Otto Gradenwitz
Otto Gradenwitz (*16. Mai1860 inBreslau; †7. Juli1935 inBerlin) war ein deutscherRechtshistoriker undLexikograph.
Leben
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Sein Vater warBankkaufmann. Otto Gradenwitz zeigte auf demMaria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau großes Interesse fürMathematik. Er wurde daher von seinem Lehrer wiederholt ermutigt, Mathematik zu studieren. Als er sich dann doch für dieJurisprudenz entschlossen hatte, begründete er seinem Lehrer gegenüber diese Entscheidung so: „Als Jurist kann jeder etwas werden, als Mathematiker muss man begabt sein.“
Gradenwitz studierte Jura an den UniversitätenBreslau,Berlin,Heidelberg und inLeipzig. Erpromovierte 1880 in Berlin. Es folgte derMilitärdienst inStraßburg und 1885 dieHabilitation in Berlin, zu der ihnErnst Immanuel Bekker ermutigt hatte. Die Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift mit dem TitelInterpolationen in denPandekten 1887 legte den Grundstein für sein hohes wissenschaftliches Ansehen, das die ArbeitenOtto Lenels im Bereich der Rekonstruktion klassischer Rechtstexte ergänzte.[1] Parallel dazu entwickelte er eine Methodik der Interpolationenkritik, die er anhand von Beispielen erläuterte. Er zog zudem das wohlwollende InteresseTheodor Mommsens auf sich. Begünstigt wurden seine Arbeiten durch eine Tendenz seiner Zeit, hergebrachten Überlieferungen mit Misstrauen zu begegnen und Aufklärung in letzter Konsequenz zu betreiben.[2]
1890 wurde Gradenwitzaußerplanmäßiger Professor in Berlin. Die ihm übertragene Leitung einer lexikalischen Aufgabe für dasrömische Recht war für ihn jedoch wenig befriedigend. Er sah dadurch seine Berufschancen gemindert und folgte daher 1895 einer Berufung nachKönigsberg, wo er 1896ordentlicher Professor wurde. Die Trennung von seiner eigentlichen Forschung in Berlin und die Beschränkung seiner Lehrtätigkeit auf dasZivilrecht ließen Gradenwitz allerdings die zehn Jahre in Königsberg als Verbannung empfinden. Die Ablehnung der von ihm angestrebten juristisch-philologischen Spezialprofessur erklärte er sich aus seinerjüdischen Abstammung (obwohl er sich hatte taufen lassen). Er fühlte sich in seiner Arbeit zurückgesetzt, weil er nicht Deutscher, sondern nur „Deutschländer“ sei, wie er es nannte; dennoch war er ein BewundererBismarcks.
Der Ruf an dieUniversität Straßburg 1907 war für ihn „die Stunde der Erlösung“. Ein Jahr später wurde er an die Universität Heidelberg berufen. 1910 war Gradenwitz Gründungsmitglied derHeidelberger Akademie der Wissenschaften. Seit 1933 war er korrespondierendes Mitglied derBayerischen Akademie der Wissenschaften.
Gradenwitz hat in vielen Wissenschaftsgebieten gearbeitet und wurde für seine Originalität gelobt. Seine Arbeiten zumbürgerlichen Recht (Ungültigkeit obligatorischer Rechtsgeschäfte; Anfechtung und Reurecht beim Irrtum; Wörterverzeichnis zum Bürgerlichen Gesetzbuch etc.) stehen neben seinem rechts- und zeithistorischen Schaffen. So erschien 1929 eine Arbeit, in der er dieregula Benedicti nach den Grundsätzen derPandekten-Kritik behandelte, und veröffentlichte zu Bismarcks Entlassung.
