Hansjoachim Tiedge

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Hansjoachim Tiedge (*24. Juni1937 inBerlin; †6. April2011 naheMoskau) war ein deutscherNachrichtendienst-Beamter und spätererÜberläufer. Ab 1979 war er imBundesamt für Verfassungsschutz (BfV) für dieSpionageabwehr gegen dieDeutsche Demokratische Republik (DDR) zuständig und lief am 19. August 1985 in diese über.

Inhaltsverzeichnis

Leben

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Herkunft, Ausbildung, Familie

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Hansjoachim Tiedge, Sohn eines Bankangestellten, erlangte 1957 inFrankfurt am Main dieHochschulreife. Er warVolljurist, sein zweites Staatsexamen bestand er 1966.[1] Seine 1938 geborene Ehefrau Ute geb. Sachwitz, mit der er drei Töchter hatte[1], starb schon 1982.[2]

Tätigkeit für das BfV

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Tiedge trat 1966 in dasBundesamt für Verfassungsschutz (BfV) inKöln ein und lebte im Kölner StadtteilBrück.[1] Ab 1979 war er für dieSpionageabwehr gegen dieDeutsche Demokratische Republik (DDR) zuständig.

Getrieben von erheblichen psychischen Problemen, die durchAlkoholmissbrauch, hohe Schulden und den Tod seiner Frau ausgelöst worden waren, und von der Versetzung in eine andere Behörde bedroht[3], floh derRegierungsdirektor undReferatsgruppenleiter IV B des BfV am 19. August 1985 in die DDR.

Überlauf in die DDR

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Ausreise und Verhöre

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Tiedge reiste am 19. August 1985 mit demInterzonenzug in die DDR. AmGrenzübergang Helmstedt-Marienborn meldete er sich bei denGrenztruppen der DDR. Vier Tage später gab die DDR-NachrichtenagenturADN den Übertritt Tiedges bekannt.

In den anschließenden Verhören verriet Tiedge, zuletzt Gruppenleiter für dieSpionageabwehr DDR, sein Wissen über seinen ehemaligen Arbeitgeber, das Bundesamt für Verfassungsschutz. Nach Erkenntnissen der US-amerikanischenCentral Intelligence Agency soll Tiedge den Kontakt zurHauptverwaltung A (HVA) bereits Monate vor seiner Flucht hergestellt haben.[4] Die von Tiedge gemachten Angaben gingen allerdings nur in wenigen Details über diejenigen Informationen hinaus, die dasMinisterium für Staatssicherheit (MfS) durch den Topagenten im BfVKlaus Kuron, einen direkten Untergebenen Tiedges, ohnehin schon hatte.[5]

Nach Angabe von Stasi-Beamten gestand Tiedge in den Vernehmungen auch, den Tod seiner Frau durch einen Schlag mit einem Nudelsieb auf ihren Kopf verursacht zu haben, infolge dessen sie die Treppe hinunter gestürzt sei.[6]

Auswirkungen auf das BfV

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Tiedges Überlauf in die DDR führte zum Rücktritt des ehemaligen BfV-PräsidentenHeribert Hellenbroich, der gerade zum Präsidenten desBundesnachrichtendienstes ernannt worden war. Hellenbroich, dem die Alkoholprobleme und Schulden Tiedges bekannt gewesen waren und der ihn trotzdem in seinem Amt belassen hatte, wurde in deneinstweiligen Ruhestand versetzt. Sein Nachfolger als BND-Präsident wurdeHans-Georg Wieck.

