Unter der BezeichnungPyramidologie werden unterschiedlichepseudo- undgrenzwissenschaftliche Theorien zusammengefasst. Gegenstand dieser Theorien sind Abmessungen und Anordnungen in erster Linie derPyramiden desAlten Ägypten (vor allem derCheops-Pyramide). Ziel der Theorien ist meist, den Abmessungen und ihren Verhältnissen
Der Begriff wird heute vor allem abwertend gebraucht.
Vieles von dem, was rückblickend als haltlose Spekulation erscheint, hat seinen Ursprung nicht in der Phantasie der neuzeitlichen Gelehrten, sondern stammt tatsächlich aus der Antike. Daher sollen zunächst die weitgehend legendären Berichte antiker Autoren und mittelalterlicher Reisender behandelt werden.
Vor allem zwei Aspekte der Pyramidologie haben ihre Wurzeln bereits in der Antike:
Herodot berichtet, dass die Große Pyramide auf Befehl eines tyrannischen Königs namens Cheops erbaut worden sei. In dreimonatigen Schichten hätten jeweils 100.000 Arbeiter an den Bauten gefront. In den ersten zehn Jahren sei eine breite Dammstraße errichtet worden, ein Werk, das für Herodot fast ebenso beeindruckend schien wie der Bau der Pyramiden selbst, da die Straße etwa einen Kilometer lang, 18 m breit und 14 m hoch gewesen sei und mit geglätteten Steinen belegt gewesen sei, „ein Werk, das nicht viel geringer war als die Pyramide“.[3] Außerdem seien am Fuße der Pyramiden unterirdische Kammern errichtet worden, in deren einer Cheops selbst beerdigt worden sei.[4] Herodot spricht von einer Insel in einem unterirdischen See, der durch einen Nilkanal gefüllt werde. Jede Seite der Pyramide sei etwa 240 m lang und ebenso groß sei die Höhe. Ihr Bau habe 20 Jahre gedauert.
Weiter berichtet Herodot, die Pyramiden seien in Stufen von innen nach außen erbaut worden, wobei man die Steine mit Hilfe von Maschinen von einer Stufe zur nächsten gehoben habe. Er erwähnt auch Inschriften auf der Außenseite der Pyramiden. Vom Ursprung der mittleren Königinnenpyramide G1b erzählt er, dass Cheops in seiner Bosheit schließlich seine Tochter zur Prostitution gezwungen habe, um Mittel für den Pyramidenbau zu beschaffen. Diese habe sich aber von jedem Freier einen Stein als Zusatzlohn ausbedungen und aus diesen Steinen sei G1b erbaut worden. Nach Cheops hätten auch noch sein Bruder Chephren und sein Sohn Mykerinos jeweils kleinere Pyramiden in der Nähe der ersten Pyramide erbaut.[5]
Diodor berichtet in seiner im 1. Jahrhundert v. Chr. verfassten Universalgeschichte, dass die Große Pyramide von König Chemmis von Memphis errichtet worden sei. Ihre Seitenlänge sei siebenPlethra (etwa 220 m) und die Höhe 6 Plethra (etwa 190 m). Das Alter der Pyramiden gibt er mit mindestens 1000 Jahre an, sagt aber auch, dass manche Autoren ein Alter von 3400 Jahren nennen. Im Gegensatz zu Herodot meint er, dass der Transport der Steine mit Hilfe aufgeschütteter Rampen erfolgt sei, da es zu der Zeit noch keine Kräne gegeben habe. Am Bau hätten 360.000 Arbeiter mitgewirkt und die Bauzeit wäre 20 Jahre gewesen. Entsprechend Herodot beschreibt auch Diodor die Pyramidenbauer als Tyrannen, die ganz Ägypten zu harter Fronarbeit zwangen. Die erbitterten Untertanen drohten, die Leichname der Könige zu vernichten, weshalb weder Chemmis (= Cheops) noch sein Bruder Cephren (= Chephren) in ihren Pyramiden, sondern an einem geheimen Ort begraben worden seien. Von der Pyramide des Mykerinos berichtet er, sie sei im unteren Teil mit schwarzem Stein, im oberen Teil mit weißem Kalkstein wie die beiden größeren Pyramiden verkleidet gewesen. Auf der Nordseite befinde sich eine Inschrift, die Mykerinos als Erbauer nenne.[6]
Strabon[7] greift die eigentümliche Geschichte, dass nämlich die Pyramide des Mykerinos von einer griechischen Kurtisane namensRhodopis errichtet worden sei, wieder auf. Herodot hatte es erwähnt, aber ausdrücklich abgelehnt und als ahistorisch bezeichnet.[8] Strabon erzählt dagegen eine Legende, die als frühester Beleg für das Märchenmotiv vomAschenputtel gilt: Ein Adler habe der inNaukratis badenden Rhodopis eine Sandale entführt, sie dem in Memphis eben Gericht haltenden Pharao in den Schoß fallen lassen, der sich ohne unmittelbare Ansicht der Person in die Trägerin der Sandale verliebte, Boten in alle Himmelsgegenden aussandte, um die Trägerin dieser Sandale ausfindig zu machen und die Aufgefundene zu seiner Königin machte. Nach ihrem Tod habe er ihr die (laut Strabon) zwar kleinere, aber wegen des für einen Teil der Verkleidung verwandten äthiopischen Steins besonders kostspielige Pyramide errichtet.
