Villa Déramond, Raymond Barres Geburtshaus auf Réunion
Raymond Barre wurde als Sohn eines Kaufmanns auf der französischen Insel Réunion imIndischen Ozean in derVilla Déramond geboren, wo er auch seine Jugend bis auf eine Unterbrechung von wenigen Monaten im Jahr 1934 verlebte. Er besuchte zunächst dieselbeGrundschule wie der Journalist und PolitikerRaymond Bourgine, bevor er auf dasLycée Leconte de Lisle wechselte. Dort war der spätere RechtsanwaltJacques Vergès sein Klassenkamerad. Anschließend wurde er in dieÉcole de droit de la Réunion aufgenommen. Im Alter von zwanzig Jahren konnte er nicht, wie in seiner Familie üblich, an derUniversität Montpellier Medizin studieren, da er 1945 zu einem Artillerieregiment desCorps expéditionnaire français en Extrême-Orient inMadagaskar einberufen wurde.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging er Anfang 1946 nach Paris, wo er bis 1950 ein Zimmer in derCité Internationale Universitaire de Paris mietete. Barre schloss 1948 sein Studium amInstitut d’études politiques de Paris (Sciences Po) mit Diplom im Bereich Öffentlicher Dienst ab, im Jahr darauf promovierte er an derUniversität von Paris (Sorbonne) zum ThemaLa Période dans l'analyse économique. Une approche de l'étude du temps. 1950 erhielt er dieAgrégation (Lehrbefugnis für höhere Schulen) in Recht und Wirtschaftswissenschaften und wurde noch im selben Jahr, mit nur 26 Jahren, Hochschullehrer an derUniversität Caen. Von 1951 bis 1954 lehrte er amInstitut des hautes études inTunis, Tunesien war damals noch französisches Protektorat. Anschließend kehrte er nach Caen zurück, wo er eine ordentliche Professur erhielt. 1958 wurde er Direktor des Dienstes für Wirtschaftsforschung bei derFondation nationale des sciences politiques (FNSP). Barre veröffentlichte 1959 ein Lehrbuch der politischen Ökonomie, das seither in 15 Auflagen erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Nach Ausrufung der Fünften Republik 1958 wurde Barre Büroleiter(directeur de cabinet) des gaullistischen IndustrieministersJean-Marcel Jeanneney. Parallel dazu war er ab 1961 Professor für Ökonomie an der Sciences Po. Mit Jeanneneys Ausscheiden aus dem Amt 1962 verließ auch Barre das Ministerium, im Jahr darauf erhielt er den Lehrstuhl für politische Ökonomie an der Pariser Rechtsfakultät. 1966 wurde er in den Beirat des Zentrums für Einkommens- und Kostenstudien imCommissariat général du Plan berufen.
Aus seiner 1954 geschlossenen Ehe mit der aus ungarisch-jüdischer Familie stammenden Éva Hegedűs gingen die beiden Söhne Olivier (* 1955) und Nicolas (* 1961) hervor.[1]
Raymond Barre starb am 25. August 2007 im Alter von 83 Jahren im MilitärkrankenhausVal-de-Grâce in Paris und wurde auf demCimetière du Montparnasse bestattet.
Während der Präsidentschaft vonValéry Giscard d’Estaing war der Parteilose Raymond Barre von Januar bis August 1976 Minister für Außenhandel im Kabinett des PremierministersJacques Chirac.
