
DasJüdische Erholungsheim Lehnitz (auchJüdisches Genesungsheim Lehnitz undVilla Sachs) war ein von 1900 bis zu seiner zwangsweisen Schließung 1938 bestehendes Erholungs-, Bildungs- und Tagungszentrum sowie Kinderheim und Hauswirtschaftsschule inLehnitz inBrandenburg.[1]

Das Haus in der Magnus-Hirschfeld-Straße 33 (zur Zeit der Erbauung: Viktoriastraße 19) in Lehnitz, heute ein Ortsteil vonOranienburg, wurde im Jahr 1899 nach einemEntwurf des Gemeindebaumeisters Johann Hoeninger erbaut. Auftrag- und Geldgeber waren der jüdische Berliner Fabrikbesitzer, Mitinhaber der Firma Gebrüder Ginsberg und Stadtverordneter Louis Sachs und seine Ehefrau Rosa Sachs, die zu diesem Zweck die Stiftung „Jüdisches Genesungsheim Lehnitz“ gründeten und mit einem Kapital von umgerechnet 88.500Reichsmark ausstatteten.[2][3][4] Der zweigeschossige,villenartige Bau imLandhausstil mitJugendstilelementen wurde in massiver Ziegelbauweise mit verputzter Fassade errichtet. Zur Straße hin wurde einpolygonalerTreppenturm angesetzt, auf der rückwärtigen Seite gab es Balkone.[1] Das Haus verfügte über einZwerchhaus mitSatteldach und sichtbaresFachwerk im oberen Bereich. Das Eingangsportal am Treppenturm im Stil derNeorenaissance warstuckiert und zeigte unter anderem einenÄskulapstab. Über der Tür befand sich ein Fenster mit einem kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Gitter mit Ranken und einemDavidsstern.[5]
Am 27. Mai 1900 wurde das „Jüdische Genesungsheim Lehnitz“ feierlich eröffnet. Es war Bestandteil der jüdischen Sozial- und Wohlfahrtspflege und diente mittellosen Frauen und Kindern als Ort der Erholung.[6] Eine der ersten Leiterinnen des Heims war Jenny Herzfeld Heynemann (1852–1907) aus Dessau. Eigentümer des Hauses und Träger der Einrichtung war der Verein „Jüdisches Genesungsheim Berlin e.V.“, der das Heim 1929 derJüdischen Gemeinde zu Berlin übereignete. Die Belegung und Bezahlung erfolgten in den 1920er Jahren durch das Wohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das nun neben dem Verein als Träger fungierte. Bis 1933 wurde das Haus nur jeweils vier Monate im Sommer belegt und ansonsten nur sporadisch von jüdischen Organisationen genutzt.[1] Die jüdische Gemeinde übergab das Haus 1933 demJüdischen Frauenbund zur Nutzung.[4][7]
1933 übernahm die jüdische Sozialpädagogin und alleinerziehende Mutter von drei KindernFrieda Glücksmann (1890–1971) im Auftrag des Frauenbundes die Leitung des Hauses, das zuvor grundlegend renoviert und vergrößert worden war und am 24. Juni 1934 feierlich eröffnet wurde.[6] Sie erweiterte das Konzept innerhalb weniger Monate vomErholungsheim für Kinder und Erwachsene um ein Kinderheim, eineHauswirtschaftsschule und eine Tagungsstätte für Veranstaltungen jüdischer Organisationen,zionistische Jugendtreffen und pädagogische Fachtage.[1][4][7]
Unter Frieda Glücksmanns Leitung wurde das Ausstattungsniveau dank Spenden und einem Darlehen der Jüdischen Gemeinde verbessert und zwischen 1935 bis 1937 diverse Neuanschaffungen im Wert von 21.500 Reichsmark getätigt, darunter auch ein Auto. Das Übernachtungsangebot des Erholungsheimes wurde von 50 Betten im Jahr 1934 auf 146 Betten erweitert. Die Zahl der Übernachtungen von 1935 bis 1937 stieg um fast 40 % auf 25.829. Knapp 50 % der Übernachtungen entfielen auf finanziell unterstützte Gäste, die anderen auf selbstzahlende Erholungsgäste. Auch im Ort möbliert wohnende jüdische Gäste konnten an denkoscher zubereiteten Mahlzeiten und den Angeboten im Erholungsheim teilnehmen.[4] Trotz derMachtübernahme derNationalsozialisten 1933 entfaltete sich im Heim soziales, erzieherisches und kulturelles jüdisches Leben unter den sich verschärfenden Bedingungen der antijüdischen Verfolgung:[1]
Frieda Glücksmann, ihre langjährige Weggefährtin Edith Kaufmann und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widerstanden denantisemitischen Ausschreitungen in derZeit des Nationalsozialismus und Versuchen der behördlichen Schließung. Für die Jahre 1933/34 lassen sich keine direkten Übergriffe auf das Heim und seine Bewohner nachweisen, aber ab 1935 war das Heim von antisemitischen Angriffen und wachsendenstaatlichen Repressalien und Verboten betroffen.[13] So durften Spaziergänge im Wald nur mit maximal drei Personen stattfinden, der Zutritt zum Ort Lehnitz war verboten, ebenso die Straße zum Bahnhof und die Nutzung des Strandbades amLehnitzsee an den Wochenenden. Am 9. November wurden die im Heim Anwesenden telefonisch durch einen Polizeiinspektor vor dem bevorstehendenNovemberpogrom 1938 gewarnt und konnten in den Wald flüchten. Bei den folgenden Ausschreitungen wurde die gesamte Inneneinrichtung durch Angehörige derSA zerstört und die Einrichtung schloss dauerhaft.[6][7][12] Am 14. Dezember 1938 meldete der Amtsvorsteher in Birkenwerder dem Landrat des Landkreises Niederbarnim die erfolgte Flucht der Heimbewohner am 10. November und die Einstellung des Betriebes.[1][9][14] In Folge wurde auch der Davidsstern aus dem verzierten schmiedeeisernen Gitter über der Eingangstür entfernt.
