Spyri war das vierte von sechs Kindern des ArztesJohann Jakob Heusser und derMeta Heusser-Schweizer. Zu ihrer Familie gehörten Persönlichkeiten der Zürcher Landschaft: ihre Mutter Meta Heusser war eine Dichterin, ihr Grossvater Diethelm Schweizer-Gessner Pfarrer in Zürich, ihr älterer BruderJakob Christian Heusser Geologe und Mineraloge, ihre NichteEmilie Kempin-Spyri die erste promovierte Juristin der Schweiz.[1]
Johanna Spyri wuchs imHirzel auf, einem Dorf im Kanton Zürich amZimmerberg über demZürichsee. Im Alter von fünfzehn Jahren zog sie zu ihrer Tante nach Zürich, wo sie die Schule besuchte. Im Sommer 1844 ging sie für zwei Jahre in ein Pensionat inYverdon, um Französisch zu lernen. Ein Jahr später kam sie zurück und wohnte bis 1852 in Hirzel. Sie unterrichtete ihre jüngeren Geschwister und half der Mutter im Haushalt.
1851 verlobte sie sich mit dem Zürcher Juristen und Redakteur Bernhard Spyri (1821–1884), der zum engsten Freundeskreis vonRichard Wagner in Zürich gehörte. Die Hochzeit fand 1852 in derKirche Wollishofen statt. Die erste Wohnung des Paares lag an der Stadelhoferstrasse 22 im «Kleinen Baumwollenhof».
1855 kam Spyris einziges Kind zur Welt, ihr Sohn Bernhard Diethelm. Während der Schwangerschaft geriet Johanna in eine tiefeDepression, die jahrelang anhielt. Im September zog die Familie an denHirschengraben 10 ins Haus «Zum liegenden Hirschli». Drei Jahre später erwarb Bernhard Spyri am Hirschengraben 6 das «Bremerhaus». Nach seiner Ernennung zum Stadtschreiber zog die Familie 1868 in dasStadthaus amKratzplatz um.
Die Ehe der Spyris war nicht glücklich. Halt fand Spyri in ihrer tiefen Freundschaft mitBetsy Meyer, der Schwester vonConrad Ferdinand Meyer.
Spyris Mutter war verwandt mit demBremer Theologen Johann Wichelhausen (1773–1838)[2] und über ihren Ehemann befreundet mit dem Bremer Juristen Hans Heinrich Spöndlin (1812–1872) und dem Pastor derLiebfrauenkirche Bremen,Cornelius Rudolph Vietor (1814–1897). Dieser regte Johanna Spyri als Erster zum Schreiben an. Sie besuchte ihn in Bremen, und Vietor hielt sich öfters in Zürich auf; und er gab seine Töchter für ein Jahr in die Familie Spyri. Pastor Vietor veranlasste sie, einige erbauliche Erzählungen in Bremen durch die Druckereien Hilgerloh und dann C. E. Müller drucken zu lassen und zu veröffentlichen. Ihre erste ErzählungEin Blatt auf Vrony’s Grab erschien 1871 in Bremen und wurde ein grosser Erfolg. Es ist die Geschichte über eine Frau, die von ihrem trunksüchtigen Mann misshandelt wird und sich betend in ihr Schicksal fügt, wie der Herr Pfarrer ihr geraten hat. Es folgten in Bremen die GeschichtenNach dem Vaterhaus,Aus früheren Tagen,Ihrer keins vergessen undVerirrt und gefunden. Die Erzählungen erschienen unter demPseudonym «J.S.» und waren nicht sonderlich erfolgreich.[3]
1875 wurde «Frau Stadtschreiber Spyri» in die Aufsichtskommission der Höheren Töchterschule in Zürich bestellt, wo sie bis 1892 tätig war.
Ihr erstes KinderbuchHeimathlos enthielt die ErzählungenAm Silser- und am Gardasee undWie Wiseli’s Weg gefunden wird und erschien 1878 beiF. A. Perthes inGotha. Als Autorin war nicht Johanna Spyri angegeben, sondern «Von der Verfasserin vonEin Blatt auf Vrony’s Grab». Erstmals fand sich auf dem Umschlag die Anmerkung «Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben», welche auf fast allen Ausgaben Spyris zu finden ist.
Kurz vor Weihnachten 1879 erschien ebenfalls bei F. A. PerthesHeidis Lehr- und Wanderjahre, das sofort zu einem grossen Erfolg wurde und Johanna Spyri einen sehr komfortablen Lebensabend ermöglichte. 1881 folgte der zweite BandHeidi kann brauchen was es gelernt hat.Heidi wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt.[4] Das Buch wurde mehrfach verfilmt. Umstritten ist die Behauptung des Germanisten Peter Büttner (2010), Johanna Spyri habe die ErzählungAdelaide, das Mädchen vom Alpengebirge (1830) vonHermann Adam von Kamp als Vorlage ihrerHeidi-Bücher verwendet.
