Sprachtypologie
DieSprachtypologie ist ein Forschungsfeld derLinguistik, das sich mit dem Vergleich und der Klassifikation von Sprachen anhand struktureller Eigenschaften befasst. Die typologische Klassifikation unterscheidet sich von der genetischen Klassifikation, welche Sprachen nach primärenetymologischen Ursprüngen, das heißt nach ihrenUrsprachen, inSprachfamilien einordnet, und von der geographischen Klassifikation, welche Sprachen aufgrund von durch anhaltendenSprachkontakt entstandenen Ähnlichkeiten inSprachbünden gruppiert. Eine typologische Klasse wird Sprachtyp genannt. Es bestehen verschiedene Ansätze zur Sprachtypologie.
Morphologische Sprachtypologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Vorläufer und Begründer des sprachtypologischen Ansatzes
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Im Jahr 1767 erschienNicolas Beauzées Hauptwerk, die zweibändigeGrammaire générale ou exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage, pour servir de fondement à l’étude de toutes les langues, die in Teilen auf Beauzées Beiträgen zurEncyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers basierte. Es handelte sich dabei um eine Universalgrammatik im GeisteAntoine Arnaulds undClaude Lancelots. Beauzée kann als Begründer des sprachtypologischen Ansatzes angesehen werden. Bei der Begründung seiner Theorie war Beauzée um eine, soweit es ihm möglich war, fundierte empirische Basis bemüht.[1]
Klassische morphologische Typologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Zu den frühesten Typologien gehört die vonAugust Wilhelm Schlegel undWilhelm von Humboldt. Sie teilten die Sprachen aufgrundmorphologischer Kriterien in synthetische und analytische Sprachen ein.[2]
- Synthetische Sprachen = verschmelzende Sprachen drückensyntaktische Verhältnisse im Satz zumindest teilweise durchAffixe aus.
- Untergruppen der synthetischen Sprachen sind
- Agglutinierende Sprachen (wieTürkisch oderUngarisch),
- Polysynthetische Sprachen (wie dieirokesischen Sprachen) und
- Fusionierende Sprachen, die meisten sind vom Typus derflektierenden Sprachen, wie etwa die meistenindogermanischen Sprachen.[3]
- Untergruppen der synthetischen Sprachen sind
- Analytische Sprachen verwenden für die syntaktische FunktionWortstellungsregularitäten oder nicht gebundeneFunktionswörter. Die analytischen Sprachen umfassen die Gruppe derisolierenden Sprachen, zu der auch dasChinesische gehört.
Die moderne, mit Parametern operierende morphologische Typologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Obwohl die klassische Klassifikation auch heute noch häufig verwendet wird, sind in der jüngeren Vergangenheit einige Schwachpunkte des Systems kritisiert worden: Das größte Manko ist, dass die klassische morphologische Typologie eine Reihe starrer Sprachtypen postuliert, die bestenfallsPrototypen repräsentieren und in ihrer reinen Form nur sehr selten zu finden sind. Zum Beispiel kann eine Sprache überwiegend agglutinierende Affixe, aber auch einige fusionale Elemente besitzen. Deshalb ist in den letzten Jahrzehnten ein alternatives Klassifikationssystem vorgeschlagen worden, das nicht mit vorgefertigten Typen, sondern mit zwei Parametern arbeitet, auf denen Sprachen sich mit jeweils fließenden Übergängen bewegen.[4]
- Der erste Parameter ist die Morphem-pro-Wort-Rate, Kriterium ist also die Anzahl anMorphemen proWort. Extremfälle, die die Endpunkte der Skala markieren (aber eben nicht die einzigen Möglichkeiten darstellen), wären auf der einen Seite völligisolierende Sprachen (typischerweise genau ein Morphem pro Wort), auf der anderen Seite polysynthetische Sprachen (typischerweise potentiell sehr viele Morpheme pro Wort).
- Der zweite Parameter ist der Fusionsgrad, also das Ausmaß derSegmentierbarkeit der grammatischen Morpheme. Extremfälle wären hier hochgradig fusionierende Sprachen (mit geringer Segmentierbarkeit und hohermorphophonologischer Varianz der Morpheme) und Agglutination (Segmentierbarkeit und Invarianz der Morpheme).
Durch die Kombination der beiden Parameter lassen sich sehr viele Sprachen der Welt zufriedenstellend charakterisieren.
Aussagen wie „Türkisch ist eine agglutinierende Sprache“, bei denen nur eine Angabe zum Sprachtyp gemacht wird, beziehen sich auf die klassische morphologische Typologie; wenn zwei Angaben gemacht werden, ist zumeist die modernere Variante als zugrunde liegend impliziert. Die Aussage „Nahuatl ist eine agglutinierende, polysynthetische Sprache“ (vgl. den entsprechenden Artikel) ist also so zu lesen, dass es sich um eine Sprache mit vielen Morphemen pro Wort handelt (polysynthetisch), wobei diese zumeist segmentierbar sind (agglutinierend).
