Martin Walsers Geburtshaus am Bahnhof in Wasserburg am Bodensee (2017)Plakette am Geburtshaus von Martin Walser in WasserburgGedenktafel inHeringsdorf
Martin Walsers Eltern, der Gastwirt Martin Walser und dessen Ehefrau, eine geborene Schmid, betrieben dieBahnhofsrestauration und eine Kohlenhandlung in Wasserburg amBodensee. Das Milieu seiner Kindheit wird im RomanEin springender Brunnen geschildert. 1938 bis 1943 besuchte er dieOberschule bzw. Oberrealschule inLindau; dann wurde er alsFlakhelfer eingezogen und leistete von 1944 bis 1945 Wehrdienst. Am 30. Januar 1944 beantragte Walser die Aufnahme in dieNSDAP und wurde zum 20. April desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 9.742.136).[3][4] Walser bestritt entschieden, jemals einen Aufnahmeantrag ausgefüllt zu haben,[5] allerdings war nach aktuellem Forschungsstand eine Aufnahme ohne eigenes Zutun nicht möglich.[6] Nach demReichsarbeitsdienst erlebte er das Ende desZweiten Weltkrieges als Soldat derWehrmacht.
Nach Kriegsende machte er 1946 in Lindau amBodensee-Gymnasium dasAbitur. Er war katholisch und studierte an derPhilosophisch-theologischen Hochschule Regensburg und von 1948 bis 1951 an derEberhard Karls Universität Tübingen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. 1950 heiratete er Katharina „Käthe“ Neuner-Jehle, geborene Jehle. Aus dieser Ehe gingen die TöchterFranziska,Katharina-Johanna,Alissa undTheresia hervor.[7] MitMaria Carlsson, der damaligen Lebensgefährtin und späteren Ehefrau desSpiegel-GründersRudolf Augstein, hatte er außerdem den SohnJakob Augstein.[8] 2009 gab Jakob Augstein bekannt, dass Walser sein leiblicher Vater sei, was er 2002 nach dem Tod von Rudolf Augstein durch seine Mutter erfahren hatte.[9] Walser und Augstein trafen sich seither häufig. Über die späte Vaterschaft merkte Walser 2017 an: „Ich hab nur gemerkt, dass diese Besuchsvaterschaft ein Immer-zu-wenig war“.[10] Er war zudem Schwiegervater des SchriftstellersSascha Anderson, der mit seiner Tochter Alissa verheiratet ist, und des SchauspielersEdgar Selge, des Ehemannes seiner ältesten Tochter Franziska.
Während des Studiums begann Walser 1949, für den neu gegründetenSüddeutschen Rundfunk (SDR) alsReporter zu arbeiten undHörspiele zu schreiben.[11] Eine zwischenzeitliche Festanstellung beim SDR ermöglichte ihm 1951 diePromotion zum Dr. phil. in Tübingen mit einerDissertation überFranz Kafka.Zusammen mitHelmut Jedele bildete er den Kern der „Genietruppe“ des Stuttgarter Hörfunks und baute als freier Mitarbeiter den Fernsehbereich des Senders mit auf. Er führte Hörspielregie und wirkte 1953 am Buch der ersten Fernsehfilmproduktion des deutschen Nachkriegsfernsehens mit.[12] Parallel dazu vertiefte er als Rundfunkredakteur und Autor seine Kontakte zur Literaturszene.
Ab 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen derGruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die ErzählungTemplones Ende auszeichnete. Sein erster RomanEhen in Philippsburg erschien 1957 und wurde ein großer Erfolg. Walser lebte von da an mit seiner Familie als freier Schriftsteller erst inFriedrichshafen und dann inNußdorf am Bodensee.
In den 1960er-Jahren setzte sich Walser, wieGünter Grass und andere, vor allem linkeIntellektuelle, für die Wahl vonWilly Brandt zum Bundeskanzler ein. 1964 war er Zuhörer beimAuschwitz-Prozess in Frankfurt. Er engagierte sich gegen denVietnamkrieg.[13] Er reiste nach Moskau und galt (auch seinem VerlegerSiegfried Unseld) in den 1960er- und 1970er-Jahren als Sympathisant derDeutschen Kommunistischen Partei, der er aber nie als Mitglied angehörte. Er war mitErnst Bloch,Robert Steigerwald u. a. befreundet. Im Jahr 1973 war er in den USA Gastdozent desMiddlebury College in Vermont und der Universität Austin, 1976 Gastdozent derWest Virginia University inMorgantown (West Virginia). 1988 hielt Walser im Rahmen der ReiheReden über das eigene Land eine Rede, in der er deutlich machte, dass er diedeutsche Teilung als schmerzende Lücke empfand, mit der er sich nicht abfinden wollte. Diesen Stoff machte er auch zum Thema seiner ErzählungDorle und Wolf. Auch wenn Walser ausdrücklich betonte, dass sich seine Haltung über die Zeit nicht verändert habe, sprechen einige Beobachter von einem Sinneswandel des Autors.
