AlsProvisorische Regierung der Französischen Republik (französischGouvernement provisoire de la République française, kurzGPRF) werden die am 3. Juni 1944 inAlgier gebildetefranzösischeRegierung vonCharles de Gaulle sowie die Regierungen Frankreichs unmittelbar nach derBefreiung und dem Sturz desVichy-Regimes bis zur Gründung derIV. Republik bezeichnet. Vorangegangen war dieIII. Republik von 1870 bis 1940.
Präsidenten der Provisorischen Regierung waren:
Charles de Gaulle (vom 3. Juni 1944 bis 20. Januar 1946)
Félix Gouin (vom 26. Januar 1946 bis 12. Juni 1946)
Charles de Gaulles spricht als Präsident der Provisorischen Regierung zur Bevölkerung vonCherbourg, 20. August 1944Französische Truppenerschießen inGrenoble sechs junge Franzosen, die mit den Deutschen kollaboriert haben (22. September 1944)
Die zentralen Herausforderungen, vor denen die Provisorische Regierung zunächst stand, waren:
der Beginn des Wiederaufbaus und die Überwindung der Versorgungskrise,
die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung unter Einbeziehung der Kräfte derRésistance und derKommunisten,
der Abschluss der „Épuration“, also die Beendigung der „spontanen“ und oft willkürlichen Verfolgung von tatsächlichen und vermeintlichenKollaborateuren, die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen undKollaboration sowie die Säuberung von Verwaltung und Wirtschaft,
Nach der Regierungsumbildung vom 9. September 1944 umfasste die Regierung de Gaulle Mitglieder aller nicht durch Kriegsverbrechen und Kollaboration kompromittierten Kräfte, d. h. derKommunisten (PCF), derSozialisten (SFIO), der als Partei neu gegründetenChristdemokraten (MRP) und derRadikalen Partei. Von 22 Ministerien wurden nur acht mit ehemaligen Parlamentariern derIII. Republik besetzt.
Wichtige politische Neuerungen der Regierung de Gaulle noch vor den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 21. Oktober 1945 waren die Einführung desFrauenwahlrechts, die Wiedereinführung desReferendums (seit den Plebisziten desZweiten Kaiserreichs hatte es keine Volksabstimmungen mehr gegeben) und die Einführung desVerhältniswahlrechts. Darüber hinaus begann die Regierung de Gaulle mit einem umfangreichen wirtschaftlichen und sozialen Reformprogramm, das u. a. die Einrichtung vonBetriebsräten, die Errichtung eines umfassendenSozialversicherungssystems und dieVerstaatlichung von Schlüsselindustrien und Transportunternehmen (Kohleminen, Schaffung des staatlichen EnergieunternehmensEDF und der FluggesellschaftAir France) sowie durch die Kollaboration kompromittierter Unternehmen vorsah.
Am 21. Oktober 1945 wurden erstmals nach dem Krieg Wahlen zurNationalversammlung abgehalten; stärkste Partei wurde der PCF (26,12 % der Stimmen), gefolgt von MRP (23, 81 %), SFIO (23,35 %), gemäßigten Rechten (15,60 %) und Radikalen (10,49 %). Gleichzeitig entschieden die Wähler in einem Referendum mit 96,37 % der Stimmen, dass diese Versammlung eine neue Verfassung ausarbeiten sollte, und stimmten mit 66,48 % einem Gesetz über die vorläufige politische Ordnung zu. Dieses sah unter anderem die Begrenzung des Mandats der Verfassunggebenden Versammlung auf sieben Monate und die parlamentarische Verantwortung der Provisorischen Regierung gegenüber der Versammlung vor.
Am 13. November 1945 bestätigte die Verfassunggebende Versammlung einstimmig die Regierung de Gaulle. Das Verhältnis zwischen de Gaulle und der kommunistisch-sozialistischen Mehrheit in der Versammlung verschlechterte sich jedoch schnell: Die Kommunisten beanspruchten als stärkste Partei eines der Schlüsselministerien (Innen-, Außen- oder Verteidigungsministerium), wozu de Gaulle angesichts des sich abzeichnendenKalten Kriegs zwischen denUSA und derSowjetunion nicht bereit war. Die Sozialisten forderten eine deutliche Reduzierung des Verteidigungsetats, die de Gaulle ablehnte.