Sprachtypologie mit den Mitteln der Statistik
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Im Bewusstsein, dass Sprachen Eigenschaften wie „isolierend“, „agglutinierend“ oder „flektierend“ in unterschiedlichem Maße aufweisen, wurden von Greenberg[5] insgesamt 10 Maße für morphologische und syntaktische Eigenschaften entwickelt, die es erlauben, den Grad, in dem eine Sprache eine bestimmte Eigenschaft aufweist, genau zu messen. Das bekannteste Maß ist der sog. „Syntheseindex“, in dem die Zahl der Morpheme eines Textes inRelation zur Zahl der Wörter gebracht wird, in denen diese Morpheme vorkommen. Als Ergebnis erhält man eine Charakteristik für eine betrachtete Sprache, die aus 10 Messwerten besteht und exakte Vergleiche mit beliebigen anderen Sprachen ermöglicht. Dieses Konzept wurde von Altmann und Lehfeldt[6] weiterentwickelt, in dem sie die theoretischen Grundlagen erörtert und gezeigt haben, dass zwischen den Indizes (Maßen) Korrelationen bestehen. Sie haben ferner gezeigt, wie man auf dieser Basis mit Hilfe dernumerischen Taxonomie zu einer typologischenKlassifikation der Sprachen kommen kann und mit welchem Ergebnis. Eine Fortführung dieser Ansätze findet sich bei Silnitzki[7], der u. a. ein weiteres Sprachmaß testet und weitere Sprachen in seine Untersuchungen einbezieht.
Wortstellungstypologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Ein neuerer Ansatz ist dieUniversalienforschung vonJoseph Greenberg, die nach allgemein auftretenden Strukturgesetzmäßigkeiten in den Sprachen der Welt sucht. Ein Beispiel hierfür ist die Wortstellungstypologie, die auf syntaktischen Kriterien beruht. Sie klassifiziert Sprachen nach der Reihenfolge vonSubjekt,Objekt undVerb in einem unmarkierten Satz. Den jeweiligen dieser Sprachtypen einer Klasse nennt man häufig auch einfach nur selbst „Typ der Sprache“:
- SVOSubjekt-Verb-Objekt, z. B. Englisch, Chinesisch, Französisch, Spanisch, Russisch
- SOVSubjekt-Objekt-Verb, z. B. Türkisch, Japanisch, Persisch, Latein (dort Wortstellung grundsätzlich frei; es besteht aber eine starke Tendenz zu SOV oder OSV)
- VSOVerb-Subjekt-Objekt, z. B. Gälisch, Walisisch, Aramäisch, Tagalog, Standardarabisch
In fast allen Sprachen geht allerdings das Subjekt dem Objekt voraus, sodass die folgenden drei Typen nur sehr vereinzelt auftreten:
- VOSVerb-Objekt-Subjekt, z. B.Fidschi,Malagasy,Javanisch
- OSVObjekt-Subjekt-Verb, z. B.Warao,Xavante
- OVSObjekt-Verb-Subjekt, z. B.Apalai,Bacairi,Guarijio,Hixkaryána
BeimDeutschen undNiederländischen wird diese Klassifikation dadurch erschwert, dass das „analytisch“ zusammengesetzte Verb (allerdings nach festen Regeln) in mehreren Teilen über den Satz verteilt wird und Subjekt, alle direkten und indirekten – auch genitivischen – Objekte und alle Orts-, Zeit- oder Modalangaben usw. regelkonform auch dazwischen und davor platziert werden können, beispielsweise: „Einen Fuchs habe ich im Wald gesehen“ oder „Im Wald habe ich einen Fuchs gesehen“, oder auch „Dieses Fuchses sollten wir uns schon lange entledigt haben“. Diese Sprachen werden daher häufig alsV2-Sprachen klassifiziert, da sich der konjugierte Teil des Verbs unabhängig von der Position von Subjekt, Objekt und den anderen Satzteilen in jedem Fall an der zweiten Stelle und gleichzeitig die restlichen Teile des Verbs immer am Ende einesHauptsatzes befinden. Häufiger wird allerdings die im Nebensatz verwendete Reihenfolge als Grundwortstellung angenommen (im Nebensatz steht der konjugierte Teil des Verbs immer am Satzende), in diesem Beispiel also „dass ich im Wald einen Fuchs gesehen habe“, sodass das Deutsche und das Niederländische dementsprechend als SOV klassifiziert werden.
Einige Sprachen, insbesondere starkflektierende, bereiten bei der Einordnung in dieses System besondere Probleme, da sie im Grunde jede beliebige Reihenfolge von Verb und Objekt zulassen. Beispiele sindLatein und diepolnische Sprache. Dies liegt aber eher an dem syntaktischen Analyse-Ansatz, der hier nicht weiterhilft. Dagegen scheint ein pragmatischer Ansatz weiterzuhelfen wie etwa derjenige, den dieFunctional Grammar vonSimon C. Dik bereitstellt und der grob zwischen Topik (der bekannte Aktant, über den etwas ausgesagt wird) und Fokus (das wichtigste Element der Äußerung) unterscheidet. Auch im noch stärker flektierenden Altgriechischen hilft dieser Ansatz weiter, wie H. Dik in zwei Büchern über Herodot und die Tragödiensprache von 1995 und 2007 gezeigt hat. Allerdings relativieren solche pragmatischen Analyseansätze die weitgehend syntaktisch arbeitenden Wortstellungstypologien erheblich.