Eine in Verlagsverträgen ungewöhnliche Klausel ermöglichte es Walser, nach dem Tod von Siegfried Unseld mit allen seinen Werken 2004 vomSuhrkamp Verlag zumRowohlt Verlag zu wechseln. Insbesondere spielte laut eigener Aussage dabei die fehlende Positionierung des Verlags im Streit um seinen umstrittenen RomanTod eines Kritikers eine Rolle. Walser hatte in diesem Zusammenhang denLiteraturkritikerMarcel Reich-Ranicki einerseits als Person und andererseits als Symbol einer angeblich unredlichen Kulturszene angegriffen. Unter anderenFrank Schirrmacher kritisierte diesbezüglich ein „Spiel mitantisemitischen Klischees“.
Im Jahr 2007 gab Walser einen Großteil seiner Manuskripte alsVorlass an dasDeutsche Literaturarchiv Marbach.[14] Teile davon sind imLiteraturmuseum der Moderne in Marbach in der Dauerausstellung zu sehen, dazu gehören die Manuskripte vonEhen in Philippsburg,Das Einhorn undEin springender Brunnen.Im Juli 2022 überließ Walser den aus Entwürfen, Manuskripten und Übersetzungen seiner erzählerischen, dramatischen und essayistischen Werke sowie 75 Tagebüchern bestehenden Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv.[15][16]
Das Literaturhaus München zeigte 2005 die vonArmin Kratzert undJörg Magenau kuratierte Ausstellung „Martin Walser. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“. Anlässlich Walsers 75. Geburtstag im Jahr 2002 wurde die DokumentationMartin Walser – Eine Deutschlandreise ausgestrahlt.[17] Zu seinem 85. Geburtstag im Jahr 2012 folgte die DokumentationMartin Walser – Ein Leben für Alle und Keinen.[17] Zu Walsers 90. Geburtstag sendete dieARD die 90-minütige DokumentationMein Diesseits – Unterwegs mit Martin Walser (Buch und Regie Frank Hertweck),[18] in derDenis Scheck gemeinsam mit Walser die wichtigen amBodensee gelegenen Stationen dessen Lebens besucht, wie etwa sein Geburtshaus, das heute eineBallettschule ist.[17]
Walser war bis zuletzt unermüdlich produktiv. Auch in seinem letzten Lebensabschnitt „legte er Jahr für Jahr einen neuen Roman vor.“[20] Martin Walser starb am 26. Juli 2023 im Alter von 96 Jahren in seinem Zuhause inNußdorf, einem Stadtteil vonÜberlingen am Bodensee. Er wurde am 31. Juli 2023 in seinem Geburtsort Wasserburg auf dem Pfarrfriedhof an der Sankt-Georgs-Kirche beigesetzt.[21][22]Während der Gedenkfeier inStuttgart zu seinen Ehren erinnerte sein FreundArnold Stadler daran, dass Walser es, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt, nicht mit Ideologien, sondern mit dem HumanistenSebastian Castellio gehalten habe: „Einen Menschen töten heisst nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.“[23]
Ein immer wiederkehrendes Motiv Walsers ist das Scheitern am Leben: Seine Helden sind den Anforderungen, die ihre Mitmenschen an sie oder sie selbst an sich stellen, nicht gewachsen; der innere Konflikt, den sie deswegen mit sich austragen, findet sich in allen großen Walser-Romanen wieder. Dass die Kämpfe nur in der Seele seiner Helden brodeln, während die äußere Handlung meist Nebensache bleibt, macht Martin Walser zu einem typischen Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur (wieHeinrich Böll,Peter Handke oderSiegfried Lenz) und setzt ihn in Gegensatz zur angelsächsischen Literaturtradition, in der das Vorantreiben einer äußeren Handlung weit bedeutender ist.
