Perwy kanal (russischПервый каналPervyj kanal, offizielleenglische SelbstbezeichnungChannel One Russia[2], deutschErster Kanal; bis 2002ORT) ist ein halbstaatlicher Fernsehsender inRussland und der populärste des Landes. Er ist indirekter Nachfolger des ersten Programms des staatlichen sowjetischen Fernsehens. Der Hauptsitz des Senders befindet sich imFernsehzentrum Ostankino unweit desMoskauerFernsehturmes, daher war auch bis 2002 der NameOstankino RT für den Sender gebräuchlich. Perwy Kanal sendet ein TV-Vollprogramm. Über das digitaleKabelfernsehen und denFernsehsatellitenHot Bird 6 ist eine internationale Programmschiene des Senders u. a. in Mitteleuropa zu empfangen.[3] Die russische Regierung kontrolliert 51 % der Aktien des Senders, 49 % sind in privatem Besitz.[4]
Der Sender wurde 1994 als Nachfolger desErsten Programms der sowjetischen Rundfunkanstalt, das in allenSowjetrepubliken zu empfangen war, gegründet. Aufgrund dieser Situation war der Kanal von Anfang an in einer marktführenden Position, die er trotz einer wachsenden Zahl von TV-Stationen bis heute behielt. 1995 erhielt er den NamenOstankino rossijskoje telewidenije (ORT, „Ostankino Russisches Fernsehen“).
Ab der Gründung bis Ende der 1990er Jahre gehörte der Sender zum Firmenimperium desOligarchenBoris Abramowitsch Beresowski. Nach dem Machtantritt vonWladimir Putin und dessen Zerwürfnis mit Beresowski wurde der Sender in Eigentum des Staates bzw. einer regierungsnahen Holding überführt.[5] 2002 wurde der Sender abermals umbenannt und erhielt seinen heutigen NamenPerwy kanal.
Seit dem 24. Dezember 2012 sendet Perwy kanal auch inHD.[7]
Generaldirektor von Perwy kanal ist seit 1999 Konstantin Ernst (seit 1988 bei dem Sender bzw. dessen Vorgängern).
Das „politische Gesicht“ des Senders istMichail Wladimirowitsch Leontjew, der die tägliche FernsehsendungOdnako („Allerdings“) moderiert. Zu den Mitarbeitern des Senders gehört auch der international bekannteWladimir Posner.
Von 2005 bis 2011 wurde die GerichtsshowFederalny sudja ausgestrahlt.
Der KameramannDmitri Sawadski arbeitete bei dem Perwy-VorgängerORT, als er am 7. Juli 2000 amMinsker Flughafen seinen ORT-KollegenPawel Scheremet treffen wollte und spurlos verschwand. Er wurde später für tot erklärt. Amnesty International vermutete hochrangige Politiker aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Urheber.[8] Sein damaliger Kollege, der renommierte Journalist undLukaschenka-Kritiker Pawel Scheremet, arbeitete ab 1995 für ORT in Minsk und ab 2000 in Russland. 2014 verließ er Russland aus Protest gegen dieKrim-Annexion und wurde am 20. Juli 2016 mit einer Autobombe inKiew ermordet.[9]
Laut der ehemaligen MitarbeiterinMarina Owsjannikowa gibt es bei Channel One Russia:
„Vorgaben aus dem Kreml, darüber was man sagen darf und was nicht.“ [...] „Die Weisungen werden von der Sendeleitung an die einfachen Mitarbeiter weitergegeben. Was wir wie beim Namen nennen konnten, mit welchen Formulierungen, welche Experten wir einladen durften, welche nicht. [...] Die meisten Menschen, die für das Staatsfernsehen arbeiten“, „wissen nur allzu gut, dass sie etwas Falsches machen. Sie sind keine überzeugten Propagandisten, oft alles andere als das! Sie ringen ständig innerlich zwischen der Arbeit und dem eigenen moralischem Kompass. Sie wissen, dass der Erste Kanal lügt, viele der Staatssender lügen. Es wird überwiegend einfach nicht objektiv berichtet. Die Kollegen müssen aber ihre Familien ernähren [...].“[6]
Die OrganisationReporter ohne Grenzen forderte im September 2022 die Sperrung von Perwy kanal in Frankreich, außerdem die vonRossija 1 undNTW. Die von den drei Sendern ausgestrahlten Inhalte riefen zu Hass und Völkermord auf.[10]