In seiner vielbändigen Naturgeschichte (Naturalis historia) kannPlinius der Ältere nicht umhin, auch die ägyptischen Pyramiden zu erwähnen. Er missbilligt diese Bauwerke sehr deutlich, da als Motiv für ihre Errichtung ja meistenfalls überliefert würde, die Pharaonen hätten so ihr Vermögen nicht Nachfolgern oder lauernden Rivalen überlassen und das niedere Volk nicht unbeschäftigt sein lassen wollen.[9] Er erwähnt die Existenz zahlreicher unvollendeter Pyramiden, um dann auf die Pyramiden von Gizeh zu sprechen zu kommen. Er gibt den genauen Ort an, erwähnt den Sphinx, gibt seine Maße an, und dass ein Pharao namens Amasis darin begraben sein soll.[10] Er gibt die Seitenlänge der größten Pyramide mit 883 (römischen) Fuß an (etwa 261,7 m), die Höhe von der Spitze mit 15 Fuß (etwa 4,44 m). Möglicherweise bezog sich diese Angabe auf die Höhe desPyramidions.[11] Im Inneren befinde sich ein 86 Ellen (etwa 38,2 m) tiefer Brunnen, durch den Nilwasser in das Innere gelangt sei. Zur Frage der Bauweise und der dazu nötigen Rampen referiert er zwei Theorien: Nach der einen hätten die Rampen aus Salz undSalpeter bestanden, nach Vollendung der Pyramiden habe man den Nil die Rampen wegwaschen lassen. Nach der anderen Theorie wären die Rampen aus Ziegeln gewesen, die man danach einfach an Privathaushalte verteilt habe.
Er erwähnt einige weitere, schon aus anderen Berichten bekannte Details. Schließlich nennt er noch eine Liste der Autoren, die vor ihm über die Pyramiden geschrieben haben: Herodot,Euhemeros,Duris von Samos, Aristagoras, Dionysius, Artemidorus,Alexander Polyhistor, Butorides, Antisthenes, Demetrius, Demoteles undApion.[12]
In der Spätantike werden die Erwähnungen der Pyramiden spärlich. In dem Auszug aus denAegyptiaca desManetho, das im 8. Jahrhundert von dem MönchGeorgios Synkellos überliefert wird, findet sich eine Anmerkung, dass die Große Pyramide nicht, wie von Herodot berichtet, ein Werk des Cheops sei, sondern sie wird einem König Souphis zugeschrieben, der die Götter verachtet und ein Heiliges Buch verfasst hätte.[13]
Mit der arabischen Eroberung Ägyptens um 640 verschwinden die Pyramiden für viele Jahrhunderte aus dem Gesichtsfeld der westlichen Kultur. Erst im 15. Jahrhundert, schon an der Schwelle zur Neuzeit hatCyriakus von Pizzicolli, ein italienischer Kaufmann und Humanist, der auf der Suche nach antiken Manuskripten unermüdlich Griechenland und dieLevante bereiste, die Pyramiden besucht und berichtet davon in seinemItinerarium.[14]
Einige Jahrzehnte später besuchte der Mainzer BeamteBernhard von Breidenbach auf seiner Reise in das Heilige Land auch Ägypten, zeigt sich aber relativ wenig beeindruckt von den Pyramiden und erwähnt nur, dass es sich um Gräber ägyptischer Könige handele und nicht, wie offenbar von den Zeitgenossen öfters angenommen, um die Kornspeicher, dieJosef erbauen ließ, um in den vom Traum des Pharao vorhergesagten sieben mageren Jahren eine Hungersnot zu vermeiden.[15]
Ein wesentliches Moment für das Interesse an den Abmessungen altägyptischer Monumente – und unter diesen fast ausschließlich an denen derCheops-Pyramide – waren die zahlreichen in der Bibel enthaltenen Maßangaben. Darin werden die Abmessungen derArche Noah, derBundeslade, desSalomonischen Tempels teilweise sehr genau und ausführlich angegeben. Allerdings ist die zugrundeliegende Maßeinheit, die „biblische Elle“, nicht überliefert. BereitsIsaac Newton versuchte in seinen metrologisch-historischen Spekulationen die Länge dessacred cubit zu bestimmen.[16] Man hoffte, die genaue Länge der biblischen Elle aus den noch existierenden ägyptischen Bauten alsBaumaß erschließen zu können, vor allem natürlich aus den Maßen der Großen Pyramide, an der dasVolk Israel ja mitgebaut hatte, wie man glaubte, bis moderneÄgyptologie undArchäologie ein viel früheres Baudatum belegten.
