Sie war die älteste[1] Tochter desKronos und derRhea und Schwester des Zeus, des Poseidon, des Hades, der Demeter und der Hera. Sie wurde von ihrem Vater verschlungen, aber durch die List ihrer Mutter und ihres Bruders Zeus gerettet.[2][3]
Sie war eine jungfräuliche Göttin und wieAthene undArtemis nicht der Macht derAphrodite unterworfen. AlsPoseidon undApollon um sie warben, schwor sie beim Haupt desZeus, ewigJungfrau zu bleiben. Zeus gewährte ihr auf diesen Wunsch hin immerwährende Jungfräulichkeit und wies ihr einen ehrenvollen Platz als Hüterin und Opferempfängerin „mitten im Haus“ an.[4]
Ovid erzählt, dass Rhea die Götter zu einem Fest geladen hatte. Nachdem alle reichlich Wein genossen hatten und die meisten in den Schlaf gesunken waren, versuchte der lüsterne GottPriapos die schlafende Hestia zu vergewaltigen. Das Geschrei eines Esels bewirkte, dass Hestia aufwachte, alles lief hinzu und Priapos musste durch die aufgebrachte Menge fliehen[5] (sein Kult aufLampsakos wird mit einem Eselsopfer begangen).
Über Kultstätten und Tempel der Hestia ist relativ wenig überliefert. Die Ursache mag sein, dass der Herd eines jeden Hauses und der Herd desPrytaneions, also sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich das jeweilige sakrale Zentrum der Gemeinschaft, der Hestia geweiht waren. Ihr gebührte das erste Opfer.Pausanias vermerkt, dass ihr in Olympia noch vor Zeus geopfert wurde.[6] Platon leitet ihren Namen etwas gewagt vonοὐσίαousía (altattischἐσσίαessía, deutsch‚wahrhaftes Sein‘, ‚Wirklichkeit‘) her und begründet damit, dass ihr als Erste geopfert wird, denn die Essenz des Seins stehe natürlich an erster Stelle.[7] Genau genommen gebührte ihr das erste und das letzte Opfer, was auch damit in Beziehung gesetzt wurde, dass sie die „Erste und die Letzte“ war, als erstes der Kinder des Kronos war sie auch als Erste von ihm verschlungen worden, von ihm wieder ausgespien wurde sie aber als Letztes.
Der häusliche Herd, ursprünglich in der Mitte des Hauptraums,[8] war der Ort des häuslichen Kultes, hier wurde bei derAmphidromia das Neugeborene in die Hausgemeinschaft aufgenommen, hier konnte ein Schutzflehender Asyl finden[9] und man konnte beim Herd schwören.[10] Sie war nicht nur die Schutzherrin aller Häuslichkeit, nachDiodor soll sie auch den Hausbau erfunden haben.[11]
Die Göttin des privaten Herdfeuers war auch Göttin des Herdfeuers der Gemeinschaft, derkoine hestia als Symbol der Gemeinschaft derPolis. Deshalb war in den griechischen Stadtstaaten dasPrytaneion der Hestia geweiht, und sie hatte dort einen Altar, auf dem ihr zu Ehren ein ewiges Feuer unterhalten wurde. Von diesem Altar nahmen die in die Ferne ziehenden Kolonisten Feuer mit für den Herd ihrer künftigen Niederlassung. Bei Gründung einer neuen Stadt sollte (jedenfalls nach der Idealvorstellung von Platon) als erstes der Hestia, Zeus und Athene (in dieser Reihenfolge) ein heiliger Bezirk auf derAkropolis zugewiesen werden.[12]
Ausdrücklich von Pausanias in derBeschreibung Griechenlands erwähnte Kultstätten der Hestia sind:
Im Kult erscheint sie häufig zusammen mit Hera, aber auch mit Hermes, so inOropos und in Olympia. DerHomerische Hymnos XXIX ist beiden Göttern gleichermaßen gewidmet. Sie werden angerufen und eingeladen im Haus zu weilen und es zu segnen. Ohne das Weinopfer für Hestia zu Beginn und Ende des Mahles kann keine gesittete Gastlichkeit sein.
Wie oben erwähnt, war der Kult der Hestia sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich an zentraler Stelle repräsentiert, was immer wieder als Begründung dafür herangezogen wird, dass es kaum ausgewiesene Tempel oder Heiligtümer der Hestia gibt: Wer überall den vornehmsten Ehrenplatz bereits innehat, bedarf keiner weiteren kultischen Ehrung durch Tempel und Statuen. Dennoch hat das sehr weitgehende Fehlen von Inschriften, die z. B. eine Priesterschaft der Hestia bezeugen, Verwunderung erregt.[20]
In Athen beispielsweise gibt es keine einzige gesicherte Inschrift, die einen Kult der Hestia belegt. Eine sich auf „Hestia, Livia und Julia“ beziehende Inschrift[21] gilt wohl nicht der griechischen Hestia, sondern dem in der Kaiserzeit in Athen eingeführten Kult der römischenVesta. Priester der Hestia sind nur ausDelos,Stratonikeia inKarien undChalkis bekannt.[22] Schließlich sind inKameiros aufRhodos noch Personen bezeugt, diedamiurgoi der Hestia genannt wurden,[23] und in Sparta ist im 2. Jahrhundert mehrfach der Titelhestia poleos („Hestia der Stadt“) als weiblicher Ehrentitel belegt. Ob damit ein Amt oder eine öffentliche Funktion verbunden war, ist unklar aber eher unwahrscheinlich.[24] Insgesamt ist das für eine der ranghöchsten unter den olympischen Göttern bemerkenswert wenig.
