
Karl Maria Kertbeny, vor 1847Karl Maria Benkert (*28. Februar1824 inWien; †23. Januar1882 inBudapest), war einösterreichisch-ungarischer Schriftsteller und früher Aktivist derHomosexuellenbewegung.
Kertbeny wurde 1824 alsKarl Maria Benkert in Wien als Sohn des Schriftstellers und Malers Anton Benkert (* 1795Ofen, † 1846Pest) und der ebenfalls künstlerisch begabten Charlotte Benkert geb. Graf (Schülerin des MalersJohann Friedrich Leybold) geboren. Sein jüngerer Bruder war der Maler Imre (Emrich) Karl Benkert (* 27. März 1825, † 21. Januar 1855). Die Familie stammte ausFranken, hatte jedoch auch Zweige, die nachPadua inItalien und in dieVereinigten Staaten (New York) weisen. Als Begründer der ungarischen Linie gilt Kertbenys Großvater Sebastian Benkert, Sohn eines Bürgermeisters vonBamberg, der sich als Fleischergeselle auf Wanderung begab und 1770 in Pest niederließ. Dort eröffnete er mit seiner Ehefrau Anna von Szalay das WirtshausZum König von Ungarn. Ihr Sohn Anton handelte in Wien mitKorallen, kehrte aber 1827 mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in sein Elternhaus zurück. Nach dem Besuch der Grund- und Lateinschule wurde Karl Maria in der Schule desZisterzienserordens inEger (Erlau) unterrichtet. 1838 trat er inGyőr (Raab) beim Buchhändler Andreas Schwaiger in die Lehre. In dieser Zeit machte er die Bekanntschaft des Fürsten vonPückler-Muskau.
Nachdem er sich mit seinem Vater überworfen hatte, begann ein zielloses Wanderleben. Der junge Mann reiste ohne Geld über Wien undPrag nachDresden, wo er Pückler wieder traf. Dieser riet ihm, in den Militärdienst einzutreten. So wurde Kertbeny Kadett im ungarischen 5. Artillerie-Regiment. 1843 nahm er seinen Abschied und entschloss sich, Schriftsteller zu werden. Die Verbindungen seiner Mutter ermöglichten ihm, in Künstlerkreisen von Wien und Pest zu verkehren. Als Journalist und Reiseschriftsteller verfasste er über 25 Bücher über verschiedene Themen. Vor allem widmete er sich der ungarisch-deutschen Literaturvermittlung, angefangen mit der Herausgabe einesJahrbuchs des deutschen Elementes in Ungarn (1846) u. a. mit Beiträgen vonJohann Ladislaus Pyrker undFerenc Pulszky.
Als sein Vater, der den größten Teil seines Vermögens durch Spekulationsgeschäfte eingebüßt hatte, am 12. Oktober 1846 verstorben war, verließ der Sohn erneut Ungarn und nahm mittellos und ohne Pass sein Wanderleben wieder auf. Im Januar 1847 wurde er vonHeinrich Zschokke inAarau empfangen, im Februar weilte er inParis und besuchteHeinrich Heine.Jacob Venedey führte ihn beiBéranger ein, und er machte die Bekanntschaft vonGeorge Sand,Alfred de Musset und anderen französischen Autoren. Über Hamburg reiste er nachLondon und begegneteFerdinand Freiligrath, der allerdings skeptisch auf den jungen Mann reagierte, undThomas Carlyle, der ihn mit einem Empfehlungsschreiben anKarl August Varnhagen von Ense inBerlin versah. Diesem konnte Benkert von seinen Reisen und Begegnungen berichten, ebenso von einer Übersetzung von TextenRahel Varnhagens ins Ungarische durch die Dichterin Nina Pongruez; überdies stiftete er ein ungarisches Gedicht für dieAutographensammlung seines Gönners.
Auf Varnhagens Rat änderte Karl Maria Benkert noch im selben Jahr 1847 seinen Namen standesamtlich von Benkert in Kertbeny, einen ungarischen Namen mit aristokratischem Klang. DieFreiheitsbestrebungen der Ungarn imRevolutionsjahr 1848, für die sich viele liberal gesinnte Intellektuelle begeisterten, sorgten für eine große Sympathie für ungarische Kultur und Literatur, die den Bestrebungen des angehenden Übersetzers zugutekam. Am Neujahrstag 1848 besuchte Varnhagen Kertbeny auf seiner Stube, der soeben mitMax Stirner undFriedrich Saß die Nacht durchzecht hatte und noch im Bett lag.

