Die Unterscheidung zwischenKonsonanz (vonlateinischcon‚zusammen‘ undlateinischsonare‚klingen‘) undDissonanz (vonlateinischdis‚auseinander‘) bezieht sich seit derAntike auf die Qualität von Zweiklängen. Inabendländischen Lehren derMehrstimmigkeit (Discantus,Kontrapunkt) wurde sie zur Grundlage derSatzlehre. Im 17. Jahrhundert wurde sie auf Mehrklänge ausgedehnt.[1] Die Zuordnung vonIntervallen undAkkorden zu einer dieser Kategorien, die Begründung dieser Zuordnung und die Begründung der Unterscheidung selbst können variieren, je nachmusiktheoretischer Tradition oder je nach Wissensgebiet, in dem der Gegensatz außerdem thematisiert worden ist (Physik,Physiologie,Psychologie).
Alsσυμφωνία (symphonía) werden in derMusiktheorie im antiken Griechenland seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. die (reine)Quarte,Quinte undOktave, sowie (in manchen Quellen) auch deren Oktaverweiterungen bis hin zur Doppeloktave plus Quinte ausgezeichnet. Im Hinblick auf die Längen der Saiten, mit denen die beteiligten Töne u. a. auf demMonochord erzeugt werden können, entsprechen diese Intervalle mit Ausnahme derUndezime () Zahlenverhältnissen der Form (vielfache Proportion) oder (überteilige Proportion): Quarte, Quinte, Oktave,Duodezime usw.
Diesen Proportionen wird die Eigenschaft ‚leicht verständlich‘ zugeordnet. Im Hinblick auf die Klänge ist von einer ‚Mischung‘unterschiedlicher Einzeltöne zu einer Einheit die Rede (weshalb derEinklang nicht alssymphonía gilt).[2]
Die Entdeckung der Beziehung zwischen Wohlklang und fasslichem Zahlenverhältnis wird in derSchmiedelegendePythagoras zugeschrieben. DiePythagoreer lassen nur Proportionen zwischen den Zahlen derTetraktys (also den Zahlen 1, 2, 3 und 4) alssymphonía gelten und schließen daher dieUndezime aus. Diese Proportionen sind für sie ein Symbol kosmischer Ordnung (sieheSphärenharmonie). In derPythagoreischen Stimmung werden alle Intervalle aus Kombinationen dersymphonoi abgeleitet, was u. a. dazu führt, dass die Terzen erheblicheSchwebungen aufweisen.
Der Begriffδιαφωνία (diaphonía) wird seitAristoxenos undEukleides nicht länger nur allgemein im Sinne von Missklang verwendet, sondern auch in einem engeren Sinn für Intervalle, die nicht zu densymphonoi zählen, aber dennoch als musikalisch brauchbar gelten (sog.emmelische Klänge, z. B. derGanzton).[3]
In derSpätantike prägtBoethius (De institutione musica, um 500) den lateinischen Begriffconsonantia, der bis dahin in allgemeineren Bedeutungen verwendet wurde, zum Synonym vonsymphonía (wie die Pythagoreer rechnet er den Einklang und die Undezime nicht dazu). Das Wortdissonantia dient ihm als Gegenbegriff (konkrete Beispiele für dissonante Intervalle nennt er aber nicht). Boethius’ Definitionen[4] werden bis in dieNeuzeit überliefert und behalten eine hohe Autorität.[5]
Im 14. Jahrhundert etabliert sich die für die Lehre desKontrapunkts grundlegende Unterscheidung der Intervalle in
Alle weiteren Intervalle, sofern sie als musikalisch brauchbar gelten, sind Dissonanzen: zunächst die kleinen und großenSekunden undSeptimen, später auch manche verminderte und übermäßige Intervalle wie die verminderte Quinte und derTritonus.[7]
Die Quarte hat hierbei eine Sonderstellung:
Für diese Intervallklassen formuliert die Kontrapunktlehre unterschiedliche satztechnische Richtlinien:
In ihrer Aufwertung von Terzen und Sexten zu Konsonanzen bestätigt die Kontrapunkttradition zunächst einen musikalischen Usus, ohne diesen theoretisch zu begründen. Denn das etablierte Stimmungssystem war zunächst weiterhin das pythagoreische, mit seinen schwebungsreichen Terzen und Sexten (siehe oben). Schon im frühen 14. Jahrhundert betonte aberWalter Odington (De speculatione musice) die Nähe der pythagoreischen Terzen (Ditonus mit der Proportion 81:64, Semiditonus mit der Proportion 32:27) zur reinen Groß- (5:4) und Kleinterz (6:5); in der musikalischen Praxis würden die Terzen ihm zufolge häufig reinen (also schwebungsfreien) Terzen angeglichen. Die weitere theoretische Basis derreinen Stimmung legten in den folgenden Jahrhunderten insbesondereBartolomé Ramos de Pareja (1482),Lodovico Fogliano (1529) undGioseffo Zarlino (1558).