Nach dem Tod ihres Mannes zog Spyri im April 1885 für ein Jahr an dieBahnhofstrasse 48, Ecke Augustinergasse, anschliessend in die «Escherhäuser» an den Zeltweg 9, wo sie bis zu ihrem Tod wohnte. Während ihrer letzten Lebensjahre schrieb und reiste sie viel. MitConrad Ferdinand Meyer hatte sie regelmässig freundschaftlichen Kontakt. Als sie 1901 an Krebs erkrankte, liess sie sich von der ersten Schweizer ÄrztinMarie Heim-Vögtlin behandeln.
Johanna Spyri wurde auf dem ZürcherFriedhof Sihlfeld (Grab-Nr. PG 81210) beigesetzt.[5]
Ihr Ehemann Bernhard Spyri (* 21. September 1821; † 19. Dezember 1884 in Zürich), Sohn von Johann Bernhard Spyri ausAmlikon, 1844 Bürger von Hirzel, 1854 Bürger von Zürich, war Jurist, Anwalt und Redaktor derEidgenössischen Zeitung. Er war zweimal im Kantonsrat und von 1859 bis 1868 Rechtskonsulent der Stadt Zürich.[6] An seiner Beerdigung im ZürcherFraumünster drei Tage später würdigte der Zürcher StadtpräsidentMelchior Römer Spyris berufliches Wirken während seiner 25-jährigen Tätigkeit im Dienste der Stadt.[7]
Ihr Sohn Bernhard Diethelm Spyri (* 17. August 1855 in Zürich; † 3. Mai 1884) studierte Rechtswissenschaften in Zürich, Leipzig und Göttingen, war Sekretär der Kaufmännischen Gesellschaft in Zürich und reiste 1881/1882 nach Argentinien zu seinem Onkel Christian Heusser, dem Bruder seiner Mutter. Schwer anTuberkulose erkrankt, suchte er 1883/1884 Erholung am Lago Maggiore und in Pisa. Er starb im Alter von 28 Jahren.
Ihre NichteEmilie Kempin-Spyri (1853–1901) war die erste Schweizerin, die in der Schweiz alsJuristinpromoviert wurde und sichhabilitierte. Als Frau durfte sie nicht als Anwältin praktizieren; sie zog nachNew York, wo sie an einer von ihr gegründeten Rechtsschule für Frauen unterrichtete.
Zu ihren heutigen Nachfahren zählt der Schweizer Künstler und KuratorAndreas Heusser.[8]
In den dreissig Jahren von 1871 bis zu ihrem Tod veröffentlichte Spyri 31 Bücher, 27 Erzählbände und 4 Broschüren, insgesamt 48 Erzählungen. Ihr Nachlass wird im Johanna Spyri-Archiv beimSchweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) in Zürich aufbewahrt. Seit 2011 lagern über 1000 wertvolle Briefe, Manuskripte und Dokumente im Besitz des Archivs als Depositum in derZentralbibliothek Zürich.[9] Im Mai 2023 nahm dieUNESCO das Johanna Spyri-Archiv und das Heidi-Archiv in Zürich in ihr Register desWeltdokumentenerbes auf.[10] In der Liste der meistübersetzten deutschsprachigen Werke im Deutschen Buch- und Schriftmuseum liegt «Heidi» auf dem 5. Platz.[11]
Viele ihrer Bücher und Texte werfen einen kritischen, nichts beschönigenden Blick auf die Schweiz und auf die Lebensbedingungen der Menschen während der frühenIndustrialisierung. Besonders das Schicksal der Kinder und jungen Frauen lag ihr am Herzen. Ihre Texte sind deshalb nicht nur von literarischem, sondern auch sozialgeschichtlichem Interesse.
«In Zürich ist die Jugendschriftstellerin Johanna Spyri im Alter von 74 Jahren gestorben. Sie hatte sich in ihren Schriftwerken nur an Diejenigen gewandt, welche die Kunst naivgläubig genießen, an die Kinder und das Volk, und in diesem Reiche bedeutet ihr Hinscheiden einen überaus schmerzlichen Verlust. Wie die ‹N. Zürcher Ztg.› schreibt, ragte Johanna Spyri aus der großen Wasser-, beinahe möchte man sagen Sintfluth der Jugendliteratur der letzten Jahrzehnte mit ihren Jugendschriften so hoch empor, wieGottfried Keller über die Großzahl der anderen Dichter seiner Zeit. Eine feinsinnige Frau mit starkem und tiefem religiösen Empfinden, war sie schon durch ihre poetische Natur von vornherein gegen die Behandlung solcher Stoffe gesichert, die sich nicht für die Jugend geeignet hätten. Den großen Conflicten und Nachtseiten des Lebens ging ihr frommes Auge wie ihr zarter Stift aus dem Wege. Sie zeigte sich in ihren zahlreichen Werken als eine geschickte Erzählerin mit echt poetischem, malerischem und plastischem Stil, der sich an den besten Mustern, offenbar auch an Gottfried Keller, geschult hatte. Manche ihrer Erzählungen sind nach Inhalt und Form eigentliche Kunstwerke. In ihrer großen Menschenliebe suchte sie gern die Stätte des Elends und der Armuth auf, um zu trösten, am liebsten aber suchte sie Reich und Arm zu versöhnen, zu zeigen, wie Alle auf einander angewiesen sind und deshalb sich gegenseitig brauchen und deshalb einander helfen müssen, die Jungen den Alten, die Reichen den Armen und umgekehrt.»