„Immer hat Walser betont, dass sein Welt- und Menschenbild in seinen Romanen zur vollen und letzten Gültigkeit gediehen sei, nicht in seinen politischen Plädoyers und Meinungskundgebungen“, soMartin Krumbholz in einem Nachruf auf Walser. Dennoch seien die vielen Aufsätze nicht aus dem Werk Walsers wegzudenken, gehörten sie doch dank ihrem Scharfsinn und ihrer Brillanz, verbunden mit der ihnen eigenen Argumentationslust sogar zum Kernbestand.[24]
Auch am Theater hatte Walser Erfolg. Bereits sein erstes StückDer Abstecher hatte in den 1960er-Jahren über fünfzig Inszenierungen.Eiche und Angora war eine erste künstlerische Auseinandersetzung Walsers mit derZeit des Nationalsozialismus. Wie in der schwäbischenGroteske lautHellmuth Karasek „mit dem Entsetzen Scherz getrieben“ wurde, führte zu einer kontroversen Aufnahme in der Kritik, jedoch auch zu einem ersten internationalen Theatererfolg in Wien, Zürich, Basel, Rotterdam, Skopje, Edinburgh und über ein Jahr lang ununterbrochen in Paris.[25]
Marcel Reich-Ranicki lobte den Autor im September 1963 mit den Worten: „Walsers frühe Geschichten sind zeitkritische Diagnosen und Proteste gegen einen Zustand, der das Individuum an seiner Entfaltung hindert, es verkümmern läßt und zugrunde richtet. Dies gilt ebenso für Walsers spätere Prosa. Wenn auch mit anderen Mitteln, so demonstriert er immer wieder an den Schicksalen verschiedener Gestalten die Absurdität eines Daseins, in dem der Mut eines Sparkassenräubers eigentlich für jeden Beruf unentbehrlich wird. Und er tut dies in dem Bewußtsein der eigenen Ohnmacht.“[26]
Iris Radisch bescheinigte Walser in ihrem Nachruf fürDie Zeit „mit seiner Mixtur aus kleinbürgerlichem Strebertum, Tief- und Eigensinn plus höherem Klamauk eine literarische Tiefenbohrung kleindeutscher Gefühlslagen, die auch in dieser Liga absolut einmalig war.“ Als Walser-Romane, die man „unbedingt irgendwann einmal im Leben“ gelesen haben sollte, empfahl sieEhen in Philippsburg,Halbzeit,Seelenarbeit,Brandung,Die Verteidigung der Kindheit undEin springender Brunnen.[27]
„Je subjektiver wir formulieren, desto wertvoller werden wir für die übrige Welt“, findetEdgar Selge in einem Nachruf auf seinen Schwiegervater Martin Walser. „Walsers Kampf um die ungeteilte eigene Wahrnehmung und ihre Veröffentlichung ist das größte Geschenk, das er uns gemacht hat. Und das Wetterleuchten, das seine Provokationen erzeugten, wird anhalten, solange es seine Interviews und Dokumentarfilme, solange es seine Bücher gibt.“[28]
Im Vorfeld eines Prozesses, den der Aufsichtsratsvorsitzende derDeutschen BankHermann Josef Abs gegen den DDR-HistorikerEberhard Czichon und dessen westdeutschen VerlegerManfred Pahl-Rugenstein wegen mehrerer falscher Tatsachenbehauptungen zu Abs’ Tätigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus führte, veröffentlichte Walser am 24. August 1970 imSpiegel eine ausführliche Rezension der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Bank.[29]Darin empfahl er Czichons Buch, rechtfertigte die Theorie desStaatsmonopolistischen Kapitalismus und kritisierte, dass die Festschrift die demokratisch nicht legitimierte Macht der Bank verharmlose: „Ist die Deutsche Bank naiv?“ Die Presseabteilung der Deutschen Bank erzwang eineGegendarstellung.Am 14. September 1970 polemisierte das Vorstandsmitglied Wilhelm Vallenthin, ein 1909 geborener Jurist aus Hamburg,[30] unter der ÜberschriftIst Martin Walser naiv? dagegen, dass dieser sich über die Kontinuität der Banktätigkeit über alle Regimewechsel der deutschen Geschichte hinweg mokiert hatte: Eine Bank sei nun einmal ein Dienstleistungsunternehmen, das bei einem Regierungswechsel ja wohl nicht seine Tätigkeit einstellen könne. Walsers Darstellung sei „Leninismus reinsten Wassers“, eine Verständigung mit ihm sei daher nicht möglich.[31]
„Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern. Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen. Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie noch nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“
–Martin Walser:Rede in der Paulskirche am 11. Oktober 1998
Die von manchen als sprachlich kompliziert empfundenen Äußerungen Walsers wurden oft wie folgt interpretiert: Dienationalsozialistischen Verbrechen würden von einigen Leuten dazu missbraucht, politische und finanzielle Forderungen gegen Deutschland zu stützen. Auch fühle derjenige, der ständig diese Verbrechen thematisiert, sich den Mitmenschen moralisch überlegen. Der ThemenkomplexAuschwitz dürfe aber nicht zur „Moralkeule“ verkommen, gerade wegen seiner großen Bedeutung. Die Rede wurde auch als Reaktion auf die KritikMarcel Reich-Ranickis an Walsers BuchEin springender Brunnen gewertet. Reich-Ranicki hatte bemängelt, dass Auschwitz in dem Buch, dessen Handlung in der NS-Zeit spielte, nicht erwähnt werde.
