Tuila

Tuila, auchṭuila, ṭuhila, ṭohilā undtoila, ist die einfachste Form einer einsaitigen gezupften Stabzither ohneBünde. Das in ländlichen Gegenden desindischen BundesstaatesOdisha selten und nur von Männern gespielte Begleitinstrument für Unterhaltungslieder erlaubt Rückschlüsse auf Form und Spielweise der altindischen Stabzitheralapinivina.
Bauform
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Mit Stabzither oder Musikstab wird ein gerader starrer Saitenträger mit einer oder mehreren, zwischen beiden Enden gespannten Saiten bezeichnet. Die Saiten können meist mit den Fingern auf dem als Griffbrett dienenden Saitenträger verkürzt werden. Im Unterschied hierzu besteht einMusikbogen aus einem gebogenen und biegsamen Saitenträger. Beide Grundformen eines Saiteninstruments benötigen zur Klangverstärkung mindestens einen mit dem Saitenträger verbundenenResonanzkörper.
Dietuila besteht aus einem knapp einen Meter langen Bambusrohr (Mundaripani bansu) von etwa 2,5 Zentimetern Durchmesser. Im einen Ende steckt ein nach oben ragendes Holzstück (ghoda), an dem die aus gedrehtem Baumwollgarn, Darm oder Seide bestehende Saite (sutha) mit einem geringen Abstand zum Saitenträger festgebunden ist. Das Material wird ausgewählt wie es saisonal verfügbar ist. Einen zusätzlichenSteg gibt es nicht. Vom hölzernen Abstandshalter verläuft die Saite nicht parallel, sondern in einem spitzen Winkel bis kurz vor das andere Rohrende, wo sie mit einer Schlaufe und mehreren Wicklungen direkt am Rohr fixiert ist. Jeder Spieler fertigt sein eigenes Instrument. Er bemisst die Saitenlänge so, dass seine Finger bei in einem rechten Winkel zueinander nach vorn gestreckten Unterarmen die Saite an beiden Enden greifen können. Wenige Zentimeter vor der Schnurwicklung ist die Halbschale einer länglichenKalebasse (tumba) unterhalb des Saitenträgers mit der Öffnung nach unten befestigt.Tumba ist dasHindi-Wort für „Kalebasse“ und davon abgeleitet ein regionaler Name der Zupftrommelektara. Der Resonator wird über ein kurzes röhrenförmiges Zwischenglied (chimki) aus einer anderen Kalebasse mittels einer Schnur aus Pferdehaar, die an kurzen Holzstücken im Innern befestigt ist, am Saitenträger festgedreht. Hierdurch wird die Saite an den Saitenträger herangezogen und für die Schallübertragung mit dem Resonator verbunden.
Spielweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Der Spieler hält dietuila im Stehen senkrecht nach unten und diagonal vor seinem Oberkörper mit der Kalebasse gegen den linken oberen Brustbereich gepresst. Mit dem Daumen der linken Hand am Zwischenstück der Kalebasse verkürzt er die Saite mit den übrigen Fingern auf dem als Griffbrett (dandi) dienenden Saitenträger. Den rechten Arm ausgestreckt nach unten haltend fixiert er mit dem Daumen das Bambusrohr von unten und zupft die Saite mit dem Mittelfinger. Die Saite wird nach Belieben gespannt, eine festgelegte Tonhöhe gibt es nicht. Da ein Steg fehlt und somit eine daneben angebrachte Stegverbreiterung (jivari), produziert dietuila nicht das für dietanpura und viele andere Saiteninstrumente derindischen Musik charakteristische obertonreiche Klangspektrum. Die feine Klangmodulation lässt sich stattdessen erzielen, indem die Kalebassenöffnung rhythmisch näher an die Brust herangeführt oder gelegentlich aufgesetzt wird. Lautstärke, Klang und Tonhöhe ändern sich so. Ähnlich wird der Klang bei afrikanischen Musikbögen, der Kerbstegzithermvet in Kamerun, bei einigen afrikanischenLamellophonen und bei der seltenen Stieltrommelsahfa im Jemen beeinflusst.