Voraussetzung für Spekulationen über Abmessungen, Orientierung etc. der Pyramiden ist das Vorliegen halbwegs verlässlicher Vermessungsdaten. Erste verlässliche Maßangaben für die Cheops-Pyramide wurden erstmals von dem englischen Mathematiker und AstronomenJohn Greaves erfasst, der sich 1638–1639 über ein Jahr in Kairo aufhielt und die Ergebnisse der Vermessungen 1646 in seinerPyramidographia publizierte. Greaves gab die aktuelle Höhe der Pyramide mit 481Fuß (= 146,6 m; korrekter Wert: 138,75 m), die ursprüngliche Höhe mit 693 Fuß (211,23 m; korrekter Wert: 146,6 m) und die Länge der Seite mit 693 Fuß (= 211,23 m; korrekter Wert: 230,33 m) an.[17]
Zusammen mit Greaves führte der italienische Architekt und ErfinderTito Livio Burattini Messungen durch, deren Ergebnisse allerdings verloren gegangen sind, bis auf briefliche Berichte, die Burattini anAthanasius Kircher sandte, einen jesuitischen Universalgelehrten und Ägyptomanen, der als einer der ersten versuchte, dieHieroglyphen zu entschlüsseln.
Weitere Arbeiten folgten, darunter vor allem die vonJohn Shae Perring, dessen ab 1839 an zahlreichen Pyramiden durchgeführten hervorragenden Messungen teilweise heute noch Geltung haben.[18]
Doch schon zuvor hatte die Pyramidologie einen ersten Vertreter gefunden:Edmé François Jomard, Teilnehmer an derÄgyptischen ExpeditionNapoleons, 1813–1814 Mitarbeiter an derDescription de l’Égypte, dort Verfasser der Beschreibung derPyramiden von Memphis, sowie zweier ergänzender Kapitel über den Zweck der Pyramiden und das Maßsystem der alten Ägypter. Er vertrat die Ansicht, den Pyramiden (vor allem der des Cheops) sei eine „Urelle“, dieägyptische Königselle als Baumaß zugrunde gelegen. Er meinte weiter, die Pyramiden seien Schöpfungen der altägyptischen Wissenschaftler, in denen sie ihre Erkenntnisse aus Mathematik und Astronomie verborgen oder verschlüsselt hätten. Auch seien die Pyramiden Orte der Initiation gewesen.[19]
1859 veröffentlichte der britische Verleger John Taylor sein BuchThe Great Pyramid: Why Was It Built & Who Built It? In diesem vertrat er die Ansicht, die Cheops-Pyramide sei nicht von Ägyptern, sondern von Israeliten entsprechend einem göttlichen Plan gebaut worden. Als Baumeister vermutete erNoah. Weiter fand er heraus, dass der Umfang der quadratischen Grundfläche in guter Näherung gleich mal der Höhe sei. Dieses Verhältnis kann sich ohne direkte Kenntnis von aus der Konstruktion ergeben haben.Herodot berichtet, die Höhe der Pyramide sei so bemessen worden, dass die Seitenfläche der Fläche eines Quadrates entspricht, dessen Seite die Höhe ist.[20] Zudem fand er in den Abmessungen eine Maßeinheit, die „Pyramidenelle“ (pyramid cubit), von der er annahm, sie entspreche der biblischen Elle. All das unterfütterte er mit angeblich auf die Cheops-Pyramide hinweisenden Bibelzitaten.[21]