Walser hatte in seiner Rede auch die Begnadigung des verurteilten DDR-SpionsRainer Rupp gefordert. Dies werteteLars Rensmann als Teil der von Walser propagierten „nationalen Selbstversöhnung“ der Deutschen.[32]
Nach Walsers Rede war im Anschluss allgemein von den Anwesenden stehend applaudiert worden, mit Ausnahme des Vorsitzenden desZentralrates der Juden in DeutschlandIgnatz Bubis, dessen Frau Ida undFriedrich Schorlemmers. Bubis warf Walser später vor, „wegsehen“ zu wollen, und bezeichnete die Rede als „geistige Brandstiftung“. Letzteres nahm Bubis später zurück. Ferner wurde Walser vorgeworfen, dass rechteRevisionisten, die dieses brisante Thema abblocken wollten, sich auf ihn berufen würden. Walser hielt dieser Kritik entgegen, dass er keine politische Instrumentalisierung seiner „sehr persönlichen Ansicht“ beabsichtige und nur von seinem subjektiven Empfinden gesprochen habe.
Bei einem im Dezember 1998 von derFAZ organisierten Treffen mit Bubis erhob Walser den Vorwurf der „Dauerpräsentation unserer Schande“ und eines „grausamen Erinnerungsdienst[es]“ nicht mehr gegen „Meinungssoldaten“ und „die Medien“, sondern (lautMatthias N. Lorenz) gegen die Opfergruppe selbst. Walser sagte an Bubis’ Adresse gerichtet, „ich war in diesem Feld (=der bundesrepublikanischen Aufarbeitung der Vergangenheit) beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.“ Ferner bezeichnete Walser Bubis’ Äußerungen zu denrechtsextremen undrassistischen Übergriffen in Deutschland Anfang der 1990er-Jahre als „sofort zurückgebunden an1933“.[34]
2015 erklärte er in einemSpiegel-Interview, er habe nicht eine Instrumentalisierung von Auschwitz im deutsch-jüdischen Verhältnis gemeint, sondern eine in der deutschen Tagespolitik, so wie sie z. B. vonGünter Grass in seiner Ablehnung derDeutschen Wiedervereinigung oder vonJoschka Fischer in seiner Befürwortung der deutschen Intervention imKosovokrieg praktiziert wurde. Er bedauerte, die Rede so gehalten und Bubis damit getroffen zu haben.[35]
Im Januar 2017 hielt der Vorsitzende derAfD ThüringenBjörn Höcke eineRede im Ballhaus Watzke in Dresden, in der er sagte: „Wir Deutschen […] sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Anschließend forderte Höcke eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Die Rede löste in Medien und Politik Protest und heftige Reaktionen aus.[36]Detlef Esslinger schrieb in derSüddeutschen Zeitung: „Genau das ist der Unterschied zu Martin Walsers Paulskirchen-Rede von 1998, in deren Kontinuität Höcke sich stellt.Walser erkannte damals ,unsere unvergängliche Schande‘ wenigstens an, bevor er gegen die Erinnerungskultur polemisierte.“[37] Der Sozial- und PolitikwissenschaftlerSamuel Salzborn meinte 2018, Martin Walser habe in seiner Paulskirchen-Rede „etwas ganz Ähnliches gesagt, was Björn Höcke mittlerweile auch formuliert“, wofür Höcke jedoch „zu Recht scharf kritisiert“ worden sei, wohingegen die Reaktionen auf Walsers Rede „eher ambivalent“ gewesen seien.[38]
