Saratow (russischСаратов,Ausspracheⓘ/?) ist eine Stadt in der gleichnamigenrussischenOblast. Sie hat 837.900 Einwohner (Stand 14. Oktober 2010)[1] und liegt am rechten, sogenannten „Bergufer“ der mittlerenWolga. Saratow ist ein wichtiges Kultur- und Wirtschaftszentrum sowie Universitätsstadt und bildet zusammen mit dem auf der anderen Seite der Wolga gelegenenEngels eine Agglomeration mit rund 1,2 Millionen Einwohnern.[2]
Saratow befindet sich im europäischen Teil Russlands. Die Stadt liegt an den Rändern des Hügellandes derWolgaplatte und erstreckt sich bis an das Ufer derWolga, die hier zumWolgograder Stausee gestaut wird. Das Stadtzentrum befindet sich unweit des Wolgaufers. Die Wolga ist hier etwa drei Kilometer breit und wird nahe dem Stadtzentrum von derBrücke von Saratow überquert.
Saratow ist Verwaltungssitz derOblast Saratow, welche den Großraum Saratow umfasst. Während die Oblast Saratow in 38Rajons (Kreise) unterteilt ist, gliedert sich die Stadt selbst in sechs Stadtteile (ebenfallsRajon genannt).
Saratow wurde 1590 als Zarenfestung gegründet. Vorher befand sich in der Gegend die Stadt Sarai Berke, die als „Hauptstadt“ derGoldenen Horde, des mongolischen Teilreichs in Osteuropa und Westsibirien gilt. Einige Historiker vermuten, dass der Name der Stadt aus dem Tatarischen stammt und so viel wie „Gelber Berg“ bedeutet.
Nach einemUkas desZarenFjodor Iwanowitsch begann im Jahre 1590 an der Wolga der Bau einer Bewachungsfestung, nachdem an der Wolga bereits 1586Samara und 1589Zarizyn gegründet wurden. Diese Festung sollte die Steppengebiete desZarentum Russland an der Wolga schützen und dieÜberfälle derReitervölker aus den Nachbargebieten eindämmen. Ebenso wichtig war die Sicherung des Wasserweges vonKasan nachAstrachan, der hier verlief. Die Festung wurde unter der Leitung des HeerführersGrigori Sassekin errichtet. Saratow war dabei nicht mehr nur wichtiger Militärstützpunkt, sondern auch großes Handelszentrum als Umschlagplatz des russischen Handels mit dem Orient geworden.
Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis zu den Deportationen im Zusammenhang mit demZweiten Weltkrieg lebten in Saratow zahlreicheWolgadeutsche, deren Tätigkeit auch in der Architektur der Stadt Spuren hinterlassen hat. Sie kamen überwiegend ausBayern,Baden,Hessen, derPfalz und demRheinland und folgten in den Jahren 1763 bis 1767 der Einladung der deutschstämmigen ZarinKatharina II. Nach dem Überfall des „Dritten Reiches“ auf die Sowjetunion im Juni 1941 ließJosef Stalin das Präsidium desObersten Sowjets der UdSSR am 28. August 1941 den Erlass „Über die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen“ beschließen. Die Wolgadeutschen wurden der kollektivenKollaboration beschuldigt, nachSibirien undZentralasien deportiert und dort inArbeitslager der „Arbeitsarmee“ (Трудармия) gezwungen, wobei Tausende starben.
Während ihrer Blütezeit im 19. Jahrhundert gehörte die Stadt zu den größten desRussischen Reiches.
Adam Olearius:Moskowitische und Persianische Reise (1647), Vierter Teil, 6. Kapitel, Beschreibung des Aufenthalts der schleswig-holsteinischen Gesandtschaft in Kasan
Bezogen auf die 1630er Jahre gibt es über Saratow schriftliche Zeugnisse aus einer Reisebeschreibung in deutscher Sprache, die auch eine Abbildung der Stadt[3] enthält.[4]
Die Stadt im Jahr 1916Die Moskauer Straße
Im Herbst 1856 wurde in Saratow ein Priesterseminar und 1857 ein Knabenseminar gegründet, das als Vorbereitungsschule für das Priesterseminar dienen sollte. Im Knabenseminar waren jährlich 25 Plätze für Kolonistenkinder reserviert; dabei wurden Waisen und Söhne aus armen Familien bevorzugt. Von den Absolventen des Knabenseminars besuchten nur etwa 20 % das Priesterseminar, die überwiegende Mehrheit ging als Lehrer in die Kolonien.[5] Vier Absolventen des Saratower Priesterseminars,Anton Johannes von Padua Zerr (1849 bis 1932),Josef Aloisius Keßler (1862 bis 1933),Alexander Frison (1873 bis 1937) undMarkus Glaser (1880 bis 1950) wurden Diözesanbischöfe.