Auf Grundlage desGesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. Juli 1933 und der Diskriminierung jüdischer Menschen als „Reichsfeinde“ war es möglich, Vermögen und Besitz der jüdischen Bevölkerung einzuziehen. Nach der Enteignung stellte derReichsverband für Deutsche Jugendherbergen am 11. November 1938 einen Antrag auf Überlassung.[14] Allerdings wurde im Verlaufe des Jahres 1939 das Haus als Hilfskrankenhaus dem Oranienburger Kreiskrankenhaus zugeordnet[1][11] und auch nach dem Krieg als Krankenhaus weiterbetrieben.[6][15]
Nach wechselnder Nutzung war das ehemalige Heim ein Internat mit Förderschule: Im September 1975 wurde im Gebäude ein „Sonderheim für schulbildungsunfähige, aber förderungsfähige Kinder und Jugendliche“ eröffnet und am 30. September wurde von den Mitarbeitern des Heimes eine „geschützte“ Werkstatt auf dem Gelände aufgebaut. Vom 15. Januar 1991 bis zum 18. Juli 2001 wurde in der „Dr. Magnus Hirschfeld-FörderSchule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche“ unterrichtet.[6][15] Mit dem endgültigen Auszug des Internats stand das Haus ab 2004 zwölf Jahre leer.[16][17]
Unter Aufsicht der OrganisationJewish Claims Conference, die seit ihrer Gründung 1951 Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer desNationalsozialismus undHolocaust-Überlebender vertritt, wurde das Haus 2015 nach den Auflagen des Denkmalschutzes renoviert, saniert und bis 2018 durch eine Berliner Investmentfirma insgesamt 17 Wohnungen auf vier Etagen geschaffen.[17] Das durch eindringenden Regen und Holzwurmbefall zerstörte Dachstuhlgebälk wurde abgerissen und neu aufgebaut, der Dachboden zu Wohnungen ausgebaut, Balkone angesetzt und der bestehende Anbau in Richtung Wald abgerissen.[18] Die Privateigentumswohnungen[2] wurden teils fremdvermietet.[11]
Zahlreiche Dokumente und Fotografien zur Geschichte des Erholungsheims Lehnitz aus dem Nachlass von Frieda Glücksmann befinden sich in der Sammlung desJüdischen Museums Berlin.[10]
Im Jahr 1988 wurde vor dem Haus in Lehnitz ein Gedenkstein aufgestellt, der an die Geschichte des Hauses und das Schicksal der Bewohner erinnert.[2][9] Der auf einer Granittafel eingravierte Text unterhalb einesDavidsterns lautet: „Dieses Gebäude beherbergte bis zum 9.11.1938 ein Genesungsheim für jüdische Mitbürger. In der folgenden Pogromnacht wurde es von Faschisten geschändet und seine Bewohner vertrieben. Vergeßt es nie!“[14] Aus Anlass des 50. Jahrestages des Novemberpogroms erfolgte am 9. November 1988 eine feierliche Kranzniederlegung am Gedenkstein und es erschien erstmals ein kurzer Artikel in derMärkischen Volksstimme, der an die Existenz und Geschichte der Lehnitzer Einrichtung erinnerte.[15] Bei den Renovierungsarbeiten am Haus 2015/2016 wurde die in Mitleidenschaft gezogene Tafel gesichert und restauriert. Seinen abschließenden Platz fand das Denkmal danach nicht mehr am Hauseingang, sondern etwa 15 Meter vom Haus entfernt.[11][19]
Als im Oktober 2005 die frühere Lessing-Straße in Lehnitz nach Frieda Glücksmann benannt wurde,[1][2][12] fand begleitend eine Ausstellung zur Geschichte des „Jüdischen Erholungsheimes Lehnitz“ statt.[9]
Zur Geschichte des Hauses und dem Wirken von Frieda Glücksmann wurde ein Hörspaziergang vom ehemaligen jüdischen Erholungsheim in der Magnus-Hirschfeld-Straße 33 durch den Wald zum See entwickelt.[12] Er ist Teil der Aufnahme von Frieda Glücksmann in das ProjektFrauenOrte Brandenburg des Frauenpolitischen Rates Land Brandenburg im November 2011,[9] das Leben und Wirken bedeutender Frauen in der brandenburgischen Geschichte sichtbar macht. Die Gedenktafel befindet sich in der Friedrich-Wolf-Straße am Rondell im Ortsteil Lehnitz vonOranienburg. (
52.74514795439213.2643333)[7]
52.75441513.274826Koordinaten:52° 45′ 15,9″ N,13° 16′ 29,4″ O