Mit drei Fingern wird der tiefsteTetrachord abgegriffen. Die leere Saite produziert den Grundton (Tonika), nach der Notation derRagasSa. Mit Zeigefinger, Ringfinger und kleinem Finger werden die zweite, dritte und vierte Note (Ri, Ga, ma) niedergedrückt. Für die nächsthöheren vier Töne verbleiben die Finger in einer ungewöhnlichen Spieltechnik in unveränderter Position. Anstatt mit den Fingern der linken Hand in eine höhere Lage zu rutschen, wird der Zeigefinger der rechten Hand leicht auf die Saite gelegt, während der rechte Mittelfinger die Saite zupft. Beides geschieht nahezu gleichzeitig. Als Resultat erklingt die leere Saite in der fünften NotePa. Greifen die drei Finger der linken Hand wie zuvor die Saite ab, ergeben sich nun die weiteren NotenDa, Ni undSa’. Der Tonumfang einerOktave wird also mit nur drei Fingerpositionen erreicht.[1] Die verwendete Tonskala ähnelt demdorischen Modus.
Dietuila ist bei derAdivasigruppe derMunda im Mayurbhanj-Distrikt im Nordosten Odishas und im angrenzendenJharkhand verbreitet. Grundsätzlich wird sie nur von Männern gespielt, die ihren eigenen Gesang oder einen Chor begleiten, der Hochzeitslieder vorträgt. Zum Repertoire gehören zwar Tanzlieder, dietuila wird jedoch nicht zusammen mit Trommeln zur Begleitung von Tänzen gespielt. Als altehrwürdiges Instrument der Munda-Tradition wird dietuila geachtet, auch wenn sie heute selten geworden ist.[2] Liedtexte sprechen von dertuila im Zusammenhang mit derkendra. Die Munda verstehen unterkendra eine einsaitige Zupflaute vom Typ derektara, die bei Liedern und Tänzen alsBorduninstrument eingesetzt wird.[3] Anderswo in Odisha versteht man untertuila ein solchesLauteninstrument.
Herkunft
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Die in denVeden alsvina odervipanci bezeichneten Saiteninstrumente waren Bogenharfen. Die im altindischen Hauptwerk zur Musik, dem um die Zeitenwende abgefasstenNatyashastra, unter mehreren Namen erwähnten Saiteninstrumente dürften allesamt Bogenharfen gewesen sein. Um diese Zeit zeigen Steinreliefs anbuddhistischen Kultorten Harfe spielendeGandharvas und andere himmlische Wesen. ImMahabharata, einem der beiden großen indischen Epen, das etwa im 4. Jahrhundert n. Chr. seine bekannte Form erlangte, wird einetumba vina zusammen mit der Bambusquerflötevamsha erwähnt, wobei unklar ist, ob hier eine Bogenharfe mit Kalebassenresonator oder eine Stabzither gemeint ist.[4] Im 7. Jahrhundert waren die Bogenharfen weitgehend aus Indien verschwunden, abgebildet werden stattdessen Stabzithern und Lauteninstrumente. Die ältesten bekannten Abbildungen von Stabzithern finden sich auf den Wandmalereien der buddhistischen Höhlen vonAjanta. In Höhle 7 trägt einer der fliegenden Gandharvas eine Stabzither über der Schulter, in Höhle 16 ist die Stabzither zusammen mit einer Bogenharfe dargestellt.[5] Aus dem 7. Jahrhundert stammt die Abbildung einer Stabzither am Relief „Herabkunft der Ganga“ inMamallapuram (oberste Reihe mit Gandharvas undKinnaras, linke Seite), ein weiteres Relief einer Stabzither gehört zu einer Steinplatte in der Nähe des dortigen Küstentempels. Auf allen genannten Abbildungen hält ein männlicher Musikant die Stabzither auf dieselbe Weise wie dietuila schräg vor seinem Oberkörper. Dietuila entspricht in der Handhabung offensichtlich der altindischenalapini vina, die in der Sanskritliteratur alsvina mit einem Griffbrett (danda) von annähernd neun Handbreit Länge und einem Kalebassenresonator von etwa 20 Zentimetern Durchmesser beschrieben wird. Sie besaß eine oder seltener drei Saiten.[6]
