DerHirschzungenfarn (Asplenium scolopendrium), auch einfachHirschzunge genannt, ist eine Pflanzenart aus der Gattung derStreifenfarne (Asplenium) innerhalb derFamilie derStreifenfarngewächse (Aspleniaceae). Durch seine ganzrandigen Blattwedel ist der Hirschzungenfarn leicht von allen anderen europäischen Farnarten zu unterscheiden, die in der Regel ein- bis mehrfach gefiederte Wedel aufweisen.
Die Hirschzunge ist eine ausdauernde (mehrjährige)krautige Pflanze. Sie zeichnet sich durch ungeteilte, ganzrandige, länglich-zungenförmige, am Grund über dem Blattstiel herzförmige, vorne verschmälerte und zugespitzte, glänzend grüne Blattspreiten aus, die 10 bis 60, selten bis 100 Zentimeter groß[1] sind und aufrecht oder bogig überhängend aus einem „Wurzelstock“ in Büscheln trichterförmig wachsen. Das Rhizom ist aufrecht oder aufsteigend, bis 6 Zentimeter lang und dicht mit Spreuschuppen besetzt.[1] Der Blattstiel ist ein Drittel bis halb so lang wie die Spreite, am Grund purpurbraun und sonst grün.[1] Die Blätter sind wintergrün, wobei die im späten Frühling neu hervorgebrachten Wedel frisch hellgrün aussehen, die älteren sind kräftig grün und ledrig fest. Die Blattspreite ist ganzrandig.[1] Auf ihrer Unterseite bilden sich länglich-linealische, rost-bräunliche Doppel-Sori (Gruppen vonSporangien, welche dieSporen enthalten), die schräg zur Mittelrippe parallel über die Seitennerven angeordnet sind.
Die Sporenreife findet in den Monaten Juli bis September statt.[1]
Die von der Blattrippe gabelig verzweigten Seitennerven werden als stammesgeschichtlich urtümliches Merkmal im Vergleich zu anderen, „moderneren“ Farnarten mit netznervigen Blättern interpretiert.
Zier-Varietät mit krausen BlatträndernBestandsaspekt (Nordhang im unterenBühlertal) in Baden-WürttembergAsplenium scolopendrium var.americanum im Bundesstaat New York
Die Verbreitung istholarktisch und dabeidisjunkt gestreut in den gemäßigten Gebieten im östlichen Nordamerika, Europa und Ostasien. In Europa kommt der Hirschzungenfarn vor allem im westlichen, atlantisch geprägten, wintermilden Teil vor. Innerhalb Deutschlands zeichnen sich Schwerpunkte im Südwesten ab, u. a. im Bereich derSchwäbischen Alb, desRheinischen Schiefergebirges und desAlpenvorlandes. Sonst ist die Verbreitung sehr unstetig; in weiten Teilen Deutschlands fehlt der Hirschzungenfarn oder kommt nur punktuell vor. Hirschzungenfarn steht unter Naturschutz (u. a. „besonders geschützt“ nach derBundesartenschutzverordnung)[3] und ist eine Art derRoten Listen.