1881:Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. (Digitalisat).
Heidis Lehr- und Wanderjahre / Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, Neuausgabe Hofenberg, Berlin 2015,ISBN 978-3-8430-9760-4.
1881:Ein Landaufenthalt von Onkel Titus. (Digitalisat).
1882:Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. (mit den ErzählungenBeim Weiden-Joseph (Digitalisat),Rosen-Resli (Digitalisat),Der Toni von Kandergrund (Digitalisat),Und wer nur Gott zum Freunde hat, dem hilft er allerwegen! undIn sicherer Hut)
Rosenresli. Fünf Geschichten für Kinder, Neuausgabe Hofenberg, Berlin 2019,ISBN 978-3-7437-3250-6.
1883:Zwei Volksschriften (mit den TextenEin goldener Spruch undWie einer dahin kam, wo er nicht hin wollte), (Digitalisat).
1883:Wo Gritlis Kinder hingekommen sind.books.google
beide vorgenannten Bücher ungekürzt in einem Band:Gritlis Kinder. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München/Zürich 1957.
Gritlis Kinder: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind / Gritlis Kinder kommen weiter, Neuausgabe Hofenberg, Berlin 2017,ISBN 978-3-7437-0957-7.
1885:Aus dem Leben eines Advocaten
1886:Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Zweiter Band. (mit den ErzählungenMoni der Geissbub (Digitalisat),Was der Grossmutter Lehre bewirkt (Digitalisat),Vom This, der doch etwas wird,Am Felsensprung undWas Sami mit den Vögeln singt)
1887:Was soll denn aus ihr werden? Eine Erzählung für junge Mädchen. (Digitalisat).
1888:Aus den Schweizer Bergen. (mit den ErzählungenIn Hinterwald,Die Elfe von Intra undVom fröhlichen Heribli). (Digitalisat).
1889:Was aus ihr geworden ist. Eine Erzählung für junge Mädchen. – Später neu bearb. von Charlotte Gottschalk:Was aus Dori geworden ist, Hoch-Verlag 1956
1890:Einer vom Hause Lesa. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. (später auch unter dem TitelDie Kinder vom Lesahof. Das Lied des Berges, und Teil 2 des Originals unterStefeli. Weitere Schicksale der Kinder vom Lesahof)
Johanna Spyri lehnte es stets ab, ihre Autobiografie zu veröffentlichen. Geschriebene Briefe verlangte sie von den Empfängern zurück und verfügte testamentarisch, dass alle ihre Unterlagen vernichtet werden sollten.[15]
In Zürich befinden sich das Johanna Spyri-Archiv[9] und das Heidi-Archiv.[16] Beide Dokumentensammlungen wurden im Mai 2023 in dasWeltkulturerbe aufgenommen.[17][18]
Das Johanna-Spyri-Archiv desSchweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) beherbergt die weltweit grösste Sammlung historischer Dokumente, Literatur, Objekte und Medien rund um Johanna Spyri. Die historischen und aktuellen Buchbestände, wissenschaftlichen Publikationen, Nachlässe und Objekte aus dem Medienverbund umfassen rund 85 Laufmeter. Das Johanna-Spyri-Archiv befindet sich in der Bibliothek des SIKJM in Zürich.[19]
In Spyris Geburtsort Hirzel ist im ehemaligen Dorfschulhaus dasJohanna-Spyri-Museum untergebracht, das dem Leben und Wirken der Schriftstellerin gewidmet ist.
↑Die Erzählung erschien zunächst im Verlag von H. Klein in Barmen (DNB576488364) und wurde 1900 vom VerlagMartin Warneck in Berlin übernommen und von ihm in mehreren Nachauflagen veröffentlicht, zuletzt 1913;DNB363660801
↑Der Titel erschien 1901 mit Originalzeichnungen von Fritz Rüdiger zunächst im Verlag vonMartin Warneck in Berlin (Auflage 1 bis 10 Tausend), dann im Folgejahr (Auflage 11 bis 22 Tausend) sowie in den Jahren 1909 (Auflage 23 bis 25 Tausend) und 1910 (Auflage 26 bis 28 Tausend) und zuletzt bei Warneck 1913 (Auflage 29 bis 31 Tausend). 1919 wurde dieser Titel vomVerlag von F. A. Perthes AG in Gotha übernommen (DNB1016160062) lautFünfundzwanzig Jahre Verlag Martin Warneck, 1920, S. 203 (DNB578223457).
↑Peter Otto Büttner:Tourismus-Ikone und Unesco-Welterbe, in:Terra Grischuna 1/2024, S. 25.
↑Isabel Heusser:Heidi soll auch in der Heimat die gebührende Aufmerksamkeit bekommen, In Zürich ist ein multimediales Zentrum über Johanna Spyris Romanfigur geplant in:Neue Zürcher Zeitung vom 24. Januar 2023, S. 13.