der syrischen Christen.[10] Während der letzten Jahrzehnte fand aber ein massiver Exodus der Aramäer/Assyrer nachSyrien, in denLibanon, in denIrak, nachNordamerika,Australien und insbesondere West-Europa (Deutschland, Niederlande, Schweiz) statt. Heute leben im Tur Abdin darum nur noch etwa 4.000[11]syrisch-orthodoxe Christen, die vielfach der sozialen Elite angehören und zum Beispiel als Silberschmiede und Ärzte tätig sind. Ausgewanderte Glaubensbrüder unterstützen die Daheimgebliebenen inzwischen massiv finanziell, sodass in den letzten Jahren viele Kirchen und Klöster aufwendig restauriert werden konnten. Der Fortbestand der christlichen Gemeinden im Tur Abdin ist derzeit dennoch bedroht.
Die Aramäer/Assyrer im Tur Abdin verwenden die klassisch-syrische Hochsprache alsKirchensprache im Gottesdienst, sprechen als Muttersprache jedoch einen nordostaramäischen Dialekt, derTuroyo („Berg-[Dialekt]“) genannt wird.[12] Weil die meisten Sprecher aus der Region Tur Abdin vertrieben wurden und modernes Syrisch (Surayt/Turoyo) in den Ländern der aramäischen/assyrischenDiaspora einen sehr geringen Status hat, weshalb nicht alle Nachkommen der Auswanderer die Sprache ihren Kindern beibringen, und weil Ṭuroyo im Gegensatz zur Sakralsprache eine schriftlose Sprache ist und daher kaum schulisch vermittelt werden kann, gilt ihr Fortbestehen als bedroht.[13]
Die Bevölkerungsmehrheit im Tur Abdin wird heute von Kurden gebildet, hinzu kommen Araber und Türken. Die folgenden Orte werden noch (zum Teil oder vollständig) von syrisch-orthodoxen Christen bewohnt:


Zu den ältesten noch heute bestehenden Klöstern gehörtMor Gabriel, eine Gründung aus dem späten 4. Jahrhundert, sowie dasKloster Zafaran (Mor Hananyo) aus dem 5. Jahrhundert, das für Jahrhunderte auch Sitz desPatriarchen bzw. Gegenpatriarchen derJakobiten war. Beide Klöster sind bis heute Bischofssitze der Syrisch-orthodoxen Kirche: Im Kloster Mor Gabriel residiert MorTimotheos Samuel Aktaş, derMetropolit der syrisch-orthodoxen Diözese von Tur Abdin, und in Mor Hananyo residiert Mor Filüksinos Saliba Özmen, der Bischof vonMardin.[14] Weitere noch genutzte Klöster sind Mor Malke und das Mutter-Gottes-Kloster in Hah. Bedeutend ist auch das Jakobskloster (Mor Yakob) in Salah, das von 1364 bis 1839 Sitz des Gegenpatriarchen im Tur Abdin war.
Der Bischofssitz der erstenDiözese des Tur Abdin warHah, damals die Metropole vom Tur Abdin und angeblich zudem eine alte Königsstadt. Hier befindet sich bis heute auch die kleine, aber berühmte Mutter-Gottes-Kirche, die frommen Legenden zufolge von den heiligen drei Königen erbaut worden sein soll und den Christen der Region daher als die älteste Kirche der Welt gilt (tatsächlich stammt der Bau aus derSpätantike).
Trotz aller Massaker und Zerstörungen blieben einige wertvolle Handschriften erhalten, die in den Klöstern des Tur Abdin entstanden und sich heute zum Teil in west- und mitteleuropäischen Bibliotheken befinden. Der Mar-Gabriel-Verein inReinbek und die Initiative Christlicher Orient (ICO) bemühen sich um die Erhaltung der letzten christlichen Dörfer und Klöster in der heutigen Türkei.
37.4050741.495361200Koordinaten:37° 24′ N,41° 30′ O