Hirschzungenfarn kommt in Mitteleuropa besonders an lichten bis schattigen, sickerfeuchten, nordexponierten Steilhängenkalkbödiger, basen- und humusreicherSchluchtwälder mitEschen,Ahorn undLinden als dominanten Baumarten vor. Für diese spezielle, naturkundlich sehr wertvolle Waldausprägung, nämlich das Fraxino-Aceretum pseudoplatani, ist die Hirschzunge sogar eine „Kennart“ innerhalb der Krautschicht. AuchBlockschutthalden und feuchte, kalkhaltige Mauern, beispielsweise an Friedhöfen oder in Brunnen, werden manchmal besiedelt (Spaltenwurzler). Sie kommt auch im Asplenio-Cystopteridetum aus dem Verband Cystopterion vor und inPflanzengesellschaften der Klasse Thlaspietea.[2]In den Allgäuer Alpen steigt sie am VorderenWildengundkopf in Bayern in einer Höhenlage bis zu 1700 Meter auf.[4] ImKanton Wallis erreicht sie auf derGemmi 2000 Meter.[1]
Die ökologischenZeigerwerte nachLandoltet al. 2010 sind in derSchweiz: Feuchtezahl F = 3+ (feucht), Lichtzahl L = 2 (schattig), Reaktionszahl R = 4 (neutral bis basisch), Temperaturzahl T = 3 (montan), Nährstoffzahl N = 3 (mäßig nährstoffarm bis mäßig nährstoffreich), Kontinentalitätszahl K = 2 (subozeanisch).[5]
Die Erstveröffentlichung vonAsplenium scolopendrium erfolgte 1753 durchCarl von Linné inSpecies Plantarum, Tomus II, Seite 1079.Synonyme fürAsplenium scolopendriumL. sindScolopendrium vulgareSm. undPhyllitis scolopendrium(L.) Newm.[6]
Manchmal wurde diese Art (bisheriger NamePhyllitis) zur Familie derTüpfelfarngewächse (Polypodiaceae) gestellt.
Je nach Autor gibt es zweiUnterarten und zwei Varietäten:
Asplenium scolopendrium subsp.antri-jovis(Kümmerle) Brownsey & Jermy (Syn.:Biropteris antri-jovisKümmerle,Phyllitis antri-jovis(Kümmerle) W.Seitz): Sie kommt auf Kreta, auf den Kykladen und in der Türkei vor.[7] Nach Euro+Med ist sie ein Synonym von Asplenium scolopendrium subsp.scolopendrium.[6]
Asplenium scolopendrium L. subsp.scolopendrium: Sie tritt außer der var.scolopendrium auch noch in weiteren Varietäten auf[8]:
Asplenium scolopendrium var.americanum(Fernald) Kartesz & Gandhi: Sie kommt in Höhenlagen von 0 bis 100 Metern in den US-Bundesstaaten Ontario, Alabama, Michigan, New York sowie Tennessee und im mexikanischen BundesstaatNuevo León vor. Sie ist tetraploid mit 2n = 144.[1]
Asplenium scolopendrium var.lindenii(Hook.) Viane, Rasbach, & Reichstein: Sie kommt in den mexikanischen Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas vor und tritt auch aufHispaniola auf. Die Varietätlindenii ist nach einigen Autoren aber nur ein Synonym der var.americanum.[7]
Es gibt zahlreiche in Gärten kultivierte Zierformen der Hirschzunge, die beispielsweise stark wellig gekräuselte Blattränder aufweisen (vgl. Foto).
Die Blätter[9] der Hirschzunge (oder lateinischscolopendria in der pharmazeutischen Literatur des Mittelalters) fanden früher als Wundmittel und beiMilzkrankheiten Verwendung.