Giscard ernannte Barre nach der Entlassung Chiracs im März 1976 selbst zumPremierminister Frankreichs. Er sah sich, in seiner zusätzlichen Funktion alsWirtschafts- und Finanzminister (1976–1978), wegen hoher Arbeitslosigkeit und Inflation zu einer strengen Sparpolitik gezwungen. Er musste mit den Folgen des Ölpreisschocks, einer Abwertung des französischen Franc und einer zweistelligen Inflation fertigwerden. Trotz dieser Maßnahmen konnte er weder die Arbeitslosigkeit noch dieInflation senken. Bei der Parlamentswahl 1978 schlossen sich die Parteien, die die Präsidentschaft Giscard d’Estaings unterstützten, zurUnion pour la démocratie française (UDF) zusammen, der Barre fortan nahestand, ohne jedoch formal Parteimitglied zu sein. Er gewann auch das Abgeordnetenmandat im 4. Wahlkreis desDépartements Rhône, auf das er jedoch verzichtete, da es nicht mit einem Regierungsamt vereinbar war. Unbeirrt übte er das Amt fast fünf Jahre lang aus, bis Giscard d’Estaing als Staatspräsident 1981 seinem sozialistischen NachfolgerFrançois Mitterrand weichen musste.[2]
Barre bei der Verleihung des Coudenhove-Kalergi-Preises anHelmut Kohl, 1991
Von 1981 bis 2002 vertrat Raymond Barre den 4. Wahlkreis desDépartements Rhône in derNationalversammlung. Dort war er Gast der UDF-Fraktion (bzw. in der Legislaturperiode 1988–93 der christdemokratischenUnion du centre, UDC) sowie ab 1986 Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Bei derPräsidentschaftswahl in Frankreich 1988 war er Kandidat der Mitte-rechts-Partei UDF, ohne jedoch deren Mitglied zu sein. Mit 16,5 % der Stimmen schied er als Drittplatzierter hinterFrançois Mitterrand undJacques Chirac im ersten Wahlgang aus.
Nach einem Finanzskandal seitens derLyoner Stadtverwaltung trat der bisherige BürgermeisterMichel Noir (RPR) im Juni 1995 nicht zur Wiederwahl an. Barre wurde Kandidat des Mitte-rechts-Lagers aus UDF und RPR und gewann die Wahl zum Bürgermeister der drittgrößten Stadt des Landes. Lyon war 1996 auf Barres Initiative Gastgeber desG7-Gipfels. Als Bürgermeister weihte er im Jahr 2000 die neueStraßenbahn Lyon ein. Bei der Kommunalwahl 2001 trat er nicht mehr an, die Linke gewann und der SozialistGérard Collomb wurde zu Barres Nachfolger gewählt.
Als am 3. Oktober 1980 eine Bombe vor derSynagoge der Rue Copernic explodierte, beklagte Barre als Premierminister die Todesopfer des Attentats, das statt der beabsichtigten Juden in der Synagoge „unschuldige Franzosen“ auf der Straße davor getroffen habe. Diese Formulierung stieß auf Kritik, da sie suggerierte, dass Juden keine unschuldigen Franzosen seien. Daraufhin stellte er vor der Nationalversammlung klar, dass den „jüdischen Mitbürgern […] das Mitgefühl der gesamten Nation“ gelte. Barres Kabinett gehörte als Haushaltsminister von 1978 bis 1981Maurice Papon an, der während des Zweiten Weltkriegs mit den deutschen Besatzernkollaboriert und an derDeportation von Juden in die Vernichtungslager mitgewirkt hatte. Als dieser 1997/98 trotz aller gegenteiligen Bemühungen der französischen Elite vor Gericht kam, betonte der mit einer Jüdin verheiratete Raymond Barre dessen „Anständigkeit“.
Aufsehen erregte er Anfang März 2007, als er in einerRadiosendung aufFrance Culture den kurz zuvor verstorbenen Maurice Papon sowie den RechtsextremenBruno Gollnisch von derFront National in Schutz nahm, der wegen relativierender Äußerungen zumHolocaust verurteilt worden war. Mit seiner missverständlichen Äußerung zum Bombenanschlag in der Rue Copernic 1980 konfrontiert, warf Barre einer angeblich „am meisten mit der Linken verbundenen jüdischen Lobby“ vor, „unwürdige Operationen zu inszenieren“.[3]
Der Dachverband jüdischer OrganisationenCRIF wies Barres Äußerungen als skandalös zurück.[3] Der UDF-VorsitzendeFrançois Bayrou verurteilte seine Äußerungen, „die die Werte der Republik in Frage stellen“ als „schlicht und einfach inakzeptabel“. RegisseurClaude Lanzmann (Shoah) warf Barre im BlattLibération vor, ein „Antisemit“ zu sein, „sich zumHerold dieser ekelhaften Leidenschaft zu machen, sie zupropagieren und sich dessen zu rühmen“.SOS Racisme forderte den JustizministerPascal Clément auf, ein Verfahren gegen Barre einzuleiten. Auch dieFranzösische Liga für Menschenrechte verurteilte Barres „entehrenden“ Worte.[4] Barre konterte wiederum, dass es eine „Clique“ gebe, die ihn seit 1979 verfolge und versuche, ihn als Antisemiten darzustellen.[5]