Der Klassiker der Pyramidologie wurde jedoch vonCharles Piazzi Smyth, einem schottischen Astronomen, verfasst. 1864 erschien dessenOur inheritance in the Great Pyramid, das sofort ein Erfolg wurde, bis heute immer wieder aufgelegt wird und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 1865 begab sich Smyth nach Ägypten, um selbst Messungen an der Cheops-Pyramide vorzunehmen. Man hatte damals Teile der Ummantelung der Pyramide gefunden und Smyth meinte, an den sich daraus ergebenden Abmessungen unmittelbar die Länge der Pyramidenelle und damit des Taylorschen „Pyramidenzolls“ (pyramid inch) gefunden zu haben. Der Pyramidenzoll entsprach dabei nahezu dem britischenimperial inch (1 Pyramidenzoll = 1/25 Pyramidenelle = 1,001 Inch = 2,54254 cm).[22] Da durch diese Übereinstimmung das britische Einheitensystem auf biblisches, wenn nicht gar göttliches Fundament gestellt werden konnte, dienten die Messungen von Smyth als gewichtiges Argument der Gegner der Einführung desmetrischen Systems in England und den USA.
Als Seitenlänge der Pyramide ausgedrückt in Pyramidenzoll fand er den Wert 36524, was sehr genau dem 100fachen der Länge destropischen Jahres entspricht.[23], gleichzeitig entsprechen 500 Millionen Pyramidenzoll (= 12.712,7 km) der Länge der Erdachse (= 12.713,55 km).[24] Die Höhe der Pyramide mal 109 (5813 Pyramidenzoll × 109 = 147,7978 Mio. km) entspräche der Entfernung der Erde von derSonne (= 149,6 Mio. km).[25] Zu weitergehenden Spekulationen fand sich Smyth durch die Verwendung des Pyramidenzolls als Zeitmaß gedrängt, wobei ein Pyramidenzoll einem Jahr entspricht. Davon ausgehend wurden Abmessungen innerhalb der Passagen und der Großen Galerie in Beziehung gesetzt zur biblischen Geschichte und dem christlichen Heilsplan.[26]
DieRoyal Society of Edinburgh publizierte zunächst Smyths Untersuchungsergebnisse, und man ehrte ihn dafür mit derKeith Medal. Seine vermeintlichen Ergebnisse zogen aber schon bald harsche methodische Kritik nach sich, was Symth zum Ausscheiden aus der Royal Society veranlasste.[27][28]
Vor allem durch diese heilsgeschichtlich-eschatologische Beziehung fasziniert warCharles Taze Russell, Gründer der Wachtturm-Gesellschaft sowie der sich anschließenden Religionsgemeinschaft derInternationale Bibelforscher-Vereinigung, später Zeugen Jehovas genannt. 1891 veröffentlichte erThy Kingdom Come („Dein Königreich komme“), den dritten Band seinerSchriftstudien. Ihm zufolge war die Wiederkunft Christi im Verborgenen bereits 1874 erfolgt. In diesem Jahr sollte auch bereits dasMillennium begonnen haben, mit der sogenannten „Großen Drangsal“, die bis 1914 zu Ende gehen sollte – dann sollte Gottes Herrschaft weltweit aufgerichtet sein. Die Beweise dafür fand er in der Bibel und in den Arbeiten von Smyth. Die beiden Brüder John und Morton Edgar waren von Russells Werk so beeindruckt, dass sie sich nach Ägypten begaben, um dort selbst Messungen durchzuführen, die sie in einem zweibändigen Werk 1910 und 1913 veröffentlichten. Ursprünglich gab Russell die Länge eines bestimmten Ganges im Inneren dieser Pyramide mit3416 Zoll an und deutete einen Zoll als ein Jahr, wodurch er auf den Zeitraum 1542 v. Chr. bis 1874 n. Chr. kam. Das änderte er einige Jahre vor Ablauf dieser 40-jährigen Drangsalszeit, also vor 1914, und gab diese Länge mit3457 Zoll an, so dass der genannte Zeitraum nun mit 1914/15 endete; auf diesen Zeitpunkt verschob sich damit der Beginn der „großen Drangsal“. Russells Verweis auf das Buch von Smyth blieb dabei gleichlautend, d. h., es war nicht erkennbar, dass Russell sich auf neuere Messungen gestützt hätte.[29] Schließlich gaben die Bibelforscher nach Russell die Große Pyramide als Glaubenszeugen ganz auf.[30]
Die Untersuchung und Vermessung der Pyramiden von Gizeh durchWilliam Matthew Flinders Petrie in den 1880er Jahren markiert den Zeitpunkt der Trennung zwischen den Pyramidologen und der entstehenden wissenschaftlichen Ägyptologie, zu deren Vater Flinders Petrie wurde.