Theo Vennemann undWinfred P. Lehmann haben die sechs grundlegenden Typen durch Herausnahme des Subjektes auf zwei reduziert (VO undOV). Die weitreichenden Konsequenzen, insbesondere sprachhistorischer Natur, die sie daraus ableiten, sind in der Fachwelt allerdings umstritten.[8]
Relationale Typologie (morphosyntaktische Ausrichtung)
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die relationale Typologie klassifiziert Sprachen bezüglich ihresmorphosyntaktischen Ausdrucks der fundamentalen grammatischen Relationen (sieheAkkusativ-,Aktiv- undErgativsprache).
Phonologische Sprachtypologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Je nach Forschungsinteresse kann man typologischen Betrachtungen Kriterien aus allen Teildisziplinen derLinguistik zu Grunde legen. Ausphonologischer Perspektive kann man Sprachen beispielsweise inakzentzählende,morenzählende undsilbenzählende einteilen.
Siehe auch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Gabriele Eckert:Sprachtypus und Geschichte. Untersuchungen zum typologischen Wandel des Französischen. Narr, Tübingen 1986,ISBN 3-87808-865-5 (Digitalisat).
- Franz Nikolaus Finck:Die Haupttypen des Sprachbaus (= Aus Natur und Geisteswelt; Bd. 268). Teubner, Leipzig 1910 (Digitalisat) – populärwissenschaftliche Einführung in die Sprachtypologie der Humboldtscher Prägung anhand von acht beispielhaften Sprachen.
- Joseph H. Greenberg (Hrsg.):Universals of Language. The M.I.T. Press, Cambridge, Mass. 1966.
- Harald Haarmann:Grundzüge der Sprachtypologie. Kohlhammer, Stuttgart 1976,ISBN 3-17-002486-8.
- Gustav Ineichen:Allgemeine Sprachtypologie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991,ISBN 3-534-07409-2.
- Thede Kahl, Michael Metzeltin:Sprachtypologie. Ein Methoden- und Arbeitsbuch für Balkanologen, Romanisten und allgemeine Sprachwissenschaftler. Harrassowitz, Wiesbaden/New York,ISBN 978-3-447-10442-5.
- Winfred P. Lehmann:Syntactic Typology: Studies in the Phenomenology of Language. University of Texas Press, Austin 1978,ISBN 0-292-77545-8.
- Hans Christian Luschützky:Sprachtypologie. In: Peter Ernst (Hrsg.):Einführung in die synchrone Sprachwissenschaft. 2. Auflage. Wien 1999.
- Edith A. Moravcsik:Introducing Language Typology. Cambridge University Press, Cambridge/New York 2013,ISBN 978-0-521-19340-5.
- Thorsten Roelcke:Sprachtypologie des Deutschen. De Gruyter, Berlin/New York 1997,ISBN 3-11-015276-2.
- Hansjakob Seiler (Hrsg.):Language Universals. Narr, Tübingen 1978,ISBN 3-87808-111-1.
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Morphologische Typologie (Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft, Germersheim/Universität Mainz)
- Sprachtypologie
- Christian Lehmann, Sprachtypologie und Universalienforschung
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Georg Bossong:Die Anfänge typologischen Denkens im europäischen Rationalismus. S. 7. (PDF; 188 kB).
- ↑Skript Uni Heidelberg SS07 (Memento vom 10. Juni 2007 imInternet Archive)
- ↑Archivierte Kopie (Memento vom 2. März 2008 imInternet Archive)
- ↑siehe Bernard Comrie:Language Universals and Linguistic Typology. Chicago University Press, Chicago 1989, insbesondere Kapitel 2.3.
- ↑Joseph H. Greenberg:A quantitative approach to the morphological typology of languages. In:International Journal of American Linguistics. Band 26, 1960, S. 178–194.
- ↑Gabriel Altmann, Werner Lehfeldt:Allgemeine Sprachtypologie. Fink, München 1973,ISBN 3-7705-0891-2.
- ↑George Silnitsky:Typological Indices and Language Classes. A Quantitative Study. In: Gabriel Altmann (Hrsg.):Glottometrika. Band 14, Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 1993,ISBN 3-88476-081-5, S. 139–160.
- ↑Contra: Bernard Comrie:Language Universals and Linguistic Typology. Chicago University Press, Chicago 1989 (englisch); vorsichtig pro: Larry Trask:Historical Linguistics. Hodder Arnold, London 1996, 8.3,ISBN 0-340-60758-0, 8.8 (englisch).