Nach den Debatten um die Paulskirchenrede wurde die angebliche oder tatsächliche Zuwendung Walsers zur „bürgerlichen“ Seite erneut zum öffentlichen Thema, als er bei der Klausurtagung derCSU in Wildbad Kreuth als Gastredner auftrat. Als er in seinem 2002 erschienenenSchlüsselromanTod eines Kritikers denLiteraturkritikerMarcel Reich-Ranicki einerseits als Person und andererseits als Symbol einer angeblich unredlichen Kulturszene kritisierte, gab es Proteste.Frank Schirrmacher kritisierte daraufhin sein „Spiel mitantisemitischen Klischees“. Reich-Ranicki kommentierte im Mai 2010 in einem Interview desSpiegel:
„Ich halte ihn nicht für einen Antisemiten. Aber es ist ihm wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Kritiker, der ihn angeblich am meisten gequält hat, auch nochJude ist. Er rechnet damit, dass ihm sein Publikum darin folgt. Sehen Sie, es hat vonGrass nie eine antisemitische Zeile oder Bemerkung gegeben, keine einzige. Und über dessen Bücher habe ich gewiss nicht nur positiv geschrieben.“[39]
Der KulturwissenschaftlerMatthias N. Lorenz hat Walsers Lebenswerk in seiner Dissertation„Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ auf die Darstellung von Juden bzw. den Auschwitzdiskurs untersucht.[40] In seiner Arbeit dokumentiert er das durchgängige Vorkommen der bekannten antisemitischen Stereotype. Das Leiden der Juden werde deutlich dem Leid „Deutscher“ gleichgestellt. Häufig finde sich die einfühlsame Darstellung Deutscher, die sich als „Verlierer der Geschichte“ fühlten: würdelos, stigmatisiert, ihrer Identität beraubt.[41]
DasHolocaust-Mahnmal in Berlin wurde von Walser während der Planungsphase abwertend als „fußballfeldgroßer Albtraum im Herzen der Hauptstadt“ und „Kranzabwurfstelle“ bezeichnet; nach der Fertigstellung dagegen äußerte er sich positiv zum Denkmal.[42][43]
Auch antiziganistische Positionierungen werden Walser vorgeworfen.[44] Im Mittelpunkt steht das von ihm gemeinsam mitAsta Scheib verfasste Drehbuch zu dem zweitenTatort des Hamburger Ermittler-DuosStoever und BrockmöllerArmer Nanosh aus dem Jahr 1989.Armer Nanosh wurde wegenantiziganistischer Klischees kontrovers diskutiert sowie wegen der These, die Naziverbrechen seien eine größere Bürde für die Nachfahren der Täter als für die der Opfer.[45][46][47] Ortmeyer erwähnt auch einen HinweisGünter Amendts: „nach einer Europa-Tournee des jüdischen Sängers undLyrikersBob Dylan [habe Walser] in der Redaktion der Zeitschrift »Konkret« gefragt, was denn an diesem »herumzigeunernden Israeliten« so besonders wäre“.
Selbstporträt als Kriminalroman. S. 270, Aus: Martin Walser, Werke in zwölf Bänden. Band 8, Prosa. Hg. Helmuth Kiesel, Frank Barsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997
Heinz Ludwig Arnold:Umkreisung eines Dividualisten. Über Martin Walser. In: ders:Von Unvollendeten. Literarische Porträts. Wallstein, Göttingen 2005,ISBN 3-89244-866-3.
Gerald A. Fetz:Martin Walser. Metzler, Stuttgart 1997,ISBN 3-476-10299-8.
Walser in der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik:
Hilmar Grundmann:„Berufliche Arbeit macht krank“. Literaturdidaktische Reflexionen über das Verhältnis von Beruf und Privatsphäre in den Romanen von Martin Walser. Peter Lang, Frankfurt am Main 2003,ISBN 3-631-38806-3.