Bei diesen antiken Autoren fanden sie dazu folgende Anwendungsempfehlungen:
für dasAsplenon,Asplenium bzw.Skolopendrium: erweicht die Milz (Dioskurides – Plinius – Galen), zerkleinert Steine (Dioskurides – Galen), bewirkt zeremoniell angewendet Unfruchtbarkeit bei Frauen (Dioskurides – Plinius), hilft gegen Schluckauf (Dioskurides – Plinius), hilft gegen Dysurie (Dioskurides) und gegen Gelbsucht (Dioskurides);
für diePhyllitis: hilft gegen Dysenterie und Durchfall (Dioskurides – Galen), gegen den Biss giftiger Tiere (Dioskurides);
für dieHemionitis: erweicht mit Essig getrunken die Milz (Dioskurides);
für dieLingua herba: bewirkt mit Schweineschmalz verwendet Glanz der Haare (Plinius)
ImMacer floridus (11. Jahrhundert) und in dessen deutscher Übersetzung (Deutscher Macer, 13. Jahrhundert), den Standardwerken der Kräuterheilkunde des lateinischen Mittelalters, wurde der Hirschzungenfarn nicht aufgeführt. In denHildegard von Bingen zugeschriebenenPhysica-Manuskripten des 14. bis 15. Jahrhunderts wird die Anwendung der „Hirtzunge“ (lateinischLingua cervina[34]) aber ausführlich beschrieben:
„Die Hirtzunge ist warm und tut Leber, Lunge und schmerzenden Eingeweiden wohl. Koche sie stark in Wein, füge reines Mehl hinzu, lasse es dann noch einmal aufsieden, pulverisiere dann langen Pfeffer und zweimal so vielCynamomum und lasse die Milch mit dem Wein noch einmal aufsieden, drücke sie durch ein Tuch und mache so einen luterdranck und trinke ihn oft nüchtern wie nach dem Frühstück. Er nutzt der Leber, reinigt die Lunge, heilt schmerzende Därme und entfernt innere Fäulnis und slim. Und wiederum mache die Hirtzunge in heißer Sonne oder auf warmen Ziegeln gut trocken, pulverisiere sie und lecke das nach dem Frühstück und nüchtern oft aus deiner Hand. Das wird den Kopf und Brustschmerz besänftigen und andere Schmerzen in deinem Körper löschen. Wird ein Mensch durch einen starken und plötzlichen Schmerz unmechtig, trinke er schnell von demselben Pulver in warmem Wein und wird es besser haben.“
–Hildegard von Bingen,Physica:Pariser Manuskript, 1. Hälfte 15. Jh., Buch I / Kapitel 30. In der Übersetzung von Herbert Reier, Kiel 1980.[35]
Die den Blättern des Hirschzungenfarns seit der Antike zugeschriebene Wirkung auf die „Milz“ ist mit dem seit dem 16. Jahrhundert gewachsenen „anatomischen Denken“ allein kaum verständlich. Der Begriff „anatomisches Denken“ beschreibt die Tendenz, normale und krankhafte Erscheinungen im Körper vorwiegend auf der Grundlage von Organ- bzw. Zell-Veränderungen zu beurteilen.[44] Dieses „anatomische Denken“ verdrängte die bis dahin vorherrschendeSäftelehre. Nach dieser Säftelehre wurde der in schattigen Nordhängen beheimatete Hirschzungenfarn derMelancholie zugeordnet. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde dieser Bezug so gedeutet, dass das Kraut auch gut gegen „furchtsame Träume, gegen Schwermütigkeit und gegen Traurigkeit“ und zum Umschlag bei „heissen Erkrankungen der Leber“ und bei schlecht heilenden Wunden und Geschwüren („Krebs“) sei.[45][46][47][48]
Henning Haeupler, Thomas Muer:Bildatlas der Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands (=Die Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands. Band 2). Herausgegeben vom Bundesamt für Naturschutz. Ulmer, Stuttgart 2000,ISBN 3-8001-3364-4.
H. Haeupler, P. Schönfelder:Atlas der Farn- und Blütenpflanzen der Bundesrepublik Deutschland. Ulmer-Verlag, Stuttgart, 1988.ISBN 3-8001-3434-9.
B. P. Kremer, H. Muhle:Flechten, Moose, Farne. Steinbachs Naturführer, Mosaik-Verlag, München, 1991,ISBN 3-576-10762-2.
↑abErich Oberdorfer:Pflanzensoziologische Exkursionsflora für Deutschland und angrenzende Gebiete. Unter Mitarbeit von Angelika Schwabe und Theo Müller. 8., stark überarbeitete und ergänzte Auflage. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2001,ISBN 3-8001-3131-5,S.75.
↑Michael Koltzenburg:Asplenium. In:Schmeil-Fitschen: Die Flora Deutschlands und angrenzender Länder. 97. Auflage. Verlag Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2019.ISBN 978-3-494-01700-6. S. 156.