ImErsten Weltkrieg war Saratow im Januar 1915 Zielort für Deportationskonvois von Deutschen, Juden, Ungarn, Österreichern und Slawen, die in den westlichen, frontnahen Gebieten des Reiches als mögliche Gefahr eingestuft wurden.[6]
Nach der Auflösung desGouvernements Saratow 1928 war Saratow in derRussischen SFSR zunächst Zentrum derOblast Untere Wolga, aus der bereits im selben Jahr der bis 1934 bestehendeKrai Untere Wolga wurde. 1932 wurde das Krai-Zentrum nachStalingrad verlegt. 1934 wurde der Krai Saratov gebildet und schließlich 1936 die bis heute bestehendeOblast Saratow.
Der erste Mensch im WeltallJuri Gagarin studierte an der Technischen Universität in Saratow und landete nach seinem legendären Flug 1961 auch in der Oblast Saratow.
Saratow ist ein bedeutendes Kulturzentrum an der Wolga. Die gesamte Altstadt ist sehr malerisch und hier gibt es zahlreiche prächtige Gebäudeensembles aus vielen Jahrhunderten, so etwa in der ehemaligenDeutschen Straße, heuteUliza Nemezkaja, jetztKirow-Prospekt genannt. Auf dem Kirow-Prospekt, heute eine reine Fußgängerzone, oder auf der Promenade am Wolgaufer flanieren Touristen und Einheimische. Prächtige Beispiele desJugendstils sind in Saratow allerorts zu finden wie etwa dieVilla Reineke vonFjodor Schechtel, die er 1912 errichtete. Eine besonders sehenswerte Kirche ist die Anfang des 20. Jahrhunderts erbauteKirche der Gottesmutter-IkoneLindere mein Leid. Lohnend ist eine Autofahrt über die drei Kilometer lange alteWolgabrücke, die das Zentrum von Saratow mit der am gegenüberliegenden Wolgaufer liegenden StadtEngels verbindet.
Eine der größten Touristenattraktionen der Stadt ist das am 29. Juli 1885 eröffnete Radischtschew-Kunstmuseum mit über 16.000 Exponaten. Es wurde vonAlexei Bogoljubow (1824–1896), dem Enkel vonAlexander Radischtschew, gegründet. Es ist eines der größten Museen der Welt für russische Kunst.
Im Raum Saratow wird vor allem im Wolgatal umfangreich Landwirtschaft betrieben. Im Industriebereich befinden sich in Saratow vor allem Maschinenbau-, chemische und erdölverarbeitende Unternehmen. Auch aufgrund der deutschen Traditionen der Stadt sind zahlreiche deutsch-russische Joint Ventures im Raum Saratow tätig.
Saratow besaß mit demFlughafen Saratow einen internationalen Flughafen mit vereinzelten Direktverbindungen ins Ausland sowie regelmäßigen Flügen in andere russische Metropolen sowie denFlugplatz Saratow-Dubki. Im August 2019 wurde der neueFlughafen Saratow-Gagarin in Betrieb genommen. Daneben spielen Eisenbahn-Fernverkehrsstrecken sowie nicht zuletzt auch die Wolga als stark befahreneBinnenschifffahrtsstraße eine große Rolle. Die Stadt ist Verwaltungssitz derWolga Regionaldirektion derRussischen Staatsbahn. Die Direktion betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehöriger Infrastruktur im Großraum Saratow, sondern auch ein über 4237 Kilometer langes Schienennetz.
Der öffentliche Personennahverkehr wird von Buslinien,Trolleybussen undStraßenbahnen getragen.In den 1990er Jahren wurde der öffentliche Nahverkehr privatisiert. Wegen der unzuverlässigen Busse wurde ab 2017 eine neue Schnellbahn geplant. 2023 wurden für den Bau mehrere Straßenbahnlinien stillgelegt.[7] Die Eröffnung verschob sich von Ende 2023 auf Sommer 2025.
Autobahnen und für russische Verhältnisse gut ausgebaute Fernstraßen führen von der Stadt aus direkt in die umliegende Großstädte. Über eine Zweigstrecke der russischen FernstraßeR22 Kaspi ist Saratow mit dem Umland der russischen HauptstadtMoskau verbunden. Auf dieser Strecke verläuft auch dieEuropastraße 38 (vonHluchiw,Ukraine nachQysylorda,Kasachstan). Die Stadt ist über die FernstraßeR158 mitNischni Nowgorod,Saransk undPensa verbunden. Hier wird sie von derR228 gekreuzt, die vonSysran nachWolgograd führt.