Petrie hatte 1866 ein Exemplar von Piazzi SmythsOur Inheritance nach Hause gebracht, das sowohl auf ihn als auch auf seinen Vater sofort eine starke Faszination ausübte. Nicht nur, weil beide sich für vorgeschichtliche Altertümer interessierten (mit 19 Jahren hatte Petrie zusammen mit seinem VaterStonehenge vermessen), zudem eine mögliche Bestätigung biblischer Geschichte aufgrund ägyptischer Befunde die tief religiösen Petries ansprechen musste (sein Vater gehörte denPlymouth Brethren an), sondern auch, weil sie eine persönliche Beziehung mit Piazzi Smyth verband: Sein Vater hatte um die Hand von Henrietta Smyth, der Schwester von Piazzi Smyth, geworben, diese war ihm aber von der Familie verweigert worden. Immerhin hatte William Petrie seine spätere Frau Anne Flinders in Smyths Haus kennen gelernt.
Vater und Sohn nahmen sich vor, die Theorie von Smyth vor Ort einer Überprüfung zu unterziehen, da immer mehr Fragen betreffend Smyths Theorien aufgetaucht waren. Nachdem Petries Vater die Reise immer wieder verschoben hatte, entschloss sich Flinders Petrie 1880 allein und nur mit sehr beschränkten Mitteln versehen, nach Ägypten zu reisen. Er richtete sich in einem leeren Grab nahe der Pyramide ein und begann mit der Arbeit, mit teilweise selbst gebauten Vermessungsinstrumenten sowohl das Äußere als auch das Innere der Großen Pyramide exakt zu vermessen. Das Ergebnis war so genau, dass Petries Zahlen bis heute Gültigkeit haben. Sie widersprachen aber den Theorien von Piazzi Smyth und entzogen den Spekulationen über einen Pyramidenzoll ein für alle Mal den Boden. Petrie belegte vielmehr, dass den Abmessungen der Pyramide die alte ägyptische Königselle zugrunde lag:
„Insofern waren alle Theorien, die besagten, dass die Zahl der Tage eines Jahres repräsentiert würde, absolut irrig. Die Größe der Pyramide wurde dadurch bestimmt, dass sie 7 × 40 ägyptische Ellen (20,6 Zoll) hoch und 11 × 40 Ellen breit war. Dies wird durch diePyramide von Meydum bestätigt, die älter und 7 × 25 Ellen hoch und 11 × 25 Ellen breit ist. … Der für dieses 7-zu-11-Verhältnis benötigte Böschungswinkel liegt innerhalb der geringen Ungenauigkeit (zwei Minuten) der noch vorhandenen Überreste.“
Damit hatte Petrie die „hässliche kleine Tatsache“ gefunden, die der „schönen Theorie“ den Todesstoß versetzte.[32] In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wandte er sich, was seine Arbeit anbelangte, von biblischer Spekulation ab und wurde zum Begründer der wissenschaftlich fundierten Ägyptologie.[33]
Die biblische Pyramidologie hatte versucht, die Pyramiden als Beleg für biblisch-christliche Geschichte und Heilsgeschichte in Anspruch zu nehmen, also zu beweisen, dass die Pyramiden etwas ganz bestimmtes seien. Demgegenüber zielen die mehr säkularen modernen Theorien darauf, dass die Pyramiden etwas nicht bzw. nicht nur sind, nämlich entsprechend der zentralen Aussage von Ägyptologie und Archäologie Grabstätten der Pharaonen und sonst nichts. Vertreter dieser modernen Pyramidologie sind in den 1960er JahrenErich von Däniken und späterRobert Bauval.
