Othering
Der BegriffOthering (engl.other, otherness „anders, andersartig“), selten auchAlterisierung,[1] imDeutschen bisweilenAndersmachung,[2]Fremd-Machung[3] o. ä., bezeichnet den Prozess der bewertenden Unterscheidung einer Person oder Gruppe von anderenGruppen: Jeder Mensch bringt dabei seine höchsteigene Vorstellung hervor, welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt (Eigengruppe) und welche er als „anders“ oder „fremd“kategorisiert. Die Art und Weise der empfundenen „Norm“ bestimmt den Grad derDistanzierung von „den Anderen“.[4][5][6]
Beim Othering hebt man sich selbst bzw. sein soziales Image positiv hervor, indem man Andere in bestimmter Hinsicht abwertet. In dieser Differenzierung liegt potenzielleshierarchisches undstereotypes Denken, um seine eigene Position zu verbessern und als richtig darzustellen. Je deutlicher die Abgrenzung hervorgehoben wird, desto einseitiger und unrealistischer werden „die Anderen“ wahrgenommen.[6]
Ursprung und Entwicklung des Konzepts
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Das Konzept des Othering hat seinen Ursprung in den Werken einer Reihe von Philosophen.Hegel etwa beschäftigte sich im KapitelHerrschaft und Knechtschaft seinerPhänomenologie des Geistes mit der Frage, wie die Wahrnehmung des Selbst mit der Konstruktion und Abgrenzung zum Anderen zusammenhängt.Simone de Beauvoir verwendete das Konzept im Rahmen ihrer Theorie, dass Männer gesellschaftlich als Norm und Frauen als das Andere betrachtet werden. Später fand Othering inpostkolonialen Schriften vonEdward Said (1978) undJohannes Fabian (1983) Anwendung. 1985 erweiterteGayatri Chakravorty Spivak das Othering-Konzept und setzte es erstmals systematisch ein. In dem EssayThe Rani of Sirmur analysierte sie Tagebücher britischer Kolonialmächte in Indien und wies darin drei Dimensionen des Othering nach.[7][8]
Othering hält Einzug in dieKontinentalphilosophie undKritische Theorie sowie Theorien derEthnologie,Sozialarbeit,Soziologie,Kultur- undSozialanthropologie sowieGruppenpädagogik.
Definition und Begriffsverwendung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Othering beschreibt den Prozess, sich selbst und sein sozialesImage hervorzuheben, indem man Menschen mit anderen Merkmalen als andersartig, „fremd“ klassifiziert.[9] Es findet also eine betonte Unterscheidung und Distanzierung von „den Anderen“ statt, sei es wegen desGeschlechts, dersexuellen Orientierung, derReligionszugehörigkeit bzw.Weltanschauung, derSitten undGebräuche, derethnischen Zugehörigkeit, derNationalität, der sozialen Stellung innerhalb einer Gesellschaft, wie z. B. derKlassenzugehörigkeit, derBildung, derIdeologie oder auch vermeintlicher biologischer Unterscheidungskriterien zwischen Menschen (vgl.„Rasse“ bzw.Rassismus undExotismus).
Othering bedeutet also, sich mit anderen zu vergleichen, sich von ihnen abzuheben und zu distanzieren, wobei die Vorstellung existiert, dassMenschen undGesellschaften sich durch deren Lebensform, Kultur oder andere Merkmale von der eigenen sozialen Gruppe erheblich unterscheiden (so genannterAkzentuierungseffekt).
Je nach persönlichem Umfeld einer Person (Werte und Weltanschauungen der Eltern bzw. sozialen Gruppen, denen sich jemand zugehörig fühlt) und der Verweigerung eines Dialoges mit „den Anderen“ kann Othering zu verschiedenen Entwicklungen führen:[6]
- Identifikation durch Projektion der eigenen Denkkategorien auf andere Gruppen und anschließendem bewussten Vergleich, der zu einerempathischen Annäherung und Verständnis führt
- Selbstkonstruktion durch Definition angeblicher Gegensätze („Ich handle weitsichtig, bin aufrichtig und gottesfürchtig,du hingegen handelst unüberlegt, bist verlogen und gotteslästerlich.“)
- Stereotypisierung durch unkorrekte Verallgemeinerungen (die Ausländer,alle Jugendlichen, abwertende BezeichnungIslamisten stattMoslems)
- Distinktion (Abgrenzungstendenzen) durch Festlegung der „richtigen“ Kleidung, der „einzigen“ Wahrheit, des „anständigen“ Lebenswandels usw. als (sichtbarem) Ausdruck der angeblichen Überlegenheit.