Saratow gilt im Wolgaraum als Stadt der Kultur, zum einen wegen der langen und bedeutenden Tradition der Stadt, zum anderen natürlich wegen der umfangreichen Kunstsammlung, die mit 16.000 Exponaten und mit Werken alter Meister von globaler Bedeutung ist. Daneben gibt es aber auch zahlreiche Theater, Kinos und weitere große Kultur- und Vergnügungsstätten. Zum Kulturaustausch gibt es in der Stadt eine Vertretung desGoethe-Instituts und ein Deutsches Haus. In Saratow gibt es eine Oper, die schon längst über die russischen Grenzen hinaus von sich reden macht.
In Saratow entstand am 11. Februar 2002 aus der „Römisch-katholischen Administratur für die Katholiken des lateinischen Ritus im Süden des europäischen Russlands“ das katholischeBistum St. Clemens. 2004 wurde das Bistum staatlich anerkannt und ist dadurch eine Art „eingetragener Verein“.[8] Die Bischofskirche istSt. Peter und Paul.
Im Jahr 1793 wurde in Saratow die evangelisch-lutherische St.-Marien-Kirche eingeweiht. Sie lag direkt im Stadtzentrum und wurde 1971 durch Sprengung zerstört. Die Gemeinde versammelte sich danach an verschiedenen Orten und begann im Jahr 2008 mit dem Bau einer neuen Kirche.[9] Es entstand ein Gebäude, das über 200 Personen fassen kann und über zahlreiche kleine und große Räume verfügt. Am 13. Mai 2018 fand die Einweihung der neuen St.-Marien-Kirche statt. An dem Festgottesdienst beteiligte sich auch der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland,Rüdiger von Fritsch, der – als ordinierter lutherischer Prediger – die Festpredigt hielt.
Zu den bekanntesten Sportvereinen der Stadt gehört derEishockey-ClubHKKristall Saratow, der am SpielbetriebWysschaja Hockey-Liga (WHL) teilnimmt. Seine Heimspielstätte ist die 1969 eröffnete MehrzweckhalleSport Palast Kristall, die knapp 5.000 Zuschauerplätze hat und außer für Eishockeyspiele auch für Veranstaltungen in diversen Hallensportarten sowie für Konzerte und Ausstellungen genutzt wird. Die Halle wird ebenfallsBasketballklubBKAwtodor Saratow genutzt, der in derVTB United League spielt.
Im Fußball ist bzw. war die Stadt durch den VereinPFK Sokol Saratow vertreten, der für mehrere Saisons in der höchsten russischen Klasse, derPremjer-Liga, spielte, gegenwärtig jedoch zwischen dem eine Klasse tieferenPerwenstwo FNL und dem drittklassigenPerwenstwo PFL pendelt. Die Stadt besitzt mit dem 1962 eröffneten und bis zu 15.000 Zuschauer fassendenLokomotiv-Stadion eine eigene Spielstätte.
In der Stadt bestand dasKriegsgefangenenlager238 fürdeutsche Kriegsgefangene desZweiten Weltkriegs, das im Herbst 1947 als Lager368 nachEngels verlegt wurde.[10] Schwer Erkrankte wurden in den beiden Kriegsgefangenenhospitälern3631 und5138 versorgt. Südlich der Stadt befand sich ein Friedhof, auf dem 70.000 Kriegsgefangene bestattet wurden; ein weiterer Friedhof mit 2.000 Toten war auf einem der umliegenden Hügel angelegt.
↑abItogi Vserossijskoj perepisi naselenija 2010 goda. Tom 1. Čislennostʹ i razmeščenie naselenija (Ergebnisse der allrussischen Volkszählung 2010. Band 1. Anzahl und Verteilung der Bevölkerung). Tabellen5, S. 12–209;11, S. 312–979 (Download von der Website des Föderalen Dienstes für staatliche Statistik der Russischen Föderation)
↑Sergej G. Nelipowitsch:Die Politik der militärischen Führung Russlands gegenüber den Deutschen während des Ersten Weltkrieges 1914–1918. In: Alfred Eisfeld et al. (Hrsg.):Deutsche in Russland und in der Sowjetunion 1914–1941. Lit Verlag, Berlin 2007.
↑Julia Winogradowa,Dietrich Brauer:Endlich wieder Kirchweihe! In Saratow wurde nach 225 Jahren die St. Marienkirche wieder eingeweiht. In:Lutherischer Dienst. Zeitschrift des Martin-Luther-Bundes, 54. Jahrgang, 2018, Heft 3, S. 14–15.
↑Erich Maschke (Hrsg.):Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld 1962–1977.