Die Märzrevolution von 1848 machte dem Aufenthalt Kertbenys in Berlin ein Ende. Er wandte sich nach Halle und Weimar, wo er mit Franz Liszt verkehrte, traf inFrankfurt am Main mit Abgeordneten desPaulskirchen-Parlaments zusammen wieJacob Grimm,Ludwig Uhland,Johann Hermann Detmold undAlfred Meißner, den er schon von Paris kannte. Inzwischen erschienen seine ersten Gedichtübersetzungen:Gedichte aus fremden Sprachen[1] (Jena 1848) sowie die Gedichte vonAlexander Petöfi.[2] Die Übersetzung von Werken Petöfis und weiterer ungarischer Dichter wieJános Arany,Mihály Vörösmarty undMór Jókai wurde zum wichtigsten Schwerpunkt und fand Anerkennung von Heine, Béranger undSaint-René Taillandier. Die bedeutendste Ansprechpartnerin in der deutschen Literatur warBettina von Arnim, die ihm bis Dezember 1850 nicht weniger als 60 Briefe schrieb und in ihren Schriften auf die politische Bedeutung der ungarischen Dichtung nachdrücklich hinwies.
Inzwischen lieferte Kertbeny für deutsche Zeitschriften wie denNürnberger Courier, dasFrankfurter Conversationsblatt, dieWeser-Zeitung, denBremer Beobachter und dasMagazin für die Literatur des Auslandes historische, politische und literaturgeschichtliche Skizzen. VonLeipzig aus, wo er den Sommer 1851 verlebte, bereitete er eine Ausgabe ungarischer Volkslieder vor[3] und veröffentlichte das MärchenHeld János von Petöfi.[4] Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands stellte sich Kertbeny den österreichischen Behörden und ließ sich 1852 erneut in Pest nieder. 1854 lud ihnHoffmann von Fallersleben zur Mitarbeit an denWeimarischen Jahrbüchern ein.
Von 1867 bis August 1868 wohnte Kertbeny inHannover,[5] wo er unter anderem den Frauenarzt und SozialdemokratenLudwig Kugelmann besuchte.[6] Von Hannover aus führte Kertbeny am 6. Mai 1868 durch einen Brief „anscheinend erstmalig“ den Begriff der „Homosexual“ in die öffentliche Diskussion ein.[5] Er begann vermehrt überHomosexualität zu schreiben, motiviert, wie er sagte, durch ein „anthropologisches Interesse“, Gerechtigkeitssinn und die Sorge um dieMenschenrechte. Im Jahre 1869 veröffentlichte er anonym ein Flugblatt mit dem Thema: „Paragraph 143 des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 und seine Wiederbestätigung als Paragraph 152 im vorgeschlagenen Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund. Eine offene und berufliche Korrespondenz mit Seiner Exzellenz Dr.Leonhardt, dem Königlichen preußischen Justizminister.“
Ein zweites Flugblatt zum selben Thema folgte bald. In seinen Schriften behauptete Kertbeny, dass daspreußischeSodomie-Gesetz, Paragraph 143, die Menschenrechte verletze. Er brachte das klassisch freiheitliche Argument vor, dass der private und freiwillige Geschlechtsverkehr nicht Sache des Strafrechts sein solle. Bezüglich seines Freundes aus den Tagen seiner Buchhändlerlehre behauptete er, dass Homosexuelle aufgrund des preußischen Gesetzes erpressbar seien und deshalb oft in den Selbstmord getrieben würden.
Kertbeny brachte auch die Ansicht vor, dass Homosexualität angeboren und unveränderlich sei, ein Argument, das später das „medizinische Modell“ der Homosexualität genannt wurde. Er widersprach damit der vorherrschenden Ansicht dieser Zeit, dass Männer Sodomie aus bloßer Boshaftigkeit begingen. Homosexuelle Männer, sagte er, seien nicht von Natur aus weichlich, und er wies – wieHeinrich Hössli vor ihm – darauf hin, dass viele große Helden der Geschichte homosexuell waren.