Demgegenüber ist der öffentliche Kult derHestia Prytaneia im Prytaneion, dem Sitz der Stadtregierung, und derHestia Boulaia imBuleuterion, dem Sitz desStadtrates, gut und vielfach bezeugt, woraus geschlossen werden könnte, dass die Kultobliegenheiten der Hestia zu besorgen, Teil eines öffentlichen Amtes war,[25] wofür es auch entsprechende Belege beiDionysios von Halikarnassos[26] undAristoteles[27] gibt.
Hestia als Gnadenspenderin. Ägyptischer Bildteppich des 6. Jahrhunderts (Dumbarton Oaks Collection, Washington)
Dem reinen und keuschen Wesen der Göttin entsprechend, pflegte man sie sitzend oder ruhig dastehend mit ernstem Gesichtsausdruck und stets völlig bekleidet darzustellen. Im ganzen gab es im Altertum nur wenige Statuen der Hestia, die berühmteste war die desSkopas. In erhaltenen Statuen ist Hestia noch nicht sicher nachgewiesen; man bezieht auf sie gewöhnlich die sogenannte „Hestia Giustiniani“ imMuseo Torlonia in Rom, eine weibliche Gewandstatue strengen Stils, etwa aus der Zeit derGiebelfiguren des Zeustempels inOlympia und diesen formenverwandt. Auf römischen Münzen erscheint sie mit demPalladion undSimpulum.
Da Hestia in Darstellungen nicht durch ein für sie spezifisches Attribut (wie etwa der Dreizack desPoseidon oder der Hammer desHephaistos) ausgewiesen wird, ist eine Zuordnung meist nur dann sicher, wenn die Dargestellte (etwa in der Vasenmalerei) durch einen Schriftzug mit ihrem Namen eindeutig identifiziert wird. Hestia wurde ferner auch geflügelt dargestellt, was eine Unterscheidung zwischen Hestia und der geflügeltenIris erschwert. In Darstellungen der zwölfolympischen Götter sitzt statt ihrer oft Dionysos auf dem Thron.[28]
In derKosmologie derPythagoräer (z. B. beiPhilolaos) ist die Hestia das (unsichtbare) Zentralfeuer, um das in einemHeptachord diePlaneten kreisen (zu denen auch die Sonne zählt), die durch diese Kreisbewegung dieSphärenharmonie erzeugen.[29] Es ist nicht sicher, dass bei diesen kosmologischen Spekulationen auch die Göttin assoziiert wurde und nicht nur das Abstraktum Feuer. Dass die Verbindung tatsächlich hergestellt wurde, belegen zweiEpigramme der Claudia Trophime, 92 n. Chr.Prytanis vonEphesos. Das erste lautet:
„Sie [Hestia] hat den Göttern bei ihren Mahlzeiten (Speise und Trank) gereicht, sie unterhält das blühende Feuer der Heimatstadt; liebste Göttin, Blüte des Weltalls, ewiges Feuer, Göttin, die du auf dem Herdaltar den Feuerbrand unterhältst, der vom Himmel stammt.“[30]
Schon erwähnt wurde die von Platon stammende Herleitung des Namens der Hestia vonοὐσίαousía und die damit begründete Gleichsetzung Hestias mit der Essenz des Seins, der wahren Wirklichkeit. Die gleiche Entsprechung findet sich später beiPlotin, wo die Gleichsetzung zu Einheit (Monade) = Sein = Hestia ausgebaut wird.[31]
Die von den Pythagoräern ausgegangene Spekulation treibt Blüten bis in dendeutschen Idealismus. BeiSchelling versucht sie sich zurückzuwinden zur naturwissenschaftlichen Wurzel:
„Die Alten haben unter dem Namen Vesta (Hestia) die allgemeine Substanz und diese selbst unter dem Sinnbild des Feuers verehrt. Sie haben uns dadurch einen Wink hinterlassen, daß das Feuer nichts anderes als die reine in der Körperlichkeit durchbrechende Substanz oder dritte Dimension sei, eine Ansicht, die uns über die Natur des Verbrennungsprozesses, dessen Haupterscheinung das Feuer ist, vorläufig schon einiges Licht gibt.“[32]
Mika Kajava:Hestia Hearth, Goddess, and Cult. In:Harvard Studies in Classical Philology. Bd. 102, 2004, S. 1–20.
Reinhold Merkelbach:Der Kult der Hestia im Prytaneion der griechischen Städte. In:Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Bd. 37, 1980, S. 77–92JSTOR Auch abgedruckt in: Reinhold Merkelbach:Hestia und Erigone. Vorträge und Aufsätze. Teubner, Stuttgart u. a. 1996,ISBN 3-519-07438-9, S. 52–66Google.
August Preuner:Hestia-Vesta: ein Cyclus religionsgeschichtlicher Forschungen. Laupp, Tübingen 1864.
August Preuner:Über die erste und letzte Stelle der Hestia-Vesta in Cultushandlungen und Die Göttin Hestia bei Homer. Zwei Abhandlungen. Laupp, Tübingen 1862.