Ana-Maria Pǎlimariu:„Chemnitzer Zähne“. Ironie in Martin Walsers Werk der 1970er- und 1980er-Jahre. Hartung-Gorre, Konstanz 2007,ISBN 978-3-86628-125-7.
Wörter für die Katz? Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945. Hrsg. von Miriam Seidler. Peter Lang, Frankfurt am Main 2011.ISBN 978-3-631-60661-2.
Kerstin Koblitz: „Die leeren Wände reden mit vollem Mund“. Dinge und Dinglichkeit im Erzählwerk Martin Walsers. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert, 2015,ISBN 978-3-86110-582-4.
Anita Gröger: 'Erzählte Zweifel an der Erinnerung'. Eine Erzählfigur im deutschsprachigen Roman der Nachkriegszeit (1954–1976). Ergon-Verlag, Würzburg, 2016,ISBN 978-3-95650-149-4.
Joachim Rohloff:„Ich bin das Volk“. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik. KVV-Konkret, Hamburg, 1999. [„Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.“ (Martin Walser, 1979) – Joachim Rohloffs Buch untersucht den literarisch-politischen Werdegang Martin Walsers.]
Martin Dietzsch,Siegfried Jäger,Alfred Schobert (Hrsg.):Endlich ein normales Volk? Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Eine Dokumentation. DISS-Duisburg, 1999. [Die Dokumentation der Duisburger Sprachwissenschaftler zeigt, wie die Presse der extremen Rechten Walsers Rede mit Begeisterung vereinnahmen konnte, ohne sich selbst oder den Text Walsers verbiegen zu müssen.]
Matthias N. Lorenz:„Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ – Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Metzler, Stuttgart 2005,ISBN 3-476-02119-X.
Peter Schwiderowski:Über ein politisches Selbstgespräch. Anmerkungen zur Friedenspreisrede Martin Walsers 2000. In:Donnerstagshefte. 3.Alte Synagoge (Essen) 2000,ISBN 3-924384-34-7, S. 24ff.
Jürgen Bongartz:Der Heimatbegriff bei Martin Walser. Dissertation, Universität Köln 1996
Marc Stegherr:Eine Jahrhundertgestalt. Das Leiden, die Ungerechtigkeit, die historisch wie menschlich Gescheiterten waren bis zum Schluss Themen der Werke Walsers. Ein Nachruf. In:Die Tagespost, 3. August 2023, S. 18 (online auf die-tagespost.de, 29. Juli 2023; abgerufen am 15. August 2023; Bezahlschranke).
Iris Radisch:Gefühlswildnis mit Käthe. Martin Walser war der große Porträtist deutscher Kleinbürgerlichkeit. Seine Skandale waren voller Missverständnisse und sein Schreiben ohne Ehefrau nicht denkbar. In:Die Zeit, Nr. 33/2023 vom 3. August 2023, S. 42 (online auf zeit.de, abgerufen am 6. August 2023)
Edgar Selge:Bitte subjektiv. Konsens braucht Kampf: Martin Walsers Mut zur Debatte war sein größtes Geschenk an uns. In:Die Zeit, Nr. 33/2023 vom 3. August 2023, S. 43 (online auf zeit.de, abgerufen am 6. August 2023)
Adam Soboczynski:Die Liebe, junger Mann. Das Publikum liebte Martin Walser abgöttisch. Kaum etwas war daher eine größere Herausforderung, als ihn zu moderieren. In:Die Zeit, Nr. 33/2023 vom 3. August 2023, S. 43 (online auf zeit.de, abgerufen am 6. August 2023)
Zum 1972 erschienenen deutschen FilmdramaDas Unheil vonPeter Fleischmann schrieb Walser gemeinsam mit dem Regisseur das Drehbuch und verfasste die Dialoge.
Vitus Zeplichal spielte Tassilo S. Grübel 1986 im FernsehfilmAlles aus Liebe (Regie:Rainer Boldt),Bruno Ganz spielte Tassilo S. Grübel in der sechsteiligen FernsehserieTassilo – Ein Fall für sich (1991).
Gemeinsam mitAsta Scheib schrieb Walser das Drehbuch zu der 1989 gesendetenTatort-FolgeArmer Nanosh. Das Buch erschien im gleichen Jahr als Kriminalroman.