Dazwischen steht noch eine andere Gruppe, vertreten etwa durchEdgar Cayce undHelena Petrovna Blavatsky. Sie bauten die Pyramiden in ihreesoterischen Theorien ein. Wenn für die biblischen Pyramidologen die Israeliten die eigentlichen Erbauer der Pyramiden waren, so waren es für Cayce Flüchtlinge aus dem versunkenenAtlantis, wo für Smyth und Russel die Eckpunkte der Heilsgeschichte in den Pyramiden kodiert waren, waren für Blavatsky die Wendepunkte dertheosophischen Zyklen von den ägyptischen Eingeweihten in den Abmessungen der Pyramide verschlüsselt.[34] Im Grunde aber änderten sie lediglich den Kontext und bedienten sich ansonsten aus den Konzepten der biblischen Pyramidologen und dem von diesen angehäuften Datenmaterial.
1968 veröffentlichteErich von Däniken sein BuchErinnerungen an die Zukunft, das binnen kurzem zu einem Bestseller mit Millionenauflage wurde. Darin stellt Däniken eine Ansammlung von „Rätseln der Geschichte“ vor, zum Beispiel: „Was war dieBundeslade?“ oder „Was steckt hinter den Bildern derNazca-Ebene?“ Däniken „löste“ die Rätsel nicht direkt, sondern kleidete seine Antworten in Form rhetorischer Fragen, die stets darauf hinausliefen, dass die betreffenden Artefakte Zeugnis für den vorgeschichtlichen Besuch von Außerirdischen seien. Das gilt selbstverständlich auch für die Pyramiden, wobei Däniken nicht behauptet, diese seien von Außerirdischen gebaut worden. Er verweist zunächst auf eine Reihe von „Ungereimtheiten“, wobei er sich aus dem Schatz seiner pyramidologischen Vorgänger bedient („Ist es Zufall, dass die Grundfläche der Pyramide – geteilt durch die doppelte Höhe – die berühmteLudolfsche Zahl ergibt?“[35]).
Der Kern ist aber: „Wer ist einfältig genug, zu glauben, daß die Pyramide nichts als das Grab eines Königs sein sollte?“[36] Das ist ein bei den Vertreternparawissenschaftlicher Pyramidentheorien in ähnlicher Form immer wieder auftauchender Satz. Letzten Endes legt Däniken nahe, der Pyramidenbau sei eine Form derimitatio dei („Nachahmung Gottes“ bzw. in diesem Fall „Nachahmung der Götter“), wobei als Götter außerirdische Astronauten anzunehmen seien, die sich, um die Jahrtausende einer interstellaren Reise zu überstehen, in eine dem Tod ähnliche Form desWinterschlafs versetzen ließen. Die Beobachtung der Auferweckung von anscheinend Toten hätte dann die vorzeitlichen Herrscher Ägyptens dazu gebracht, sich mit krisenfesten materiellen Gütern versehen in „quasi atombombensicheren“ Gebäuden (den Pyramiden) mumifiziert einlagern zu lassen, in der Hoffnung, gleich den Astronautengöttern auch aufzuerstehen.[37]
Die von Däniken umrissene Vorstellung der außerirdischen Götter in fliegenden Pyramiden und als „Kälteschlafkammern“ sowie als universelle Heilmaschinen dienende Sarkophage waren die Grundlage des 1994 erschienenen FilmsStargate vonRoland Emmerich.
1994 erschien das BuchThe Orion Mystery („Das Geheimnis des Orion“) des belgischen Ingenieurs Robert Bauval. Darin entwickelt er die Theorie der „Pyramiden-Orion-Korrelation“, der zufolge die Anlage der Pyramiden von Gizeh als Ganzes geplant worden sei, und zwar so, dass die relative Lage und Größe der drei Pyramiden des Cheops,Chephren undMykerinos der Lage und Größe der drei SterneAlnitak,Alnilam undMintaka entsprechen, die zusammen den „Gürtel“ des griechischen SternbildsOrion (ägyptischSah, die Repräsentation von Osiris)[38] formen. Dem östlich der Pyramiden in einer Kurve nach Norden strömendenNil entspricht laut Bauval am Himmel dieMilchstraße, die zwischen der durch den SternBeteigeuze markierten rechten Schulter des Orion und dem Sternbild derZwillinge in ähnlicher Weise verläuft.