Als Kern des Konflikts ist jedoch die Ablehnung de Gaulles gegenüber der wiederhergestellten Macht der Parteien und demparlamentarischen Regierungssystem zu betrachten. Am 20. Januar 1946 erklärte er daher seinen Rücktritt, den er gegenüber dem Ministerrat folgendermaßen begründete:
„Die ausschließliche Herrschaft der Parteien ist wiederhergestellt. Ich lehne diese ab. Aber ohne gewaltsam eine Diktatur zu errichten, die ich nicht will und die zweifellos ein schlechtes Ende nähme, habe ich nicht die Mittel, diesen Versuch zu verhindern. Ich muss mich daher zurückziehen.“
Der erste Verfassungsentwurf, der am 19. April 1946 mit den Stimmen der kommunistisch-sozialistischen Mehrheit von der Verfassunggebenden Nationalversammlung verabschiedet wurde, wurde durch das Referendum vom 5. Mai 1946 abgelehnt.
Am 2. Juni 1946 wurde daher eine neue Verfassunggebende Versammlung gewählt, in der der MRP mit 28,2 % die stärkste Partei war, gefolgt von PCF (25,9 %), SFIO (21,1 %), gemäßigten Rechten (12,8 %) und Radikalen (11,6 %).
Trotz der leicht veränderten Mehrheitsverhältnisse und der heftigen öffentlichen Kritik de Gaulles sah jedoch auch der zweite Verfassungsentwurf, den die Verfassunggebende Nationalversammlung am 29. September 1946 annahm, ein parlamentarisches Regierungssystem vor, in dem die Nationalversammlung klar die Vorrangstellung gegenüber der zweiten Kammer, demConseil de la République erhielt. Die Verfassung der IV. Republik wurde am 13. Oktober 1946 in einem Referendum mit 53,5 % der Stimmen angenommen. Jedoch blieben 31,2 % der Wahlberechtigten der Abstimmung fern, so dass de Gaulles Einschätzung nahezu zutrifft, dass ein Drittel der Franzosen die Verfassung abgelehnt habe, ein Drittel habe sich enthalten und nur ein Drittel habe zugestimmt.
Nach dem Rücktritt de Gaulles einigten sich die drei großen Parteien auf einen Koalitionsvertrag, der die Regierungen des „Tripartismus“ begründete. Neuer Präsident der Provisorischen Regierung wurde zunächst der Sozialist und vormalige Präsident der Verfassunggebenden Nationalversammlung Félix Gouin, der nach dem Erfolg des MRP bei den Wahlen zur zweiten Verfassunggebenden Nationalversammlung durch Georges Bidault abgelöst wurde. Allerdings war es den Kommunisten wiederum nicht gelungen, eines der geforderten drei Schlüsselministerien für Inneres, Auswärtige Angelegenheiten oder Verteidigung zu erhalten.
Die Regierungen Gouin und Bidault waren von wachsenden Spannungen zwischen Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten unter dem Einfluss der sich verändernden weltpolitischen Lage sowie vom Ausbruch desIndochinakriegs infolge der Ausrufung der RepublikVietnam durchHo Chi Minh belastet.
Nach der ersten regulären Wahl zur Nationalversammlung der IV. Republik amtierte noch für einen Monat eine sozialistische Minderheitsregierung unter Léon Blum als letzte Provisorische Regierung, weil vor der Einsetzung einer regulären Regierung zunächst noch die zweite Parlamentskammer und der Staatspräsident gewählt werden mussten. Der Regierung Blum gelangen immerhin Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung, die sich in einem Rückgang des allgemeinen Preisniveaus um 5 % niederschlugen.
Am 16. Januar 1947 wurde der SozialistVincent Auriol von Nationalversammlung und Conseil de la République zumStaatspräsidenten gewählt, und am 22. Januar stimmte die Mehrheit der Nationalversammlung für die Investitur des MinisterpräsidentenPaul Ramadier, so dass die Zeit der Provisorischen Regierungen beendet war.
Ernst Weisenfeld:Frankreichs Geschichte seit dem Krieg. Von de Gaulle bis Mitterrand (=Beck'sche schwarze Reihe 218). 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Beck, München 1982,ISBN 3-406-08673-X.
Les Constitutions de la France depuis 1789 (=GF 228). Présentation par Jacques Godechot. Edition mise à jour au 1er septembre 1995. Garnier-Flammarion, Paris 1995,ISBN 2-08-070228-9.
Regierungssysteme und Vorgängerstaaten Frankreichs