Rutil kristallisiert imtetragonalen Kristallsystem und entwickelt meist kurz- bis langprismatische, vertikal gestreifteKristalle und sehr häufigKristallzwillinge in Form polysynthetischer, lamellarer und zyklischer Drillinge, Vierlinge und Sechslinge, aber auch körnige bis massigeMineral-Aggregate. Die meisten Rutilkristalle sind zwischen einigen Millimetern und wenigen Zentimetern groß. Es konnten aber auch Kristalle von bis zu 25 cm Länge gefunden werden.[4]
Die Farbe der meist durchsichtigen bis durchscheinenden Kristalle variiert zwischen rötlichbraun und kräftig rot, kann aber auch goldgelb, bläulich oder violett sein. Ebenso sind bunte Anlauffarben möglich. Die Oberflächen der Kristalle weisen einen diamantähnlichenGlanz auf.
Beschrieben wurde Rutil 1803 vonAbraham Gottlob Werner, der das Mineral in Anlehnung an seine häufig vorkommende, durchEisen-Verunreinigungen erzeugte, rötliche Farbe (lateinischrutilus) benannte.
Bis 1795, als seine chemische Zusammensetzung bekannt wurde, wurde Rutil fälschlicherweise für ein Mineral derTurmalingruppe gehalten.
Bereits in der seit 1982 veralteten8. Auflage der Mineralsystematik nach Strunz gehörte der Rutil zur Mineralklasse der „Oxide und Hydroxide“ und dort zur Abteilung der Oxide mit der allgemeinen Formel „MO2- und verwandte Verbindungen“, wo er als Namensgeber die „Rutil-Reihe“ mit der System-Nr.IV/D.02 und den weiteren MitgliedernKassiterit,Plattnerit undVarlamoffit bildete.
Im zuletzt 2018 überarbeiteten und aktualisiertenLapis-Mineralienverzeichnis nach Stefan Weiß, das sich aus Rücksicht auf private Sammler und institutionelle Sammlungen noch nach dieser klassischen Systematik vonKarl Hugo Strunz richtet, erhielt das Mineral die System- und Mineral-Nr.IV/D.02-10. In der „Lapis-Systematik“ entspricht der Abteilung „Oxide mit dem Stoffmengenverhältnis Metall : Sauerstoff = 1 : 2 (MO2- und Verwandte)“, wo Rutil zusammen mitArgutit, Kassiterit,Paratellurit, Plattnerit,Pyrolusit undTripuhyit die „Rutil-Gruppe“ bildet.[7]
Die seit 2001 gültige und von derInternational Mineralogical Association (IMA) bis 2009 aktualisierte[8]9. Auflage der Strunz’schen Mineralsystematik ordnet den Rutil ebenfalls in die Abteilung der „Oxide mit dem Stoffmengenverhältnis Metall : Sauerstoff = 1 : 2 und vergleichbare“ ein. Diese ist allerdings weiter unterteilt nach der Größe der beteiligtenKationen und der Kristallstruktur, so dass das Mineral entsprechend seiner Zusammensetzung und seinem Aufbau in der Unterabteilung „Mit mittelgroßen Kationen; Ketten kantenverknüpfterOktaeder“ zu finden ist, wo es ebenfalls als Namensgeber die „Rutilgruppe“ mit der System-Nr.4.DB.05 und den weiteren Mitgliedern Argutit, Kassiterit, Plattnerit, Pyrolusit, Tripuhyit,Tugarinovit und Varlamoffit bildet.
Die Rutil-Struktur ist ein häufig auftretenderStrukturtyp für AB2-Verbindungen (Strukturbericht-Bezeichnung C4,Pearson-Symbol tP6) und beruht im Gegensatz zurFluoritstrukturnicht auf einer dichtestenKugelpackung. Die Oxid-Anionen sind zwar in der Art von verzerrten und gewellten „hexagonalen“ Schichten angeordnet, wobei die Hälfte der dazwischen befindlichenOktaederlücken durch die Titan-Kationen besetzt sind, aufgrund der tetragonalen Symmetrie bilden diese gewellten Schichten jedoch keine dichteste Kugelpackung aus.