Weiter behauptete Bauval, die sogenannten Lüftungsschächte innerhalb der großen Pyramide, von denen je zwei von der Königs- und der Königinkammer ausgehen, seien auf dieKulminationspunkte bestimmter Sternkonstellationen bzw. Sterne hin orientiert:[39]
Schacht | Neigung | orientiert auf |
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Königskammer (südlicher Schacht) | 45° | Oriongürtel |
Königskammer (nördlicher Schacht) | 32° 38′ | α Draconis (um 2800 v. Chr. nahe dem Himmelsnordpol) |
Königinkammer (südlicher Schacht) | 39° 30′ | Sirius |
Königinkammer (nördlicher Schacht) | 39° | β Ursae Majoris |
Da sich aufgrund derPräzession desFrühlingspunktes dieKulminationshöhen im Laufe eines etwa 25.700 Jahre dauerndenPlatonischen Jahres zyklisch ändern, seien die Schachtneigungen dann in guter Übereinstimmung mit den Kulminationshöhen, wenn man als Erbauungsdatum 2450 v. Chr. annimmt.[40]
In den folgenden Jahren veröffentlichte Bauval weitere Bücher, in denen er seine Theorie ausbaute, teilweise in Zusammenarbeit mitGraham Hancock, der wiederum die Theorie vertritt, dieGroße Sphinx sei nicht, wie von der Ägyptologie angenommen, zur Zeit desAlten Reiches um 2500 v. Chr. erbaut worden, sondern viel früher, nämlich um etwa 10500 v. Chr., zu einer Zeit, als sich der Frühlingspunkt in das Sternbild desLöwen bewegte (daher der Löwenkörper des Sphinx). Zudem wäre dieses Erbauungsdatum in Übereinstimmung mit dem von Edgar Cayce genannten Zeitpunktes des Untergangs von Atlantis. Einige Geologen, darunter Robert M. Schoch, versuchten diese Theorie zu stützen, indem sie meinten, die Verwitterungsspuren an dem Sphinx würden ein entsprechend hohes Alter belegen.
Die etablierte Wissenschaft nimmt pyramidologische Spekulationen heute nicht ernst. Vertreter der Pyramidologie werden von ihr bisweilen als „Pyramidomanen“ oder auch als „Pyramidioten“ bezeichnet.[41]
LautUmberto Eco kann man mit den Zahlen, die sich aus den Vermessungen ägyptischer Pyramiden ergeben, je nachdem, welche Maßeinheit man zugrunde legt, „machen […], was man will“. Er verweist auf die Wissenschaftsparodie des französischen Archäologen Jean-Pierre Adam, der einenZeitungskiosk in der Nähe seiner Wohnung vermaß und in den dort gefundenen Zahlen und Zahlverhältnissen die Entfernung der Erde zur Sonne, den griechischenMondzyklus, das Datum derSchlacht von Tours und Poitiers und dieSummenformel vonNaphthalin fand.[42] In ähnlicher Weise parodierte der niederländische Astronom undSkeptikerCornelis de Jager die Arbeitsweise der Pyramidologie und andererzahlenmystischer Spekulationen, als er Parameter seines Fahrrads vermaß und mit einigen mathematischen Umrechnungen mühelos auf mehrere physikalische Konstanten und astronomische Werte kam. Das Ergebnis veröffentlichte er 1990 als „Velosofie“.[43]
Nach Einschätzung vonErik Hornung ist eine Klassifizierung der Pyramidologie als Pseudo- bzw.Parawissenschaft genau genommen nur für die Pyramidologen des 20. Jahrhunderts gerechtfertigt. Ähnlich wie bei der aus derAstrologie entstehendenAstronomie oder der aus derAlchemie entstehendenChemie habe die neu entstandene Disziplin derÄgyptologie von ihren dubiosen Wurzeln nichts mehr wissen wollen und reagiere bis heute empfindlich auf alles, was an die tastenden, spekulativen Ursprünge gemahnt.[44]
(chronologisch aufsteigend geordnet)