Im Zusammenhang mit demUkraine-Krieg strahlte der Sender am 12. und 13. Juli 2014 in den Abendnachrichten Behauptungen einer Frau aus, dass ukrainische Soldaten inSlowjansk Frauen, Kinder und Alte zusammengetrieben und einen dreijährigen Jungen gekreuzigt hätten. Die Angaben wurden in der Sendung als Tatsachen dargestellt.[11] Eine Reihe von Politikern und Journalisten in Russland warfen dem SenderPropaganda und Verletzung der Berufsethik vor.[12] In Slowjansk hat niemand von Kreuzigungen gehört, die vom Perwy kanal ausgestrahlte Geschichte enthielt zudem mehrere Fehler, so existiert z. B. der darin beschriebene Hauptplatz nicht. Einige kremltreue Medien kritisierten den Sender.[13] Die Geschichte über den „gekreuzigten Jungen“ wurde später als Täuschung und die angebliche Augenzeugin als russische Schauspielerin entlarvt.[13][14][15][16] Die erfundene Gräueltat wird häufig als Beispiel für den russischen Informationskrieg gegen die Ukraine genannt.[17]
Der Perwy kanal fiel durch seineFalschmeldungen über denFall Lisa im Januar 2016 auf. Der Sender behauptete, ein 13-jähriges Mädchen mit russischen Wurzeln sei in Berlin von Flüchtlingen vergewaltigt worden, und die Polizei und die deutsche Justiz hätten versucht, den Fall zu vertuschen. „Das ist die neue Ordnung in Deutschland“, sagte die Moderatorin[18]. Die Falschmeldungen des Senders und anderer Staatsmedien aus Russland haben zu ProtestenRusslanddeutscher geführt und politische Verstimmungen zwischen Deutschland und Russland verursacht.[19]
Im Oktober 2016 berichtete der Sender darüber, dass der Oberste Gerichtshof in Österreich angeblich einen Flüchtling freigesprochen hatte, dem Vergewaltigung und schwerer sexueller Missbrauch eines Jungen vorgeworfen wurde. Im Beitrag hieß es ferner, dass die Richter ihre Entscheidung mit der „sexuellen Notlage“ des Angeklagten begründeten und eine „himmelschreiende Toleranz“ an den Tag legten. In dem Fall gab es allerdings keinen Freispruch. Der Täter wurde des sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen und befindet sich in Haft.[20]
In der Folge des Anschlags aufSergei Skripal durch den russischen MilitärgeheimdienstGRU mit demNervenkampfstoffNowitschok verbreitete der Sender verschiedene sich gegenseitig widersprechende Versionen des Geschehens. Zunächst wurde behauptet, der Vorfall sei ein Vorwand, umRussophobie zu schüren, anschließend berichtete er, dass es sich um einen bei Überläufern häufiger vorkommenden Selbstmord gehandelt habe. Wenige Tage später folgte die Behauptung, die britische Regierung stecke hinter dem Vorfall, um möglicherweise einen Boykott derFußball-Weltmeisterschaft in Russland zu provozieren. Derselbe Sender gab am 12. März den Amerikanern und am 13. März den Ukrainern die Schuld. Darüber hinaus wurde auf dem Sender behauptet, dassBill Browder, ein bekannter Kritiker Putins, dafür verantwortlich sei und dass die britische PremierministerinTheresa May Nowitschok erfunden habe (möglicherweise verwechselte man sie mit einer anderen Premierministerin, die Chemikerin war).[22]
Zum fünften Jahrestag derEuromaidan-Protestbewegung zeigte der Perwy Kanal im November 2018 eine Sendung über einen enttäuschten Ukrainer, der seine Teilnahme an den Protesten bereue. Russische Blogger entlarvten den Mann als einen belarussischen Schauspieler, der nie am Euromaidan teilgenommen hatte. Die Sendung wurde inMinsk und nicht wie behauptet inKrywyj Rih aufgenommen. Der Perwy Kanal erklärte, dass der Sender bei den Dreharbeiten getäuscht worden sei. Der Schauspieler sagte, dass er sich für die Mitarbeit an der Sendung schäme.[23][24]
Perwy kanal ist landesweit der Sender mit der größten Reichweite und kann von 99,8 % der russischen Bevölkerung empfangen werden, die wöchentliche Zuschauerschaft beim Sender erreicht über 80 % der Bevölkerung.[5] Bei einer Erhebung 2003 belegte er auch bei der Zahl der Zuschauer mit knapp 25 % landesweit den ersten Platz, was seine herausragende Stellung unter denrussischen Medien verdeutlicht.[5]
↑abcdRusslandanalysen 118 (PDF; 295 kB) der Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen, 17. November 2006.
↑abChristina Hebel:(S+) TV-Journalistin Marina Owsjannikowa: »Ich bin jetzt der Feind Nummer Eins hier«. In:Der Spiegel. 16. März 2022,ISSN2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 16. März 2022]).
↑Dan Kaszeta:Toxic. A History of Nerve Agents, From Nazi Germany to Putin’s Russia. Hurst & Company, London 2020,ISBN 978-1-78738-306-7,S.242–244 (englisch,eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).