Anlässlich seines achtzigsten Geburtstags sendete dasZDF im März 2007 eine Fernsehverfilmung seines RomansOhne einander. Seine TochterFranziska spielte die Hauptrolle,Diethard Klante führte Regie.[66]
↑Armin Nolzen: „Vom ‚Jugendgenossen‘ zum ‚Parteigenossen‘. Die Aufnahme von Angehörigen der Hitler-Jugend in die NSDAP“, in: Benz, Wolfgang (Hg.): „Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Fischer Verlag 2009, S. 123–150
↑Edgar Lersch, Reinhold Viehoff:Rundfunk, Politik, Literatur. Martin Walsers frühe Erfahrungen beim Süddeutschen Rundfunk zwischen 1949 und 1957. In:Jahrbuch Medien und Geschichte.Band2, 2002,S.213–257.
↑Titel:Man erholt sich. Ein sommerliches Ferienfeuilleton. Erstausstrahlung 1955. Vgl.Harald Keller:Der Dichter als Fernsehpionier – Ein Nachtrag zum 85. Geburtstag von Martin Walser. In:Funkkorrespondenz. 29. März 2012,ZDB-ID 525657-4, sowie Jörg Magenau:Martin Walser. Eine Biographie. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Rowohlt, Reinbek 2008,ISBN 978-3-499-24772-9, S. 103–106.
↑Carlo Schellemann und Martin Walser:Stationen Vietnams. Röderberg-Verlag, Frankfurt 1968.
↑Iris Radisch:Gefühlswildnis mit Käthe. Martin Walser war der große Porträtist deutscher Kleinbürgerlichkeit. Seine politischen Skandale waren voller Missverständnisse, sein Kampf mit Marcel Reich-Ranicki war erbittert –und sein Schreiben ohne Ehefrau undenkbar. In:Die Zeit 3. August 2023, S. 42
↑Edgar Selge:Bitte subjektiv. Konsens braucht Kampf: Martin Walsers Mut zur Debatte war sein größtes Geschenk an uns. In:Die Zeit 3. August 2023, S. 43
↑Martin Walser über Fritz Seidenzahl: „Hundert Jahre Deutsche Bank“: Ist die Deutsche Bank naiv? In:Der Spiegel. 24. August 1970 (online, Zugriff am 30. November 2018).
↑Walter Habel (Hrsg.):Wer ist wer? Das deutsche Who’s who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985,ISBN 3-7950-2005-0, S. 1276.
↑Wilhelm Vallenthin:Ist Martin Walser naiv? In:Der Spiegel. 14. September 1970 (online, Zugriff am 30. November 2018), zitiert nach Sebastian Brünger:Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit. Wallstein, Göttingen 2017, S. 173 f.
↑Lars Rensmann:Enthauptung der Medusa. Zur diskurshistorischen Rekonstruktion der Walser-Debatte im Licht politischer Psychologie. In:Micha Brumlik,Hajo Funke, Lars Rensmann (Hrsg.):Umkämpftes Vergessen. Walser Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik. 2., erweiterte Auflage. Schiler, Berlin 2004,ISBN 3-89930-240-0, S. 36 f.
↑Matthias N. Lorenz:„Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (Martin Walser, 1998).“ In: Wolfgang Benz:Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. de Gruyter, Berlin 2015, S. 103 ff.
↑Katharina Peters:Der Tatort „Armer Nanosh“ und der Diskurs um kollektive Schuld in Deutschland um 1989. In: VIA (Hrsg.):Für immer „Zigeuner“? Ergänzungsheft. Ergänzungsheft. Duisburg 2018,S.16–31.
↑Oliver Ness:Ein "Tatort"-Krimi zwischen den Stühlen. In:taz. 22. Juli 1989,S.5.
↑Matthias N. Lorenz:"Armer Janosh"? - armer Frohwein? : Antiziganismus und Täter-Opfer-Inversion; zu einem Tatort-Krimi, der schon Ende der 1980er Jahre eine veritable Walser-Debatte hätte auslösen können. In:Der Deutschunterricht.Band57,Nr.2. Friedrich-Verlag, Hannover 2005,S.74–79.
↑Martin Walser. In: wasserburg-bodensee.de. Abgerufen am 6. August 2023.
↑Martin Walser, Schriftsteller. In: orden-pourlemerite.de. Abgerufen am 6. August 2023 (Enthält als PDF auch die Laudatio von Stig Frederik Strömholm sowie Martin Walsers Dankesworte bei der Ordensverleihung in Bonn vom 8. Juni 1993).