In derchristlichen Theologiegeschichte bezeichnetSpiritualismus eine Haltung, die von der Annahme der Gegenwart des göttlichenHeiligen Geistes (lat.spiritus sanctus) im menschlichen Körper bzw. in der Natur ausgeht und daher in Glaubensangelegenheiten alles als äußerlich Angesehene für unwesentlich hält oder sogar ganz ablehnt: von derKirche als Institution und denSakramenten undDogmen in manchen Fällen bis hin zum schriftlich fixiertenBibelwort.
Zuweilen taucht der Ausdruck „Spiritualismus“ als Fehlübersetzung aus dem Englischen auf, wospiritualism aberSpiritismus bedeutet.
Gelegentlich wird der Terminus als typologischer Begriff für die gesamteChristentumsgeschichte benutzt. Allgemeiner verbreitet ist er aber für eine Strömung, die erst in derReformationszeit aufkam, sich im 16. und 17. Jahrhundert feststellen lässt und ihre Nachwirkung vor allem imPietismus und bei denDissentern hatte.[1] Wegen der Abhängigkeit von der mittelalterlichenMystik, wie sie etwa durchJohannes Tauler oder dieTheologia deutsch vertreten wurde, wird die Strömung oft auch als „mystischer Spiritualismus“ bezeichnet.
Der schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für Außenseiter der Reformation gebräuchliche BegriffSpiritualist löste zeitgenössische abwertende Begriffe wie „Schwärmer“ oder „Schwarmgeister“ (häufig beiMartin Luther) ab. NachAlfred Hegler, derSebastian Franck 1892 als Prototypen des Spiritualismus in der Reformationszeit behandelte,[2] hat vor allemErnst Troeltsch in seinenSoziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen die Begriffsbestimmung geprägt. Troeltsch sah im „protestantischen Spiritualismus“, für den vor allem Sebastian Franck undValentin Weigel stehen, eine Verwirklichung eines der drei Grundtypen des Christentums, nämlich der Mystik, während dasTäufertum für den Sektentypus und die Hauptströmungen der Reformation gemeinsam mit dem Katholizismus für den Kirchentypus stehen.[3]Heinrich Bornkamm, der weitgehend dieselben Vertreter behandelte wie Troeltsch, benutzte die BegriffeSpiritualismus undprotestantische Mystik abwechselnd und unterstrich den Einfluss von Luthers Theologie.[4]Gustav Adolf Benrath stellte 1998 fest, dass es sich beim Spiritualismus „nicht um eine konfessionell festgelegte, schulmäßig vermittelte, in sich geschlossene Lehrtradition handelt“.[5] Neben dem auf Luther und die mittelalterliche Mystik zurückgehenden „mystischen Spiritualismus“ identifizierte er auch einen „libertinistischen Spiritualismus“, einen „apokalyptischen Spiritualismus“ und einen „humanistischen Spiritualismus“.[6]
Im englischen Sprachraum wird alsspiritualism im Allgemeinen das bezeichnet, was im deutschen alsSpiritismus gilt. In falscher Rückübersetzung wird dann gelegentlich auch der Spiritismus alsSpiritualismus bezeichnet.[7] Versuche, überEmanuel Swedenborg undJohann Heinrich Jung-Stilling eine Verbindung vom frühneuzeitlichen Spiritualismus zum Spiritismus herzustellen,[8] sind bislang ohne große Rezeption geblieben.
Die Denkhaltung des Spiritualismus zeigte sich schon in den Anfängen der reformatorischen Bewegung, prominent etwa bei Luthers zeitweisem GefährtenAndreas Bodenstein (genannt Karlstadt), der sich nach seinem Weggang aus Wittenberg 1522 mystischen Gedanken öffnete, die ihn dazu brachten, die Heilswirksamkeit der Sakramente zu bestreiten. Sein Abendmahlstraktat von 1524 eröffnete denAbendmahlsstreit und wurde auch fürZwingli bedeutsam, den Luther ebenfalls als Anhänger des „Schwärmertums“ ansah. Ein bedeutender Vertreter spiritualistischer Ideen war des WeiterenThomas Müntzer, der sowohl von dentäuferischen als auch von denreformierten Traditionen im südwestdeutschen Raum rezipiert wurde.[9] Die Impulse Müntzers wurden im Täufertum (z. B. beiLudwig Hätzer undHans Denck) ebenso aufgenommen wie im individualistischen Spiritualismus (Sebastian Franck,Kaspar von Schwenckfeld) und im eschatologischen bzw. apokalyptischen Spiritualismus (David Joris,Heinrich Niclaes). In einer eigenen Traditionslinie stehenParacelsus, sowie im späten 16. und frühen 17. JahrhundertValentin Weigel undJakob Böhme, deren Schriften weit über den deutschen Sprachraum hinaus wirkten. BeiJohann Arndt fand der Spiritualismus eine Form, die trotz Anfragen von Seiten derlutherischen Orthodoxie in der lutherischen Kirche vermittelbar blieb und auf den kirchlichenPietismus einwirken konnte.
Spiritualisten bildeten nur selten organisierte Bewegungen. Ausnahmen sind dieSchwenkfeldianer, die frühenQuäker und die vonJohann Georg Gichtel gegründetenGichtelianer. Erst imRadikalen Pietismus kam es in größerem Umfang zu Gruppenbildungen. Die sog. Geistchristen nachJohannes Greber sind eine kleine rezente Gruppierung die Elemente eines theologischen Spiritualismus im Sinne von Ernst Troeltsch vertritt.[10]