Bereits 1610 hatJohannes Lippius das Begriffspaar Konsonanz-Dissonanz aufDreiklänge übertragen.[9] So etablierte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich ein neues Verständnis von Konsonanz und Dissonanz, das auf der Kategorie des Dreiklangs aufbaut, und das der kontrapunktischen Lehrtradition zunehmend Konkurrenz machte. Besonderen Einfluss hatten hierbei die Schriften vonJean-Philippe Rameau.
ImTraité de l’harmonie führt Rameau alle dissonanten Akkorde auf die Übereinanderschichtung von mehr als zwei Terzen zurück. Konsonant sind deraccord parfait (Dur- undMolldreiklang) und seineUmkehrungen:
« Pour se rendre les choses plus familieres, l’on peut regarder à present lesTierces comme l’unique objet de tous les accords: En effet, pour formerl’accord parfait, il faut ajoûter uneTierce à l’autre, & pour former tous lesaccords dissonans, il faut ajoûter trois ou quatreTierces les unes aux autres; […]. »
„Um uns die Sache etwas bequemer vorzustellen, können wir die Terzen als einziges Element aller Akkorde betrachten: Tatsächlich muss man, um denaccord parfait zu bilden, eine Terz einer anderen hinzufügen, und für alle dissonanten Akkorde muss man drei oder vier Terzen addieren […].“
Im späten 19. Jahrhundert schreibtBernhard Ziehn:
„Mit den Begriffen „Wohlklang“ und „Missklang“ (oder gar „Übelklang“) haben die Worte „Consonanz“ und „Dissonanz“ Nichts gemein. Diese Bezeichnungen sind lediglich als Gattungsnamen für Accorde und Intervalle zu betrachten. Consonanzen sind der Dur- und der Molldreiklang, sowie die Intervalle, welche in einem solchen Dreiklang vorkommen; nämlich grosse und kleine Terz, grosse und kleine Sexte, reine Quinte, Quarte und Octave […]. Alle anderen Accorde, dessgleichen alle noch übrigen Intervalle, sind Dissonanzen.“
Den Durdreiklang leitet Rameau imTraité aus derarithmetischen Teilung der Quinte ab (Proportion 4:5:8), wobei er sich ganz im Sinne der Monochord-Tradition auf Saitenlängen bezieht. Erst inGénération harmonique (1737) revidiert er dieses Konzept unter dem Einfluss von Erkenntnissen aus der Physik und leitet den Durdreiklang nun aus derObertonreihe ab (Grundton, 3. und 5. Teilton).[10]
DieSeptimen inSeptakkorden bezeichnetJohann Philipp Kirnberger als „wesentliche Dissonanzen“, „weil sie nicht an der Stelle einer Consonanz gesetzt werden, der sie gleich wieder weichen, sondern eine Stelle für sich behaupten“.[11] Alle anderen dissonanten Akkorde enthielten hingegen „zufällige Dissonanzen“, „die man als Vorhalte ansehen kann […], die eine kurze Zeit die Stelle der consonirenden einnehmen, und währender [!] Dauer des Grundtones, mit dem sie dißoniren, in ihre nächsten Consonanzen übergehen“.[12] Eine Septime in einem Septakkord vertrete also keinen Akkordton, sondern sei selbst einer. Auf diese Weise markiert Kirnberger den Abschied vom kontrapunktischen Konzept derSynkopendissonanz zugunsten der Begriffe Akkorddissonanz und Vorhalt.
‚Akkordfremd‘ bedeutet in der Harmonielehre somit zugleich ‚dissonant‘, während es andererseits Dissonanzen gibt, die als Bestandteil eines Akkords gelten.
Die Septime desDominantseptakkords, die verminderte Quinte und die Septime davon abgeleiteter Akkorde (verminderte und halb verminderte Septakkorde der VII. Stufe) sowie dieNone imDominantseptnonenakkord werden in der Regel wie die ‚alte‘Synkopendissonanz durch einen Sekundschritt abwärts aufgelöst. Diese Akkorde können aber auch aufunbetonter Taktposition stehen und können frei eintreten (brauchen also keine bestimmte Art der Vorbereitung).
Andere „wesentliche“ Septimen und Nonen werden nach wie vor als Synkopendissonanz behandelt.
