Raetia secunda (Vindelica) oderVindelikien (Vindelicien) war eine im Zuge derdiokletianischen Reichsreformen im frühen 4. Jahrhundert durch Teilung der vormaligen ProvinzRaetia entstandenespätantikerömische Provinz. Sie umfasste das nördlicheAlpenvorland zwischenIller,Donau undInn, darüber hinaus wohl auch einen nordöstlichen Teil des heutigenTirol. IhreHauptstädte warenCambodunum (Kempten) und späterAugusta Vindelicorum (Augsburg). Die NamenVindelica,Vindelicien,Vindelikien undAugusta Vindelicorum gingen auf das keltische Volk derVindeliker zurück, die hier bis zum römischen Feldzug von 15 v. Chr. selbständig lebten. Der NamensbestandteilRaetia rührte vom südlich benachbarten Volk derRäter her, gegen die dieser Feldzug zunächst geführt worden war. Im 5. und 6. Jahrhundert wurde (ein Teil von)Raetia secunda auch Bestandteil desOstgotenreichs, vonAlamannen besiedelt und östlich desLech Keimzelle desgermanischenVolksstamms derBajuwaren.
Die VorgängerprovinzRaetia wurde im früheren 1. Jahrhundert n. Chr. auf 15 v. Chr. erobertem Gebiet eingerichtet. Einige der dort unterworfenen Völker wurden von den Römern alsVindelici, andere alsRaeti bezeichnet (vgl.Räter). Von den Rätern erhielt die Provinz, von den Vindeliziern ihre HauptstadtAugusta Vindelicorum ihren Namen. Vor Augusta Vindelicorum war jedochCambodunum die Hauptstadt der Provinz. Im zweiten Drittel des dritten Jahrhunderts nahmen die Raubzüge der Germanen aus dem nördlich benachbartenGermania Magna in die Provinz Rätien dramatisch zu. Sie konnten aufgrund einer ausgedünnten Truppensituation von den Römern nicht mehr nachhaltig zurückgedrängt werden. Auch ein vorübergehender Anschluss an dasGallische Sonderreich, welches eine entschlossene Verteidigung der Grenzen gegen die Germanen versprach, brachte nur einen vorübergehenden Erfolg. Die nördliche Limesgrenze wurde um 260 nach Süden an die Donau zurückgenommen (Limesfall). Die westliche Grenze wurde vom Schwarzwald nach Osten an dieIller zurückgenommen. Von Kempten (Cambidanum) verlief die neue Grenze entlang derArgen, demBodensee und demHochrhein (Donau-Iller-Rhein-Limes). Das heutige Oberschwaben und der Schwarzwald wurden von den Römern nach und nach systematisch geräumt. Die Provinz Raetia verkleinerte sich drastisch. Das von den Römern niemals de jure, aber zumindest de facto aufgegebene Land, der Schwarzwald und Oberschwaben wurden von Westen und von Norden ab dem 4. Jahrhundert vonAlemannen besiedelt, die sich allmählich auch nach Osten über die Iller ausbreiteten und ihre Siedlungsaktivität bis zumLech vortrieben.
Im Zuge derdiokletianischen Reichsreformen wurde die Provinz Raetia 297 n. Chr. entlang desBodensees und derNordalpen in zwei neue Provinzen,Raetia prima (Curiensis) undRaetia secunda (Vindelica), aufgeteilt (mit kleinen Verschiebungen von Grenzen zu Nachbarprovinzen). Die beiden neuen Provinzen gehörten zurDioecesis Italiae und waren militärisch gemeinsam einemDux Raetiae unterstellt. Die Zivilverwaltung oblag in den beiden neuen Provinzen jeweils einempraeses,Statthaltern niederen Ranges. Von deren ResidenzenCuria Raetorum (Chur) undAugusta Vindelicorum (Augsburg) leiteten sich die späteren deutschen Bezeichnungen «Churrätien» und «Vindelicien» ab.
Die spärlichenQuellen erlauben nur Plausibilitätsschlüsse bezüglich der genauen Teilungslinie. Bis zu den 30er Jahren herrschte die Meinung vor,Raetia secunda habe gerade den transalpinen Teil (dasAlpenvorland) derRaetia umfasst.[1] Die Bezeichnung derRaetia II als „Vindelikien“ u. ä. legt dies nahe, wenn angenommen wird, dieVindeliker hätten lediglich im Alpenvorland und nicht in den Alpen gelebt, vgl. DroysensKarte (und den ArtikelRäter).
