DiePhysiologie (vonaltgriechischφύσιςphýsis „Natur“, undλόγοςlógos „Lehre“, „Vernunft“, bzw.φυσιολογίαphysiología „Naturkunde“) ist die Lehre von den normalen, insbesonderebiophysikalischen, Lebensvorgängen in denZellen,Geweben undOrganen allerLebewesen; sie bezieht das Zusammenwirken aller physikalischen, chemischen und biochemischen Vorgänge im gesamtenOrganismus in ihre Betrachtung ein. Hierdurch grenzt sie sich von der Biochemie und derAnatomie sowie von derPathologie und derPathophysiologie ab. Ziel der Physiologie ist es, Vorhersagen über das Verhalten eines betrachteten Systems (zum BeispielStoffwechsel,Bewegung,Keimung,Wachstum,Fortpflanzung) zu formulieren.
DasEigenschaftswortphysiologisch wird auch im Sinne vonnormal,beimgesunden Menschen auftretend,nichtkrankhaft, verwendet. Dementsprechend bezeichnetunphysiologisch oderpathologisch eine Abweichung von den normalen, beim gesunden Lebewesen auftretenden oder wünschenswerten Lebensvorgängen.
Die SeelenformenPlatons (5./4. Jahrhundert v. Chr.) wurden in der Physiologie die Träger der vitalen Kräfte. Die naturwissenschaftlichen Errungenschaften desAristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) waren grundlegend für zahlreiche physiologische Anschauungen.[1] Die Anfänge der heutigen Physiologie sind verbunden mit dem Beginn der wissenschaftlichen Medizin in dergriechischen Antike. Zu den wichtigsten Werken gehört dabei die aus 17 Büchern bestehende, eineteleologische Betrachtungsweise bezeugende und zwischen 162 und 180 entstandene SchriftDe usu partium („Über den Nutzen der Körperteile“) vonGalenos.[2]Die Bezeichnung Physiologie wurde um 1525 vonJean François Fernel geprägt. Bis ins 19. Jahrhundert beschäftigte sich die Physiologie jedoch sowohl mit der Funktionsweise der belebten als auch dem Werden und Vergehen in der unbelebten Natur und umfasste somit auch noch die Gebiete der Physik und der Mineralogie.[3]
Als Begründer der Experimentalphysiologie und damit der modernen Physiologie ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts gilt derBoerhaave-Schüler und UniversalgelehrteAlbrecht von Haller, dessen Hauptwirkung vonGöttingen ausging. Weitere bedeutende Physiologen dieser Zeit waren der ItalienerLazzaro Spallanzani undCaspar Friedrich Wolff.[4] Erste selbstständige Lehrstühle für Physiologie im deutschsprachigen Raum entstanden zwischen 1853 und 1859 in Tübingen, Berlin, Heidelberg, Bonn und Jena.[5] Die deutsche Physiologie erlebte im 19. Jahrhundert unterJohannes Müller, dem Begründer des Gesetzes von der spezifischen Energie der Sinnesorgane, und seinen Schülern eine Blütezeit, die französische unterClaude Bernard.[6] Zur Eingliederung der Physiologie in die exakten Naturwissenschaften trug vor allem der Anatom und PhysiologeCarl Ludwig (1816–1895) bei, der ein experimentell aufgebautes, vorbildliches Lehrbuch der Physiologie (1852–1856)[7] verfasste und schrieb, dass „die Physiologie aus der Anatomie hervorgewachsen und bei dem Physiker und Chemiker in die Lehre gegangen ist“. Weitere Vertreter einer solchen physikalisch-mathematisch fundierten, experimentellen, eineromantisch geprägte Physiologie[8] ablösende, Physiologie warenAdolf Fick,Emil du Bois-Reymond undJakob Moleschott,[9] in England und Frankreich auchCharles Bell,Marshall Hall,François Magendie undMarie-Jean-Pierre Flourens.[10]
Die Themengebiete der Physiologie sind vielfältig. Insbesondere arbeitet sie mit derBiochemie zusammen, welche früher auch ‚Physiologische Chemie‘ genannt wurde. Der Blick der Physiologie ist auf dieDynamik biologischer Vorgänge und derenkausale Zusammenhänge gerichtet; sie analysiert also eher Veränderungen wie etwaInformationsverarbeitung denn statische Zustände. Die wichtigsten Werkzeuge – Versuchsanordnungen und Messverfahren – kommen im Fachgebiet Physiologie aus derPhysik und derChemie.
