Kaufzwang
Kaufzwang (fachspr.Oniomanie, vonaltgriechisch ὤνιον =onios „käuflich“ und maníā =maniaWahn; engl.shopaholism), auchKaufwahn,Kaufrausch oderpathologisches Kaufen genannt, ist einepsychische Störung bei Konsumenten, die sich als zwanghaftes, episodisches Kaufen von Waren äußert. Kaufzwang wird ähnlich wiepathologisches Spielen oder derArbeitszwang nicht als eigenständige Krankheit gesehen, sondern zu dennicht stoffgebundenen Abhängigkeiten oder zu denZwangsstörungen (ICD-10 F42.-) gerechnet, manchmal auch zu denImpulskontrollstörungen (F63.-).
Geschichte
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]LautMax Nordau hat der französische ArztValentin Magnan den Begriff „Oniomanie“ 1892 in seinenPsychiatrischen Vorlesungen geprägt.[1] Magnan beschreibt die Kaufsucht darin als ein Symptom derEntartung.[2] Nordau führt in seinem BuchEntartung (1892) ähnliche Gedanken aus:
Die Sammelwuth der Zeitgenossen, das Vollrammen der Wohnungen mit zwecklosem Trödel […] erscheint uns in einem ganz neuen Lichte, wenn wir wissen, daß Magnan bei den Degenerirten einen unwiderstehlichen Drang zum Erwerben unnützen Krams festgestellt hat. […] Der Oniomane […] kauft weder bedeutende Mengen eines und desselben Gegenstandes wie der Paralytiker, noch ist ihm der Preis gleichgiltig wie diesem. Er kann nur an keinem Gerümpel vorübergehen, ohne den Antrieb zu empfinden, es zu erwerben.[3]
Der deutsche PsychiaterEmil Kraepelin nahm den Begriff 1909 in sein Lehrbuch auf.[4]
Ausprägung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Für die psychiatrische Diagnose ist wesentlich, dass nicht mehr der Besitz der Güter Handlungsziel ist, sondern die Befreiung von einemimperativen Drang durch die Kaufhandlung selbst. Die Sinnlosigkeit des Handelns ist den Kaufsüchtigen meist klar, insofern unterscheidet sich der Kaufzwang vomKonsumismus. Willensanstrengungen („Zusammenreißen“) helfen gleichwohl nicht. Wird der/die Betroffene an der Kaufhandlung gehindert, kommt es zuEntzugserscheinungen, etwa in Form vegetativer Erregung. Meist wird eine bestimmte Warengruppe (z. B. Schuhe) bevorzugt. Die weit über den Bedarf hinaus gekauften Gegenstände werden oft unausgepackt in der Wohnung gelagert oder gar weggeworfen.
Oft bestehenkomorbide psychische Störungen, v. a.Depressionen,Angststörungen,Binge-Eating-Störung undzwanghaftes Horten. Bei vielen Patienten bestehen zudem zwanghafte, vermeidende, depressive oder emotional-instabile Persönlichkeitsakzentuirungen.[5]
Häufigkeit
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Auf repräsentativen Bevölkerungsbefragungen basierende Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 5–7 % der deutschen Erwachsenen stark kaufsuchtgefährdet sind.[5] Jüngere Konsumenten waren 1991 etwas stärker „kaufsuchtgefährdet“ als ältere, Frauen stärker als Männer.[6] Eine spätere Studie im Jahre 2006 derUniversität Stanford zeigte mit 48 % Männeranteil eine nahezu ausgewogene Statistik.[7]
Behandlung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Die Behandlung basiert in der Regel aufVerhaltenstherapie und sozialen Hilfen. Vor allem in den Vereinigten Staaten werden regelmäßig Psychopharmaka (Antidepressiva) eingesetzt. Die am häufigsten gewählte Behandlungsmethode ist einer Selbsthilfegruppe beizutreten, wo man von ehemalig Betroffenen beraten, betreut und verstanden wird.
Die Uniklinik Erlangen (Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung) hat eine spezielle Therapie entwickelt und deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt. Nahezu jeder zweite Betroffene hat durch die Gruppentherapie sein Kaufverhalten in den Griff bekommen. Die Therapie setzt auf Ersatzhandlungen. Sechs bis acht Teilnehmer pro Gruppe lernen in zwölf wöchentlichen Therapiestunden, Ersatzbeschäftigungen zu finden, etwa Sport zu machen oder mit Freunden einen Kaffee trinken zu gehen. Diese sind ein „Ventil“ für sie, ihren Impuls auszuleben. Kaufzwang geht auf eine Störung derImpulskontrolle zurück wie zum Beispiel auchPyromanie (krankhafte Brandstiftung) undKleptomanie (zwanghafter Drang zu stehlen). Dem Kauf geht häufig ein Gefühl starker Erregung oder Spannung voraus, gefolgt von tiefer Befriedigung und Glück. Es geht den Betroffenen um den Akt des Kaufens, nicht um das Gekaufte. Gemeinsam mit den Therapeuten arbeiten die Teilnehmer an praktischen Dingen: Wie kann ich künftig angemessen mit Geld umgehen? Was tue ich, wenn mich die Kauflust doch wieder packt? Dazu gehört auch, bar zu bezahlen (anstatt mit Kreditkarte) – so gibt man Geld bewusster aus.[8]
Ursachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Allgemein wird von einem biopsychosozialen Entstehungsmodell für pathologisches Kaufen ausgegangen, wobei bislang kein störungsspezifisches Modell existiert.[5] Dem Kaufzwang liegt häufig ein vermindertesSelbstwertgefühl zugrunde. Negative Gefühle und Frustrationen sollen verdrängt werden. In vielen Fällen bestehen tiefer verwurzelte Probleme. Oft sind es aber auch besondere Schlüsselereignisse wie persönliche Schicksalsschläge, die Menschen aus der Bahn werfen und in eine Kaufsucht treiben.