DieKristallstruktur lässt sich daher besser als eine tetragonale Stabpackung aus Strängen kantenverknüpfter [TiO6]-Oktaeder (gemäß derNiggli-Schreibweise: [TiO4/2O2/1]) beschreiben, die parallel der kristallographischenc-Achse verlaufen. Die Stränge sind weiterhin über gemeinsame Ecken zu einem dreidimensionalen [TiO6/3]-Netzwerk verknüpft, woraus sich gekürzt dieSummenformel TiO2 ergibt. Die oktaedrisch von Sauerstoffatomen umgebenen Titan-Kationen weisen damit dieKoordinationszahl 6 auf, während die Oxid-Anionen von drei Titanatomen in einer leicht verzerrten trigonal planaren Anordnung umgeben sind (Koordinationszahl 3).
Rutil bildet häufig prismatische Kristalle mit dicksäuligem bis feinnadeligemHabitus, an denen oft die Flächenformen {110} und {010} vorherrschen und deren Kristallflächen parallel [001] gestreckt und gestreift sind. Neben vielen anderen Formen kommen auch ditetragonale Prismen vor.
In feinnadeliger bis faseriger Form eingeschlossen, ist Rutil für den unter anderem für den beiSaphiren undRubinen vorkommendenAsterismus (Lichtstern) verantwortlich. In mikroskopischen Einschlüssen kann er nebenHämatit und anderen Mineraleinschlüssen die vor allem bei Quarzen beobachteten „Phantomkristalle“ betonen.
Zwillingsbildungen sind bei Rutil allgemein anzutreffen, die sich nach zwei Gesetzen bilden können: Besonders häufig kommen Zwillinge, Drillinge und polysynthetische Viellinge in lamellarer oder zyklischer Form nach (101) vor, wobei die Individuen unter einem Winkel von 65°35′ aneinanderstoßen. Charakteristisch sind dabei vor allem knie- bzw.visierförmige und V-förmige Zwillingsbildungen und sogar Sechslinge, die geschlossene Ringe bilden. Seltener sind Zwillinge nach (301) in Herzform, deren Vertikalachsen sich unter 54°44′ treffen. Beide Gesetze können auch gleichzeitig auftreten und dadurch ein gitter- oder netzförmige Aggregate bilden, die alsSagenit bezeichnet werden.
Rutil kann in verschiedenen Farben auftreten, am häufigsten findet er sich aber in rötlichbrauner bis kräftig roter und schwarzer Farbe. AlsInklusionen (Einschlüsse) in anderen Mineralen – wie beispielsweise inQuarz – glänzt Rutil auch in kräftig goldgelber Farbe und wird in dieser Form alsVenushaar bezeichnet und gern zuSchmucksteinen verarbeitet. Selten dagegen treten bläuliche oder violette Farbtöne auf.
Sagenit wird eine Rutilvarietät genannt, die flache, netz- bis gitterartige Verwachsungen von nadelartigen feinen Rutilzwillingen aufweist. Sie wird auch alsepitaktische (orientierte) Verwachsung bezeichnet.
Nigrin ist die Bezeichnung für eineneisenhaltigen, schwarzen Rutil.
Rutilkristall auf Matrix vom Berg Kapudschuk, Aserbaidschan (Größe: 5 cm × 3,2 cm × 3,5 cm)
Als häufige Mineralbildung ist Rutil an vielen Orten weltweit anzutreffen, wobei bisher rund 5900 Fundorte dokumentiert sind (Stand 2019).[9]
Erwähnenswert aufgrund seiner außergewöhnlichen Mineralfunde sind unter anderem die „Graves Mountain Mine“ im US-amerikanischenLincoln County (Georgia), in der bis zu 15 cm große Kristalle zutage traten. Aus der „Cavradi-Schlucht“ beiSedrun im SchweizerKanton Graubünden sowie der GemeindeIbitiara im brasilianischen BundesstaatBahia kennt man besonders schöne Rutil-Hämatit-Epitaxien. Zudem werden in Ibitiara sowie in der zum BundesstaatMinas Gerais gehörenden GemeindeItabira häufig Rutil-Inklusionen inRauchquarz entdeckt. Große knie- bzw. visierförmige Kristallzwillinge bis etwa 7 cm Größe fanden sich beiGolčův Jeníkov undSoběslav in Tschechien.[10] Kristalle von bis zu 3 cm Durchmesser und 5 cm Länge fanden sich in derLagerstätteParagatschaj auf dem Berg Kapudschuk,Autonome Republik Nachitschewan inAserbaidschan.