Der österreichische EthnologeAndre Gingrich definiert Othering als die „Darstellung von machtlosen ‚Anderen‘ gemäß den Interessen der Mächtigen“. Insbesondere werde die Nichtberücksichtigung der Anliegen fremder Gruppen damit bezeichnet, etwa was die Eigentumsrechteindigener Völker betreffe.[10]
Die Kultur- und Sozialanthropologin Ingrid Thurner weist darauf hin, dass gewisse kulturelle Institutionen und ökonomische Sparten ohne Alterisierungen nicht denkbar sind. „Im ethnologischen Museum und im Tourismus werden Differenz und Andersheit nachgerade zelebriert. Es sind jene Gesellschaften am interessantesten, die sich von derjenigen, der man sich selbst zugehörig fühlt, am meisten unterscheiden.“[11]
Der Religionswissenschaftler Janosch Freuding sieht im Fremdheitsbegriff einen Verweis „auf eine menschliche Urerfahrung“, welche „nicht auf einen speziellen Kontext beschränkt“ ist und daher ein „intersubjektiv anknüpfbares“ Thema darstellt.[12] Gleichzeitig ist sie jedoch „zutiefst mit der persönlichen Biographie eines jeden Menschen verknüpft“, da nur das „Ich“ Objekt einer Fremdheitserfahrung sein kann. Freuding argumentiert jedoch, dass Fremdheitserfahrungen im Sinne der vonNiklas Luhmann beschriebenen „Beobachtung zweiter Ordnung“ dekonstruiert werden können und somit über die persönliche Erfahrung des Individuums hinaus vermittelbar gemacht werden können.
Eine allgemein gebräuchliche deutsche Übersetzung existiert bislang nicht.Julia Reuter hat „othering“ als„VerAnderung“ übersetzt.[13] Eine andere gebräuchliche Übersetzung ist „Fremd-Machung“.[14][15]
Folgen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Othering kann zuFeindbildern, insbesondere zurFremdenfeindlichkeit führen, wenn Angehörige einer kulturellen Gruppe befürchten, dass sich „fremde“ Einflüsse auf die „eigene“Kultur ausweiten und sie damit bedrohen würden.Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Bezeichnet sich eine Gruppe als „auserwählt“, so grenzt sie sich damit zwangsläufig von den „Nicht-Auserwählten“ ab. Verbindet sich diese Idee mit der Angst davor, von den anderen „verunreinigt“ zu werden, entsteht die – oft geradezufanatisch vertretene – Vorstellung, es sei wertvoll bzw. notwendig, die eigene Gruppe vor Einflüssen der ausgegrenzten Gruppen „rein“ zu halten. Mischt sich diese Vorstellung von „kultureller Reinheit“ auch mit einer Vorstellung von „biologischer Reinheit“, so führt dies schließlich zum Rassismus. (Siehe auch z. B. die Thematik der Rassenmischung imNationalsozialismus und in anderenfaschistischen Ideologien.)
Die Vorstellung, dass sich die Fremdgruppe fundamental von der eigenen Gruppe abgrenzt und als nicht gleichwertig gesehen wird, führt zu einer Legitimierung von Ungleichbehandlung.[16] Der als Othering beschriebene sozialpsychologische Mechanismus ist eine der Grundlagen fürDiskriminierung von Minderheiten und vonVerfeindungsprozessen zwischen verschiedenen Gruppen allgemein (z. B.ethnische Gruppen oderReligionsgemeinschaften).
Siehe auch
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Eigengruppe und Fremdgruppe / Ingroup vs. Outgroup
sowie die Kategorien
- Diskriminierung nach Gruppen
- Soziale Gruppe
- einzelne Lemmata inSoziale Beziehung
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Maureen Maisha Eggers:Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. Zur Aktualität und Normativität diskursiver Vermittlungen von hierarchisch aufeinander bezogenen rassifizierten Konstruktionen. In: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hrsg.):Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005,ISBN 3-89771-440-X.
- Janosch Freuding:Fremdheitserfahrungen und Othering. Ordnungen des »Eigenen« und »Fremden« in interreligiöser Bildung. Transcript, Bielefeld 2022,ISBN 978-3-8394-6043-6.
- Kerstin Gernig (Hrsg.):Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen. Dahlem University Press, Berlin 2001,ISBN 3-934504-04-3.