Abgeleitet von der traditionellen Gliederung der Biologie bzw. als Teilgebiet der Medizin gibt es die drei Schwerpunkte
Physiologie des Menschen als Teilgebiet derMedizin
Neben Pflanzen, Tieren und Menschen befasst sich die Physiologie auch mit allen anderen Lebewesen.
Ohne die Physiologie wäre eine gezieltePharmakologie nicht möglich; denn sie kann Wirkungen, Eigenschaften und Nachteile vonMedikamenten teilweise beschreiben und auch voraussagen.
Physiologen analysieren die grundlegenden Lebensprozesse auf unterschiedlichen Ebenen der Komplexität; Beispiele hierfür sind:
An deutschen Universitäten ist diePhysiologie des Menschen meist an den medizinischen Fakultäten beheimatet und zählt mit Biochemie, Anatomie und Psychologie sowie den drei Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik zu denvorklinischen Fächern, die im Rahmen desPhysikums auch eine staatliche Zwischenprüfung darstellen.
Ausbildung zum Facharzt für Physiologie in Deutschland
Um in Deutschland nach einem abgeschlossenenMedizinstudium als „Facharzt für Physiologie“ tätig zu werden, bedarf es einer vierjährigen Weiterbildungszeit. Auf diese kann ein Jahr in einem anderen medizinischen Fachgebiet angerechnet werden.
DieDeutsche Physiologische Gesellschaft (DPG) verleiht an entsprechend qualifizierte Wissenschaftler auf Antrag die Bezeichnung „Fachphysiologe der DPG“, wenn sie die Weiterbildungsbedingungen der DPG erfüllen.[11]
Gilles Bouvenot, Christian Delboy:Geschichte der großen physiologischen Konzepte. In:Illustrierte Geschichte der Medizin. Deutsche Bearbeitung vonRichard Toellner u. a., Sonderauflage in sechs Bänden, Salzburg 1986, Band V, S. 2788–2817.
Hans-Jürgen Bretschneider, Hans H. Loeschcke:Physiologie und Patho-Physiologie – Grundlagen-Forschung und Therapie-Forschung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (=Göttinger Universitätsreden. Heft 64).
June Goodfield-Toulmin:Some Aspects of English Physiology. 1780–1840. In:Journal of the History of Biology. Band 2, 1969, S. 283–320.
Holger Münzel:Max von Frey. Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung seiner sinnesphysiologischen Forschung. Würzburg 1992 (=Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 53),ISBN 3-88479-803-0, insbesondere S. 175–207 (Kurzbiographien).
Karl Eduard Rothschuh:Geschichte der Physiologie. Göttingen / Berlin / Heidelberg 1953.
Philipp Sarasin,Jakob Tanner (Hrsg.):Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1998.
Robert F. Schmidt, Florian Lang, Manfred Heckmann (Hrsg.):Physiologie des Menschen. 31. Auflage. Springer, Heidelberg 2010,ISBN 978-3-642-01650-9.
Richard Toellner:Die Bedeutung desphysico-theologischen Gottesbeweises für die nachcartesianische Physiologie im 18. Jahrhundert. In:Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Band 5, 1982, S. 75–82.
↑Paul Diepgen,Heinz Goerke:Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 9.
↑Jutta Kollesch,Diethard Nickel:Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (=Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989,ISBN 3-379-00411-1, S. 19–27 und 183.
↑Claudia Wiesemann:Physiologie. In:Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage,Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.):Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2005,ISBN 3-11-015714-4, S. 1158–1159.
↑Paul Diepgen,Heinz Goerke:Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 28–30.