Besondere Verdienste erwarb sich Gradenwitz in derPapyrologie; den Anstoß zu juristischen Arbeiten an Papyrus-Urkunden hatte er von Mommsen erhalten. 1918 rief Gradenwitz in Heidelberg das rechtshistorische Papyrus-Institut ins Leben und gab 1925 denIndex zumCodex Theodosianus, den sogenannten Gradenwitz-Index, heraus.[3] Er erstellte auch denHeidelberger Konträrindex der griechischen Papyrus-Urkunden. Anregungen für seine Arbeit an denLaterculi vocum latinarum erhielt er vonHermann Diels. Auf seine Initiative und unter Einsatz seines Privatvermögens kam es zur Schaffung der grundlegenden und bis heute benutzten und weitergeführten Hilfsmittel des Fachs Papyrologie durchFriedrich Preisigke und zu dessen Berufung als Leiter des 1918 neugegründetenInstituts für Papyrologie an der Universität Heidelberg.[4]
1928 ließ er sichemeritieren. Seine Arbeit als Papyrologe setzte er fort, reiste viel und hielt Kontakt mit den Kollegen im Ausland. Er lebte in Berlin und inRom.
Die juristische Fakultät der Universität Königsberg und die philosophische Fakultät der Universität Berlin ernannten Gradenwitz 1930 zum Ehrendoktor.
Otto Gradenwitz starb 1935 im Alter von 75 Jahren in Berlin und wurde auf demWaldfriedhof Dahlem beigesetzt. Das Grab ist nicht erhalten.[5]
Veröffentlichungen (Auswahl)
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Einführung in die Papyruskunde. Erklärung ausgewählter Urkunden. Hirzel, Leipzig 1900 (Nachdruck: Keip, Frankfurt/M. 1970).
- (Hrsg.):Wortverzeichniß zum Bürgerlichen Gesetzbuche. Heymann, Berlin 1902.
- (Hrsg.):Laterculi vocum latinarum. Voces Latinas et a fronte et a tergo. Hirzel, Leipzig 1904 (Nachdruck: Olms, Hildesheim 1966).
- Theodor Mommsen. Böhlau, Weimar 1904.
- Zur Universitätsverfassung. Mohr, Tübingen 1908.
- Akten über Bismarcks großdeutsche Rundfahrt vom Jahre 1892. Winter, Heidelberg 1921 (Digitalisat).
- Bismarcks letzter Kampf 1888-1898. Skizzen nach Akten (=Preußische Jahrbücher. Band 15). Stilke, Berlin 1924.
- Heidelberger Index zum Theodosianus. Zwei Teile. Weidmann, Berlin 1925/1929 (Nachdruck: Weidmann, Zürich 1977).
- Otto Gradenwitz. In:Hans Planitz (Hrsg.):Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Band 3, Meiner, Leipzig 1929, S. 41–88 (= obere Paginierung S. 1–48).
- Bismarck am Schreibtisch. Der verhängnisvolle Immediatbericht. Vahlen, Berlin 1932.
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Paul Koschaker:Otto Gradenwitz †. In:Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung. Band 56 (1936), S. IX–XII.ISSN 0323-4096.
- Emil Kießling:In memoriam. In:Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung. Band 56 (1936), S. 418–425 (Würdigung und Schriftenverzeichnis.)ISSN 0323-4096.
- Max Kaser: Gradenwitz, Otto. In:Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 6, Duncker & Humblot, Berlin 1964,ISBN 3-428-00187-7, S. 702 f. (Digitalisat).
- Franz Menges: Kuczynski, Robert René. In:Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 13, Duncker & Humblot, Berlin 1982,ISBN 3-428-00194-X, S. 164 f. (Digitalisat). (Nebeneintrag).
- Wolfgang Leiser:Gradenwitz, Otto. In:Badische Biographien. N.F. Band 1, Stuttgart 1982, S. 142–144 (E-Text).
- Wilhelm Doerr (Hrsg.):Semper apertus, 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität 1386–1986. Band 3, Berlin 1985.
- Otmar Eitner (Hrsg.):Das Gymnasium St. Maria-Magdalena zu Breslau vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Selbstverlag, Bad Honnef 2003, S. 71 (Foto S. 70).
- Martin Avenarius,Christian Baldus, Francesca Lamberti und Mario Varvaro (Hrsg.):Gradenwitz, Riccobono und die Entwicklung der Interpolationenkritik / Gradenwitz, Riccobono e gli sviluppi della critica interpolazionistica. Methodentransfer unter europäischen Juristen im späten 19. Jahrhundert / Circolazione di modelli e metodi fra giuristi europei nel tardo Ottocento (=Ius Romanum. Band 5). Mohr Siebeck, Tübingen 2018,ISBN 978-3-16-156193-1.