Bis ins 9. Jahrhundert wurden die einfachen Stabzithern mit einer Kalebasse vom Typ dertuila unverändert abgebildet, später nur noch selten. Zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert fand der Übergang zu der nunmehr gebräuchlichen Form der Stabzithern statt. Diese sind durch einen wesentlich dickeren Saitenträger und einen zweiten Resonanzkasten am unteren Ende gekennzeichnet. Da der Saitenträger jetzt offenbar ebenfalls als Resonanzkörper fungiert, ändert sich die Spielhaltung. Die obere Kalebasse hängt über der linken Schulter nach hinten. Sie wird immer noch flach abgebildet, ist also an der Unterseite offen. Allmählich erhöht sich die Saitenzahl. In derMogulzeit war dieser Stabzithertyp mit fünf Saiten alsjantar und mit drei Saiten alsbin (Rudra vina) bekannt. Die heute in Nordindien in derklassischen Musik gespielteRudra vina besitzt als Resonanzkörper zwei große vollrunde Kalebassen, während diejantar mit zwei etwas kleineren Kalebassen noch in der Volksmusik von Rajasthan vorkommt. Die ursprüngliche Form der Stabzither sank auf ein nahezu verschwundenes regionales Volksmusikinstrument der unteren Bevölkerungsschicht herab. In Odisha blieb sie in Gestalt dertuila erhalten; gerade in einer Region, in der wie inBhubaneswar undKonarak an besonders vielen mittelalterlichenHindutempeln Stabzithern abgebildet sind.[7]
Verbreitung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In Odisha ist unter der Namensodi burra eine weitere einfache Stabzither der traditionell als Korbmacher tätigen Adivasigruppe Erikala bekannt. Die Saite verläuft parallel zwischen zwei Stiften an den Enden des Bambusstabes. Eine große Kalebasse ist in der Mitte unter dem Saitenträger befestigt und durch eine Schnur mit der Saite verbunden.[8] DieSantal von Odisha verwenden die Stabzitherbuang als Rhythmusinstrument. Als mittig angesetzter Resonator dient hier ein aus Bambus geflochtener Korb, der mit Papier überzogen wurde. Die weiter vom Träger entfernte Saite ist nicht mit dem Korbresonator verbunden. Zwei oder mehr Tänzer halten bei Gruppentänzenbuangs in den Händen und produzieren beim Zupfen der Saite ein Schnarrgeräusch.[9] In Südindien schlagen ebenfalls zur rhythmischen Begleitung mehrere Musiker in der VolksliedtraditionVillu pattu den Musikbogenvilladi vadyam mit Holzstäben auf die Saite und auf den aus einem großen Tontopf bestehenden Resonator. Musikbögen haben sich ansonsten nur noch in wenigen abgelegenen Gebieten in der Volksmusik erhalten. Dazu gehört der zentralindische DistriktBastar, wo Frauen einer Adivasigruppe den Musikbogendhankul zur rhythmischen Begleitung epischer Lieder verwenden. Weiter verbreitet sind die zu denektara gehörenden regionalen Varianten ein- und zweisaitiger Spießlauten, die gezupft oder mit einem Bogen gestrichen werden:banam in Odisha,tumbi imPunjab,ravanahattha inRajasthan oder diepena inManipur.
Zu den dertuila ähnlichen Stabzithern in Südostasien, die wahrscheinlich auf indischen Kultureinfluss zurückzuführen sind, gehören inThailand diephin nam tao mit Kalebasse, inSulawesidunde, santung undfalundo, auf der ostindonesischen InselSumba diejungga und aufHalmahera diesulepe.[10] Eine zwei- bis fünfsaitige Stabzither mit einem Resonator aus einer Kokoshalbschale ist bei denLanna-Sprechern im Norden Thailands alsphin phia bekannt;[11] die zu den vietnamesischen Bergvölkern gezählten Jarai in der ProvinzGia Lai spielen die mit zwei Metallsaiten und vier oder sechs Bünden bestückte Stabzitherbrŏ. Ihre Kalebassenhalbschale wird ebenfalls zur Klangmodulation an die Brust gehalten.[12] InKambodscha blieb mit der zweisaitigensadiu[13] eine Stabzither mit einer Resonatorhalbschale erhalten, die wie dietuila und die afrikanischen Musikbögen zur Klangmodulation an die Brust gedrückt wird. In Form und Spielhaltung mit dertuila am meisten verwandt ist die einsaitige kambodschanischekse diev (auchsadiev, sadiu),[14] die mit zwei Fingern gezupft wie ein afrikanisches Lamellophon klingt. Frühe Darstellungen dieser Stabzithern finden sich auf einem Flachrelief amAngkor Wat vom Anfang des 12. Jahrhunderts[15] und auf Reliefs amBayon, der Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut wurde.[16] Über Südostasien erstreckt sich der indische Kultureinfluss bis nach Ostafrika, wohin mutmaßlich malaiische Seefahrer aus Indonesien dertuila in Form und Spielweise ähnliche Plattstabzithern brachten, die dort alszeze bekannt sind.