In seinen Schriften prägte Kertbeny das Wort „homosexual“ als Bestandteil seines Systems für die Klassifikation von sexuellen Typen. Männer, die von Frauen angezogen werden, nannte er „heterosexual“,Masturbatoren „monosexual“ und Anhänger desAnalverkehrs nannte er „Pygisten“ (griechischpygê =Steiß).
Klassische Gelehrte haben KertbenysWortschöpfung seitdem bedauert: Das Wort „homosexuell“ verbindet dasgriechische Adjektivhomós („gleich“), mit demlateinischen Substantivsexus („Geschlecht“) und ist damit eine Kombination griechischer und lateinischer Elemente. Das Wort „homosexuell“ führe zudem zur Verwechslung des griechischenhomós mit dem lateinischenhomo („Mensch“ oder „Mann“). Zusätzlich verleitet die Endung-sexuell das Individuum vom bevorzugten Geschlecht (Veranlagung, Gefühle) auf die sexuelle Handlung zu reduzieren.[7]
Männer wieKarl Heinrich Ulrichs, die sich als homosexuell zu erkennen gegeben hatten, kämpften weiter für homosexuelle Rechte; Kertbeny dagegen zog sich zurück. Im Jahre 1880 trug er ein Kapitel über Homosexualität zuGustav Jägers BuchEntdeckung der Seele bei, jedoch entschied Jägers Herausgeber, das Thema sei zu umstritten, und ließ es weg. Dennoch gebrauchte Jäger die Fachsprache von Kertbeny an einer anderen Stelle des Buches.
Für seine eigenen Schriften entlehnte der österreichische SexualwissenschaftlerRichard von Krafft-Ebing Kertbenys Wortehomosexuell undheterosexuell aus Jägers Buch. Krafft-Ebings Arbeit, besonders dessen von ihm selbst in zwölf Ausgaben geschriebene damalige StandardwerkPsychopathia sexualis, war so einflussreich, dass diese Bezeichnungen zu Standardbegriffen für die sexuelle Orientierung wurden und Ulrichs BezeichnungenUrning/Urninde/Uranismus (für Homosexuelle) und Dioning (für Heterosexuelle) sowie andere zur Debatte stehende Begriffe ersetzten, wie etwaHirschfeld 1914 anmerkt.[7]
In den späten fünfziger Jahren hielt sich Kertbeny in Wien und München auf und schrieb seine zweibändigen Memoiren, die 1861 und 1863 vorwiegend als Briefsammlung unter dem TitelSilhouetten und Reliquien in Prag erschienen sind. Weitere auf prominente Bekanntschaften bezogene Memoirenwerke sind dieErinnerungen an GrafStefan Szechenyi (Genf 1860),Erinnerungen an Graf Ladislaus Teleki (Prag 1861) und dieErinnerungen anCharles Sealsfield (Brüssel und Leipzig 1864). Ende 1860 ging er nach Genf, um eine umfassende Geschichte dieser Stadt zu schreiben, von der allerdings nur das Programmheft erschienen ist. Eine umfassende deutsch-ungarische Bibliographie (Budapest 1860) sowie zahlreiche politische Flugschriften gehören ebenfalls zu seinem Werk.
Kertbeny starb 1882 im Alter von 58 Jahren in Budapest.
Sein Grab wurde im Jahre 2001 von der Soziologin Judit Takács, die sich intensiv der Forschungsarbeit an Kertbeny widmet, wiederentdeckt. Es liegt auf demKerepesi temető in Budapest, wo viele ungarische Berühmtheiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert ruhen. DieLesben- und Schwulenbewegung errichtete einen neuen Grabstein auf der Grabstätte, und seit dem Jahre 2002 wird dort bei homosexuellen Festivals regelmäßig ein Kranz niedergelegt.
Ein Denkmal für Kertbeny befindet sich in derPetöfi-Gedenkstätte vonAlbești beiSighișoara.
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Kertbeny, Karl Maria |
| ALTERNATIVNAMEN | Benkert, Karl Maria; Kertbeny, Károly Mária |
| KURZBESCHREIBUNG | österreichischer Journalist und Menschenrechtler |
| GEBURTSDATUM | 28. Februar 1824 |
| GEBURTSORT | Wien |
| STERBEDATUM | 23. Januar 1882 |
| STERBEORT | Budapest |