- Christian Baldus,Christian Hattenhauer undKlaus-Peter Schroeder (Hrsg.):Geschichtliche Rechtswissenschaft. 100 Jahre Heidelberger Institut (1918–2018) (=Miscellanea Juridica. Band 7). Jedermann-Verlag, Heidelberg 2018,ISBN 978-3-86825-324-5.
- Andrea Jördens:Otto Gradenwitz und der Kampf für die Grundlagenprojekte. In: Mario Capasso, Paola Davoli und Natascia Pellé (Hrsg.):Proceedings of the 29th International Congress of Papyrology. Lecce, 28th July – 3th August 2019 (=Quaderni dell’Istituto superiore universitario di formazione interdisciplinare. Band 2). Centro di Studi Papirologici dell’Università del Salento, Lecce 2022, Bd. 1, S. 36–55.
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Literatur von und über Otto Gradenwitz im Katalog derDeutschen Nationalbibliothek
- Papyri aus der Sammlung Gradenwitz im Kloster Beuron
- Otto Gradenwitz überErnst Immanuel Bekker
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Reinhard Zimmermann:Heutiges Recht, Römisches Recht und heutiges Römisches Recht. In:Reinhard Zimmermann u. a. (Hrsg.):Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik. C.F. Müller, Heidelberg 1999, S. 1–39 (S. 17 f.).
- ↑Max Kaser:Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode (=Forschungen zum Römischen Recht, Band 36), Böhlau, Wien/Köln/Graz 1986,ISBN 3-205-05001-0, S. 122 (Beschrieben wird die Parallelität zur „Bibel-“ oder auch „Homerkritik“).
- ↑Vgl. Christian Baldus:Spuren geschichtlicher Rechtswissenschaft: Vorstellung des Gradenwitz-Index. In:Christian Baldus,Christian Hattenhauer undKlaus-Peter Schroeder (Hrsg.):Geschichtliche Rechtswissenschaft. 100 Jahre Heidelberger Institut (1918–2018) (=Miscellanea Juridica Heidelbergensia Band 7). Jedermann-Verlag, Heidelberg 2018, S. 99–102; Philipp Bosch:Gradenwitz-Index. In: Christian Baldus, Christian Hattenhauer und Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.):Geschichtliche Rechtswissenschaft. 100 Jahre Heidelberger Institut (1918–2018) (=Miscellanea Juridica Heidelbergensia Band 7). Jedermann-Verlag, Heidelberg 2018, S. 103–146.
- ↑Vgl.Andrea Jördens:Otto Gradenwitz und der Kampf für die Grundlagenprojekte. In: Mario Capasso, Paola Davoli und Natascia Pellé (Hrsg.):Proceedings of the 29th International Congress of Papyrology. Lecce, 28th July – 3th August 2019 (=Quaderni dell’Istituto superiore universitario di formazione interdisciplinare Band 2). Centro di Studi Papirologici dell’Università del Salento, Lecce 2022, Band 1, S. 36–55.
- ↑Hans-Jürgen Mende:Lexikon Berliner Begräbnisstätten. Pharus-Plan, Berlin 2018,ISBN 978-3-86514-206-1, S. 580.
Personendaten | |
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NAME | Gradenwitz, Otto |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Rechtshistoriker und Lexikograph |
GEBURTSDATUM | 16. Mai 1860 |
GEBURTSORT | Breslau |
STERBEDATUM | 7. Juli 1935 |
STERBEORT | Berlin |
- Rechtshistoriker (Römisches Recht)
- Papyrologe
- Rechtshistoriker (20. Jahrhundert)
- Rechtshistoriker (19. Jahrhundert)
- Hochschullehrer (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
- Mitglied der Accademia dei Lincei
- Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
- Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
- Rechtshistoriker (Recht der griechischen Antike)
- Privatrechtler (20. Jahrhundert)
- Privatrechtler (19. Jahrhundert)
- Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin
- Ehrendoktor der Albertus-Universität Königsberg
- Deutscher
- Geboren 1860
- Gestorben 1935
- Mann