- María do Mar Castro Varela,Paul Mecheril (Hrsg.):Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. transcript, Bielefeld 2016,ISBN 978-3-8376-3638-3.
- Nelly Oudshoorn:Eine natürliche Ordnung der Dinge? Reproduktionswissenschaften und die Politik des „Othering“. In: Ilse Lenz, Lisa Mense, Charlotte Ullrich (Hrsg.):Reflexive Körper? – Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Opladen 2004,ISBN 3-8100-3922-5.
- Julia Reuter:Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Transcript Verlag, Bielefeld 2002,ISBN 3-933127-84-X.
- Gayatri Chakravorty Spivak:The Rani of Sirmur: An Essay in Reading the Archives. In:History and Theory 24 (1985), Heft 3, S. 247–272.
- Ingrid Thurner:Anderssein und Andersmachen. Über Diversitäten, Diskriminierungen und Dummheiten. Löcker Verlag, Wien 2021,ISBN 978-3-99098-059-0.
- Iris Marion Young:Fünf Formen der Unterdrückung. In:Christoph Horn, Nico Scarano:Philosophie der Gerechtigkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002,ISBN 3-518-29163-7.
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Wörterbuch auf der Webseite der Konzeptions- und Beratungsstelle für Diversitätsentwicklung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa (gegründet April 2017)
- Othering in der Pädagogik
- Artikel zum Zusammenhang von Sprache und Othering auf der Webseite des Dawson College
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑(De-)Othering: rassismuskritische Revisionen sprachlicher, visueller und materieller Ordnungen | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web. 6. März 2022, abgerufen am 6. März 2022.
- ↑Mohamed Amjahid:Unter Weißen, genannt imtaz-Artikel: Soziale Ausgrenzung durch „Othering“: Weg mit dem Müll.online abgerufen am 31. Juli 2024.
- ↑Wörterbuch von diversity-arts-culture.berlin:online abgerufen am 31. Juli 2024.
- ↑Julia Reuter:Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Transcript Verlag, Bielefeld 2002,ISBN 3-933127-84-X, S. 20, 142, 146.
- ↑Othering: Was bedeutet der Begriff „othering“? in der Rubrik: „kurz erklärt“ dervielfalt-mediathek.de abgerufen am 31. Juli 2024.
- ↑abcHarald Klein:Die Haltung des „Othering“ und die „Fünf Formen der Unterdrückung“ nachIris Marion Young. Wissenschaftliche Beiträge vom 25. November 2019 inSpiritualität für soziale Berufe,online abgerufen am 31. Juli 2024.
- ↑Lajos Brons:Othering, an Analysis. In:Transcience. 6, Nr. 1, 2015, S. 69–90.ISSN 2191-1150.
- ↑Sune Qvotrup Jensen:Othering, identity formation and agency. In:Qualitative Studies. 2, Nr. 2, 2011, S. 63–78.
- ↑Maria do Mar Castro Varela:Un-Sinn: Postkoloniale Theorie und Diversity. In: Fabian Kessel, Melanie Plößer (Hrsg.):Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010,S. 256.
- ↑Andre Gingrich:Othering. In: derselbe, Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll (Hrsg.):Lexikon der Globalisierung. transcript, Bielefeld 2011,ISBN 978-3-8376-1822-8, S. 323 (abgerufen überDe Gruyter Online).
- ↑Ingrid Thurner:Anderssein und Andersmachen. Über Diversitäten, Diskriminierungen und Dummheiten. Löcker Verlag, Wien 2021,ISBN 978-3-99098-059-0, S. 10.
- ↑Janosch Freuding:Fremdheitserfahrungen und Othering : Ordnungen des »Eigenen« und »Fremden« in interreligiöser Bildung. Bielefeld 2022,ISBN 978-3-8376-6043-2,S. 375.
- ↑Larissa Schindler:Rezension: Julia Reuter (2011). Geschlecht und Körper: Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. In:Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum Qualitative Social Research. 13(2), Art. 6.(nbn-resolving.de)
- ↑Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hrsg.):Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz: Grundlagentheoretische Reflexionen. Transcript Verlag, Bielefeld 2007,ISBN 978-3-89942-477-5, S. 117.(books.google.ca)
- ↑Claudia Benthien,Hans Rudolf Velten (Hrsg.):Germanistik als Kulturwissenschaft: eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002,ISBN 3-499-55643-X, S. 72.
- ↑Andreas Zick:Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung. In: Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Gökçen Yüksel (Hrsg.):Handbuch Diskriminierung. Springer VS, Wiesbaden 2017,S. 61 (springer.com [PDF]).