↑Dieter Lehmann:Zwei wundärztliche Rezeptbücher des 15. Jahrhunderts vom Oberrhein. Teil I: Text und Glossar. Horst Wellm, Pattensen/Han. 1985, jetzt bei Königshausen & Neumann, Würzburg (=Würzburger medizinhistorische Forschungen, 34),ISBN 3-921456-63-0, S. 194 („hirtz czüngen, daz krüt“).
↑Theophrast.Naturgeschichte der Gewächse. Ausgabe:Kurt Sprengel.Theophrast’s Naturgeschichte der Gewächse. Friedrich Hammerich, Altona 1822, Teil I Übersetzung, Buch 7. Kapitel 14(Digitalisat) Teil II Erläuterungen, S. 284–285(Digitalisat)
↑Dioskurides.De Medicinali Materia libri quinque. In der Übersetzung vonJulius Berendes.Des Pedanius Dioskurides Arzneimittellehre in 5 Büchern. Enke, Stuttgart 1902, Buch III, Cap. 111:Phyllitis(Digitalisat)
↑Abu Muhammad ibn al-Baitar. 13. Jh.Kitāb al-jāmiʿ li-mufradāt al-adwiya wa al-aghdhiya – Große Zusammenstellung über die Kräfte der bekannten einfachen Heil- und Nahrungsmittel. Übersetzung. Joseph Sontheimer unter dem TitelGroße Zusammenstellung über die Kräfte der bekannten einfachen Heil- und Nahrungsmittel. Hallberger, Stuttgart 1842, Band II, S. 31: Skolofendrion – Asplenon(Digitalisat)
↑Wouter S. van den Berg (Hrsg.):Eene Middelnederlandsche vertaling van het Antidotarium Nicolaï (Ms. 15624–15641, Kon. Bibl. te Brussel) met den latijnschen tekst der eerste gedrukte uitgave van het Antidotarium Nicolaï. Hrsg. von Sophie J. van den Berg,N. V. Boekhandel en Drukkerij E. J. Brill, Leiden 1917, S. 236.
↑Nach der Pariser Handschrift Codex 6952 f Edition Daremberg/Reuß 1855, Sp. 1142(Digitalisat)
↑Nicolas Lémery.Dictionnaire universel des drogues simples, contenant leurs noms, origines, choix, principes, vertus, étymologies, et ce qu’il y a de particulier dans les animaux, dans les végétaux et dans les minéraux, Laurent d’Houry, Paris, 1699, S. 178:Ceterach(Digitalisat) Deutsch :Vollständiges Materialien-Lexicon. Zu erst in Frantzösischer Sprache entworffen, nunmehro aber nach der dritten, um ein grosses vermehreten Edition […] ins Hochteutsche übersetzt / Von Christoph Friedrich Richtern, […]. Leipzig: Johann Friedrich Braun, 1721, Sp. 282:Ceterach(Digitalisat)
↑Albrecht von Haller (Hg).Onomatologia medica completa oder Medicinisches Lexicon das alle Benennungen und Kunstwörter welche der Arzneywissenschaft und Apoteckerkunst eigen sind deutlich und vollständig erkläret […]. Gaumische Handlung, Ulm / Frankfurt am Main / Leipzig 1755, Sp. 153:Asplenium(Digitalisat)
↑William Cullen.A treatise of the materia medica. 2 Bände. Charles Elliot, Edinburgh 1789, Band II, S. 41:Asplenium(Digitalisat). Deutsch.Samuel Hahnemann. Schwickert, Leipzig 1790, Band II, S. 41:Milzkraut (Asplenium)(Digitalisat)
↑Henry E. Sigerist.Renaissance. Die Geburt der abendländischen Medizin. … Die Geburt der Anatomie. In:Essays on the history of medicine. Presented toKarl Sudhoff. University Press, Oxford, 1924, S. 194–200.
↑Philipp Lorenz Geiger:Handbuch der Pharmacie zum Gebrauche bei Vorlesungen & zum Selbstunterrichte für Ärzte, Apotheker & Droguisten. Wolters, Stuttgart, 2. Band, 2. Hälfte 1830, S. 1620–1621:Scolopendrium(Digitalisat)