„Sekretärinnenaffäre“

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Im Zusammenhang mit der Flucht Tiedges flogen im gleichen Monat mehrere andere Spionagefälle („Sekretärinnenaffäre“) auf. Nun konnten vom MfS die von Kuron erlangten Informationen über den Wissensstand des Verfassungsschutzes (und daraus folgende Ermittlungen) genutzt werden, ohne Kuron zu gefährden. Anfang August 1985 setzte sich nämlichJohanna Olbrich (alias Sonja Lüneburg), die Sekretärin von BundeswirtschaftsministerMartin Bangemann, rechtzeitig in die DDR ab, ebenso die Sekretärin Margarete Höke, die imBundespräsidialamt beschäftigt war. In die DDR flüchteten auch die Chefsekretärin beimBund der VertriebenenUrsula Richter und ihr FreundLorenz Betzing, der beimBundeswehrverwaltungsamt beschäftigt war. In der DDR wurden der umgedrehte MfS-Agent Horst Garau und seine Frau Gerlinde verhaftet. Er wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe, seine Frau zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Garau kam 1988 in derHaftanstalt Bautzen II des MfS unter „nie überzeugend geklärten Umständen“ ums Leben, mit der DDR-offiziellen Version „Selbsttötung durch Erhängen“.[4] Seine Witwe vermutet staatlichen Mord durch Institutionen der DDR.[7] Für Tiedge erfand man dieLegende, er sei bereits viele Jahre als „Kundschafter des Friedens“ tätig gewesen, um die TopagentenJoachim Krase (bis 1984 beimMilitärischen Abschirmdienst) und Tiedges Kollegen Klaus Kuron nicht zu gefährden.

Leben in der DDR

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Die ersten zweieinhalb Jahre in der DDR verbrachte Tiedge inPrenden, wo er im HVA-Leitungsobjekt amBauersee untergebracht war.Karl-Christoph Großmann gab später an, ab August 1985 Tiedges MfS-Betreuer in die DDR gewesen zu sein.

1988 wurde Tiedge, der sich inzwischenHelmut Fischer nannte und inKarolinenhof (Ost-Berlin) in einem luxuriösen Haus wohnte, an derHumboldt-Universität zu Berlin mit einerDissertation über die Abwehrarbeit des Verfassungsschutzespromoviert.

Leben nach 1989

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NachWende und friedlicher Revolution in der DDR 1989 lebte er zunächst noch unbehelligt in seinem Haus weiter, wo ihn allerdings derARD-JournalistWerner Sonne aufspürte. Schließlich wurde Tiedge am 23. August 1990 vom GeheimdienstKGB in dieSowjetunion ausgeflogen.[3]

Tiedge, der freimütig einräumte, ein „Verräter“ gewesen zu sein, war überzeugt davon, aus persönlichen Gründen mit dem Übertritt in die DDR den richtigen Schritt gemacht zu haben. Zuletzt lebte er abgeschottet in der Nähe vonMoskau. Seit 2005 war in seinem Fall derTatbestand desLandesverrats dieVerjährung eingetreten und eine diesbezüglicheStrafverfolgung in Deutschland gegen ihn nicht mehr möglich.[3][8] Allerdings hatte der Jurist Tiedge selbst Bedenken, ob sein Kontakt zum KGB von der deutschen Justiz als abermalige Tathandlung angesehen werden könnte, die die Verjährungsfrist neu hätte zu laufen beginnen lassen.

Schriften

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Weblinks

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Einzelnachweise

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  1. abcNach dem Tod der Ehefrau ging es bergab. In: Hamburger Abendblatt. 24. August 1985, abgerufen am 20. März 2022. 
  2. Grabstätte der Ehefrau und Tochter in der DatenbankFind a Grave, abgerufen am 15. Oktober 2019.
  3. abcGeorg Mascolo, Georg Bönisch:Natürlich bin ich ein Verräter. In:Der Spiegel.Nr. 49, 1993,S. 97 (online). 
  4. abRainer Blasius: Zum Tod von Hansjoachim Tiedge: Überschätzter Überläufer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 13. April 2011, abgerufen am 14. Dezember 2021. 
  5. Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hrsg.):Strafjustiz und DDR-Unrecht: Dokumentation. Spionage, Band 4, 2004, S. 108.
  6. Skandal beim Verfassungsschutz 1985 - Spion Tiedge setzt sich ab
  7. Stefan Aust:Deutschland, Deutschland. Hoffmann und Campe, 2013,ISBN 978-3-455-85076-5 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. Der Verräter – Der Fall des Hansjoachim Tiedge, in derMDR-Sendung vom 13. August 2002
Personendaten
NAMETiedge, Hansjoachim
KURZBESCHREIBUNGdeutscher Agent, Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Überläufer
GEBURTSDATUM24. Juni 1937
GEBURTSORTBerlin
STERBEDATUM6. April 2011
STERBEORTbeiMoskau
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