Was alle Patienten vereint, sind belastende Gedanken und Gefühle, Frustration oder Einsamkeit, die durch den Erwerb von Konsumgütern verdrängt werden sollen.[9] Zwanghaftes kaufen und horten kann auch im Zusammenhang mit demMessie-Syndrom auftreten.
Folgen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Nach längerem Verlauf tretenÄngste,Schuldgefühle undDepressionen hinzu, die durch die unweigerlich eintretenden finanziellen Probleme verschärft werden. Aus einem oft jahre- und jahrzehntelang anhaltenden Kaufzwang entstehen oft verheerende Folgen: meistÜberschuldung oder die kompletteInsolvenz, sozialer Rückzug und Sammelwut.[9] Manche Betroffenen versuchen diese mit illegalen Taten wieDiebstahl oder Unterschlagung von Geld zu verhindern.
Trivia
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In den ersten Monaten derCOVID-19-Pandemie, als die Übertragungswege des COVID-19-Virus noch unklar erschienen, baten viele Einzelhändler ihre Kunden, möglichstbargeldlos zu bezahlen. ImOnlinehandel, dem die Pandemie hohe Umsatzzuwächse bescherte, wird stets bargeldlos bezahlt.Viele Konsumenten – mehr als vor der Pandemie –kaufen auf Raten („buy now pay later“ – BNPL) und bemerken nicht (oderverdrängen), dass sie über ihre Verhältnisse leben.Großen BNPL-Anbietern wieKlarna,AfterPay (aus Australien) undAffirm (aus den USA) wird vorgeworfen, dass sie die BezahlmethodeRatenkauf geschickt und bedienerfreundlichin die Websites von Onlinehändlern einbinden – den Käufern solle nicht bewusst werden, dass sie beim Kaufvorgang auf Raten bezahlen und damit letztlich einenKreditvertrag eingehen. Dies beschäftigt in einigen Staaten schon dieFinanzmarktaufsicht.[10][11]
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Sabine M. Grüsser, Carolin Thalemann, Ulrike Albrecht:Exzessives, zwanghaftes Kaufen oder „Verhaltenssucht“? Ein Fallbeispiel. In:Wiener Klinische Wochenschrift.Band 116,Nr. 5–6. Springer, 31. März 2004,S. 201–204,doi:10.1007/BF03040488.
- Hans-Otto Schenk:Psychologie im Handel. Entscheidungsgrundlagen für das Handelsmarketing. 2. Auflage. Oldenbourg, München / Wien 2007,ISBN 978-3-486-58379-3 [Auszug:Den Verlockungen verfallen.economag.de (Memento vom 15. Januar 2013 imInternet Archive)].
- Richard Geml, Hermann Lauer:Marketing- und Verkaufslexikon. 4. Auflage. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2008,ISBN 978-3-7910-2798-2.
- Astrid Müller, Martina de Zwaan, James E. Mitchell:Pathologisches Kaufen: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2008,ISBN 978-3-7691-0566-7.
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Volker Faust:Kaufrausch – Eine moderne Impulshandlung?
- W. Stangl:Kaufsucht – im folgenden K. Schwerpunkt Kaufsucht bei Jugendlichen und ein Selbsttest
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Max Nordau [1892]: Entartung, Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Karin Tebben, Berlin u. a.: De Gruyter 2013, S. 38.
- ↑Valentin Magnan: Psychiatrische Vorlesungen, Bd. 2/3: Über die Geistesstörungen von Entarteten, übers. von Otto Möbius, Leipzig: Thieme, S. 12 f.
- ↑Max Nordau [1892]: Entartung, Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Karin Tebben, Berlin u. a.: De Gruyter 2013, S. 37 f.
- ↑Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Barth, S. 408 f.
- ↑abcAstrid Müller:Kaufsucht. In:Psychiatrie und Psychotherapie up2date. Georg Thieme, Stuttgart, New York 2011,S. 333–343,doi:10.1055/s-0031-1276919.
- ↑Lucia A. Reisch, Gerhard Raab:Zur Entstehung und Verbreitung der „Kaufsucht“" in Deutschland (Memento vom 13. Mai 2007 imInternet Archive). In:Das Parlament. Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte. Zitatstelle Abschnitt „Verbreitung und Entwicklung“
- ↑Konsumieren, bis es weh tut. In:Süddeutsche Zeitung. 21. Juli 2008.
- ↑Müller, de Zwaan, Mitchel:Pathologisches Kaufen: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Ärzteverlag, 2008,ISBN 978-3-7691-0566-7.
- ↑abKaufsucht. Wenn Einkaufen zur Krankheit wird. 2. September 2015.
- ↑FAZ.net / Thomas Klemm 7. September 2021:Die gefährliche Einladung zum Kaufrausch
- ↑siehe auch FAZ.net / Thomas Klemm 7. September 2021:In der Falle (Schulden durch Onlineshopping -Kommentar)