Heute findet man etwa imNeuen Pauly von 2001[2] die Angabe, die Teilungslinie sei vonIsny über denArlberg durchsMünstertal zumStilfserjoch verlaufen, oder ungefähr entlang der heutigen GrenzenVorarlbergs undGraubündens zuDeutschland undTirol (Nord- und Südtirol).Heuberger (1930e, S. 358ff.) argumentierte, im 6. Jahrhundert habe ein Bischof vonSäben gleichzeitig als Bischof derRaetia secunda gegolten, dienicht erst nach dem Verlust des Alpenvorlands als „neue“Raetia II von der bisherigenRaetia I abgeteilt worden sei (S. 364). Er geht von späteren Quellen aus, Originalquellen aus dem 6. Jahrhundert sind hierzu überhaupt nicht erhalten.
Unbestritten ist wohl, dass das Alpenvorland zwischen Iller, Donau und Inn (der seit dem 3. Jahrhundert Rom gebliebene Teil „Vindelikiens“) zurRaetia secunda gehörte[3] (deren HauptstadtAugusta Vindelicorum lag ja zwischen Iller und Lech, und dieVita Sancti Severini erklärt, dassKünzing an der Donau undBatavis (Castra Batava,Passau) Orte derRaetia secunda waren).[4] Weniger klar ist, wie weitRaetia II auch in die Alpen reichte, außerdem noch, wie das Gebiet zwischen Iller,Argen undAlpenrheinmündung aufgeteilt wurde. (Man vergleiche auchRaetia: Teilung der Provinz.)
Im 5. Jahrhundert schwand die römische Kontrolle über das Alpenvorland, dieGrenzkastelle derRaetia II an derDonau wurden nach und nach aufgegeben, derVita Sancti Severini zufolge zuletzt gegen 470Quintanis (Künzing) undBatavis (Castra Batava,Passau)[5] unter dem Eindruck ständigerAlamannen-Überfälle (entlang der Donau). Als der OstgotenkönigTheoderich der Große die Führung Westroms übernahm, versuchte er, die frühere ProvinzRaetia wieder als Bollwerk zu festigen, u. a. durch Aufnahme von denFranken bedrängter Alamannen. Es ist nicht klar, wie weit er so wieder Kontrolle über das Alpenvorland gewann.
Südlich der Donau dehnten dieAlamannen ihr Siedlungsgebiet bis um 500 über die Iller hinweg zumLech aus. In der folgenden Zeit bildete sichöstlich des Lech aus Alamannen, anderen germanischen Einwanderern, verbliebenen Vindelikern und römischer Zivilbevölkerung der germanische Stamm derBajuwaren (Baiern).Thomas Fischer zufolge wurde dieseEthnogenese von Theoderich zur Festigung der Nordgrenze seines Reichs „gesteuert“.[6]
Spätestens seit der Zerschlagung des Ostgotenreiches durch den oströmischen KaiserJustinian I. um 540 bestand kein wesentlicher Bezug der früheren transalpinenRaetia, deseigentlichen Vindelikien, zum Römischen Reich mehr. Im Gegensatz dazu blieben im Gebiet der südlichen, vonChur (Curia Raetorum) aus verwalteten SchwesterprovinzRaetia prima die BegriffeChurrätien,Rätien undrätisch u. ä. in derSchweiz (Graubünden) seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit im Gebrauch, vor allem für die Gemeinschaft derDrei Bünde und für Einrichtungen des modernenGraubünden.
Die Entstehung und folgende Ausbreitung der Bajuwaren betraf auch die östliche NachbarprovinzNoricum und schließlich den (südlich davon gelegenen, mutmaßlichen)alpinen Teil derRaetia secunda. Die Bajuwaren bevölkertenAltbayern (Raetia II östlich des Lech) undÖsterreich, in den AlpenTirol. Sie bildeten später dasHerzogtum Bayern.
Westlich des Lech orientierten sich die Alamannen ungeachtet der Provinzgrenzen zu ihren Verwandten um denOberrhein und denBodensee hin, wo sie bis 746 imfränkischen Reich ein autonomesHerzogtumAlamannien bildeten.
Im 19. Jahrhundert gelangte dasKönigreich Bayern in den Besitz eines TeilsSchwabens, genanntBayerisch-Schwaben, zwischen Iller und Lech gelegen und sich von denAllgäuer Alpen noch (wie einstRaetia) über die Donau hinweg in den LandkreisDonau-Ries erstreckend. AlsRegierungsbezirk Schwaben untersteht dieses Gebiet heute demFreistaat Bayern. Als „Ironie der Geschichte“ wurden so die beiden Völker der Alamannen und derBaiern, die sich in Vindelikien auseinanderentwickelt hatten, lokal wieder aufeinander angewiesen. In gewisser Weise wurde das Vorrücken der Alamannen von der Iller zum Lech in derVölkerwanderungszeit durch diese politische Entwicklung 1300 Jahre später „korrigiert“.
Weitere Einzelheiten, größere Zusammenhänge und Quellenangaben finden sich in den Artikeln