Weltweit werden die Abbau-Reserven für die wichtigsten Titanminerale Ilmenit und Rutil auf 750 Millionen Tonnen geschätzt, wobei der Rutilanteil nur 49 Millionen Tonnen beträgt. Die größten bekannten Rutilreserven hat dabei mit AbstandAustralien (31 Mio. Tonnen), gefolgt vonIndien (7,4 Mio. Tonnen),Südafrika (6,5 Mio. Tonnen) und derUkraine (2,5 Mio. Tonnen). In diesen 4 Ländern befinden sich 2022 fast 97 % der bekannten Rutilreserven. Abgebaut wurden 2020 global ca. 605.000 Tonnen Rutil. Hauptförderländer waren Australien,Sierra Leone, Ukraine und Südafrika.[12] Einen Überblick gibt die folgende Tabelle.
Rutil ist mit einemMetall-Gehalt von etwa 60 % nachIlmenit das bedeutendsteTitan-Mineral.
Titandioxid in der Rutil-Modifikation wird aufgrund der hohen Lichtbrechung als Weißpigment verwendet. Außerdem dient er allein oder in Verbindung mitZellulose als Umhüllung vonElektroden für dasLichtbogenschweißen, die das Schweißen verbessert oder erst ermöglicht.
Aufgrund seinerHalbleitereigenschaften findet Rutil in der Farbstoffsolarzelle, der sogenanntenGrätzel-Zelle, Verwendung. SeineBandlücke beträgt etwa 3,0 eV, es kann daher Licht mit einer Wellenlänge kleiner als etwa 400 nm absorbieren.
Natürlicher Rutil wird nur gelegentlich von Sammlern zuSchmucksteinen verarbeitet, da er meist zu kleine Kristalle ausbildet. Synthetischer Rutil dagegen wird seit 1948 unter dem Handelsnamen „Titania“[13] oder „Diamonit“ (nicht zu verwechseln mitDiamondit!) alsDiamantimitation verkauft, wobei er dessen Glanz durch sechsmal so hoheDispersion (Feuer) sogar weit übertrifft.[14]
Gern zu Schmucksteinen verarbeitet werden auch in anderen Mineraleneingeschlossene Rutilnadeln, die neben dem goldenen Glanz auch für verschiedene optische Effekte wie beispielsweiseAsterismus (sternförmige Lichtreflexe) undChatoyance (Katzenaugeneffekt) sorgen.
Martin Okrusch, Siegfried Matthes:Mineralogie. Eine Einführung in die spezielle Mineralogie, Petrologie und Lagerstättenkunde. 7., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Springer, Berlin [u. a.] 2005,ISBN 3-540-23812-3,S.55–56.
↑abDavid Barthelmy: Mineral Data. In: webmineral.com. Abgerufen am 13. Juli 2021 (englisch).
↑abHugo Strunz,Ernest H. Nickel:Strunz Mineralogical Tables. Chemical-structural Mineral Classification System. 9. Auflage. E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung (Nägele u. Obermiller), Stuttgart 2001,ISBN 3-510-65188-X,S.206 (englisch).
↑abRutile. In: John W. Anthony, Richard A. Bideaux, Kenneth W. Bladh, Monte C. Nichols (Hrsg.):Handbook of Mineralogy, Mineralogical Society of America. 2001 (englisch,handbookofmineralogy.org [PDF;70kB; abgerufen am 13. Juli 2021]).
↑abGeorg Talut:Ferromagnetismus in mit Fe implantierten GaN und TiO2. Technische Universität Dresden, Dresden Dezember 2009 (tud.qucosa.de [PDF;12,0MB; abgerufen am 13. Juli 2021] Dissertation zur Erlangung des akademischen Gradesdoctor rerum naturalium (Dr. rer. nat.)).
↑abcRutile. In: mindat.org. Hudson Institute of Mineralogy, abgerufen am 13. Juli 2021 (englisch).
↑Stefan Weiß:Das große Lapis Mineralienverzeichnis. Alle Mineralien von A – Z und ihre Eigenschaften. Stand 03/2018. 7., vollkommen neu bearbeitete und ergänzte Auflage. Weise, München 2018,ISBN 978-3-921656-83-9.
↑Walter Schumann:Edelsteine und Schmucksteine. Alle Arten und Varietäten. 1900 Einzelstücke. 16., überarbeitete Auflage. BLV Verlag, München 2014,ISBN 978-3-8354-1171-5,S.220.