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Carol M. Babiracki:Ṭuila. In:Stanley Sadie (Hrsg.):The New Grove Dictionary of Musical Instruments. Band 3. Macmillan Press, London 1984,ISBN 0-943818-05-2, S. 673.
- Bigamudre Chaitanya Deva:Musical Instruments. National Book Trust, Neu-Delhi 1977, S. 87f. (1987:Musical Instruments of India.ISBN 81-215-0048-6)
- Ferdinand J. de Hen:A Case of Gesunkenes Kulturgut: The Toila. In:The Galpin Society Journal. Band 29, Mai 1976, S. 84–90.
- Monika Zin:Die altindischen vīṇās. In: Ellen Hickmann, Ricardo Eichmann (Hrsg.):Studien zur Musikarchäologie IV. Musikarchäologische Quellengruppen: Bodenurkunden, mündliche Überlieferung, Aufzeichnung. Vorträge des 3. Symposiums der Internationalen Studiengruppe Musikarchäologie im Kloster Michaelstein, 9.–16. Juni 2002, S. 321–362.
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Munḍārī songs (Durang kahani and Is a tuila). Linguistic Survey of India. Schallarchiv der British Library: Wachswalzenaufnahme von 1914 mit einem auf Mundari gesungenen Lied und anschließend einertuila
- 4to40.com/images (Zeichnung)
- Gift Siromoney:Musical Instruments from Pallava Sculpture. In:Kalakshetra Quarterly. Vol. 2, No. 4, 1979, S. 11–20 (Reliefdarstellungen von Stabzithern anPallava-Tempeln)
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Bigamudre Chaitanya Deva:Musical Instruments of India. Kalkutta 1978, S. 156–158, zit. in: Monika Zin, 2002, S. 334f.
- ↑Carol M. Babiracki, 1984, S. 673.
- ↑Geneviève Dournon, Carol M. Babiracki:Kendra. In: Stanley Sadie (Hrsg.):The New Grove Dictionary of Musical Instruments. Vol. 2. Macmillan Press, London 1984, S. 375.
- ↑Walter Kaufmann:Musikgeschichte in Bildern. Band II:Musik des Altertums. Lieferung 8:Altindien. Hrsg. Werner Bachmann. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1981, S. 180.
- ↑Monika Zin, 2002, S. 333.
- ↑Bigamudre Chaitanya Deva, 1977, S. 88.
- ↑Monika Zin, 2002, S. 335; Ferdinand J. de Hen, 1976, S. 89.
- ↑Ferdinand J. de Hen, 1976, S. 86f.
- ↑Bigamudre Chaitanya Deva, 1977, S. 75.
- ↑Ferdinand J. de Hen, 1976, S. 88.
- ↑Andrew McGraw:The Pia's Subtle Sustain: Contemporary Ethnic Identity and the Revitalization of the Lanna “Heart Harp”. In:Asian Music. Bd. 38, Nr. 2, University of Texas Press, Sommer – Herbst 2007, S. 115–142.
- ↑Music and song of the Jörai. Produktion Patrick Kersalé. PEO CD-1051, Paris 2001, Titel 15, 16
- ↑Sadiu. The Metropolitan Museum of Art (Abbildung)
- ↑matthewwakem.photoshelter.com (Abbildung einerkse diev)
- ↑Terry E. Miller:Say diev. In:Grove Music Online, 28. Mai 2015
- ↑Roger Blench:Musical instruments of South Asian origin depicted on the reliefs at Angkor, Cambodia. EURASEAA, Bougon, 26. September 2006