Weitere Arten der Dissonanzbehandlung, die im 18. Jahrhundert selbstverständlich werden, sind u. a.:
Bereits in seinen frühen Schriften begründetHugo Riemann die Konsonanz des Dur- und Molldreiklangs indualistischem Sinne damit, dass deren Grundton, Terzton und Quintton als 2., 3. und 5.Oberton bzw.Unterton eines Tons aufgefasst werden können.[13] Später betont er aber, dass akustisch konsonante Klänge musikalisch dissonant sein können und dass für die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz somit die psychologische Instanz der „Tonvorstellung“ grundlegend sei.[14]
Vor diesem Hintergrund hat Riemann den BegriffScheinkonsonanz geprägt: In der RiemannschenFunktionstheorie gelten nur die Dreiklänge derTonika,Subdominante undDominante als Konsonanzen; die Dreiklänge der anderen Stufen sind Dissonanzen.[15] Den AusdruckScheinkonsonanz habenRudolf Louis undLudwig Thuille später durch den BegriffAuffassungsdissonanz ersetzt.
Im frühen 20. Jahrhundert lehnen Musiker wieArnold Schönberg undFerruccio Busoni die traditionelle satztechnische Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz ab und lassen sie allenfalls noch als graduelle Unterscheidung (statt alsDichotomie) gelten.[16]
Die Formulierung „Emanzipation der Dissonanz“ wurde zuerst von Rudolf Louis, allerdings in negativem Sinne, verwendet.[17]Arnold Schönberg wendete sie hingegen positiv:
„Abgesehen von denen, die auch heute noch mit ein paar tonalen Dreiklängen das Auslangen finden […] haben die meisten lebenden Komponisten aus dem Wirken der Werke Wagners, Strauß’, Mahlers, Regers, Debussys, Puccinis etc. in harmonischer Hinsicht gewisse Konsequenzen gezogen, als deren Ergebnis die Emanzipation der Dissonanz zu erkennen ist.“
Bemerkbar macht sich diese Tendenz z. B. daran, dass aus traditioneller Sicht dissonante Intervalle inMixturen parallel geführt oder in Schlussklängen verwendet werden, oder dass Klänge nicht länger eindeutig auf Terzenschichtungen mit akkordfremden Tönen zurückgeführt werden können.
Seit dem 17. Jahrhundert (Marin Mersenne,Galileo Galilei) wurden nicht länger abstrakte Zahlenverhältnisse, sondern Verhältnisse von Tonfrequenzen als Grundlage des Konsonanzgrads betrachtet. ImTentamen novae theoriae musicae (1739) hatLeonhard Euler eine mathematische Formel vorgeschlagen zur Bestimmung des „gradus suavitatis“ (Lieblichkeitsgrad) von Intervallen und Akkorden.
Das Phänomen derObertöne hatJoseph Sauveur 1701 als Erster physikalisch näher erfasst (Principes d’acoustique et de musique, ou système général des intervalles des sons). Diese Erkenntnis bot Rameau, Riemann u. a. eine Erklärung für die Konsonanz des Durdreiklangs; die Konsonanz des Molldreiklangs ließ sich aus ihr aber nicht auf befriedigende Weise ableiten.
Eine mathematische Theorie des Kontrapunktes, in der das Quintparallelenverbot und die dissonante Quart aus mathematischen Strukturen resultieren, hatGuerino Mazzola entwickelt. Diese Theorie bettet die Fux-Theorie ein als eine von total sechsKontrapunktwelten. Diese Theorie ist auch erweitert worden auf mikrotonale Kontexte.
Hermann von Helmholtz hat versucht, die historisch gewachsene Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz anhand des Kriteriums derRauhigkeit, also der Zahl und Intensität vonSchwebungen, zu erklären.[18] Demnach fallen bei konsonanten Intervallen zwei Obertöne beider Töne zusammen.[19] Die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz ist bei dieser Betrachtungsweise allerdings graduell und auch davon abhängig, ob die Intervalle in einer höheren oder tieferen Lage erklingen und ob die Klänge obertonreich oder -arm sind. Helmholtz’ Ansatz ist vonHeinrich Husmann unter der Bezeichnung „Koinzidenztheorie“ weitergeführt worden.[20]
Carl Stumpf hat hingegen das Kriterium der „Verschmelzung“ zugrunde gelegt: „dasjenige Verhältnis zweier […] Empfindungsinhalte, wonach sie nicht eine blosse Summe sondern ein Ganzes bilden“.[21] Das Maß der Verschmelzung bestimmt demnach den Konsonanzgrad.
Das Maß an Rauigkeit einerseits und Verschmelzung anderseits wird in derMusikpsychologie seitdem häufig im BegriffSonanz(charakter) zusammengefasst.[22]
DieHypothese, dass Konsonanz durch Frequenzverhältnis bestimmt wird, gilt durch Experimente mit musikalisch gebildeten und ungebildetenProbanden, die mitdichotisch angebotenen Intervallen ausSinustönen beschallt wurden, als widerlegt. Weitere Faktoren wie Schwebung seien demnach eine notwendige Bedingung.[23]
Die Annahme, dass neben Sonanz auchAkkulturation ein bestimmender Faktor der musikhistorisch entwickelten Konsonanz-Dissonanz-Unterscheidungen ist, wird u. a. anhand vonkognitiver Modellierung erforscht.[24]