Ravenna wurde 402 unterKaiserFlavius Honorius wegen seines ausgezeichnetenHafens Classis an derAdria und seiner idealen Verteidigungsmöglichkeiten inmitten von unwegsamen Sümpfen die Hauptresidenz desWeströmischen Reiches. Es blieb dies bis zurAuflösung des westlichen Imperiums 476, wurde dann der Regierungssitz desOdoaker und unter KönigTheoderich ab 493 Hauptstadt derOstgoten. Während desErsten Gotenkriegs, als der oströmische KaiserJustinian I. versuchte, Italien zurückzuerobern, besetzte der oströmischeHeermeisterBelisar 540 die Stadt; 555 wurde sein NachfolgerNarses Statthalter Ostroms in Ravenna. Zu diesem Zeitpunkt entsprach die Verwaltungsstruktur Italiens mit einigen Änderungen noch immer derspätantiken Aufteilung, die von KaiserDiokletian vorgenommen und sowohl von Odoaker als auch von den Goten im Kern beibehalten worden war. Allerdings hatte Kaiser Justinian 554 die meisten senatorischen Ämter Italiens abgeschafft (nur dieStadtpräfektur Roms blieb bestehen) und so die Macht bereits stärker in den Händen seines Statthalters gebündelt.
568 zogenLangobarden unter ihrem KönigAlboin zusammen mit anderen germanischen Kriegern im Zuge der letzten Phase der „Völkerwanderung“ nach Norditalien. Das Gebiet war erst seit wenigen Jahren befriedet und hatte während des langen Gotenkrieges stark gelitten. Die vor Ort stationierten oströmischen Truppen waren schwach, und so konnten nach vorheriger Einnahme mehrerer anderer Städte die Langobarden 569Mediolanum (Mailand) erobern. Sie nahmenPavia nach einer dreijährigen Belagerung im Jahr 571 ein und machten es zu ihrer Hauptstadt. In den folgenden Jahren besetzten sie dieToskana. Andere Gruppen der Langobarden unterFaroald I. undZotto drangen in Mittel- und Süditalien ein und gründeten dort die Herzogtümer vonSpoleto undBenevent.[1] Etwa die Hälfte der Halbinsel, darunter Ravenna und Rom, konnte allerdings von den kaiserlichen Truppen gehalten werden. Nach Alboins Ermordung im Jahr 573 zerfiel das Gebiet der Langobarden in mehrere selbstständigeDukate (Herzogtümer).
KaiserJustin II., Justinians Nachfolger, versuchte dies zu nutzen und sandte 576 seinen SchwiegersohnBaduarius nach Italien. Dieser wurde jedoch besiegt und in der Schlacht getötet.[2] Die anhaltenden Krisen auf dem Balkan undKriege gegen dieSassaniden machten weitere Anstrengungen zur Rückeroberung unmöglich. Wegen der Einfälle der Langobarden zerfielen die oströmischen Besitzungen in Italien daher in mehrere isolierte Gebiete. 580 ordnete KaiserTiberios I. sie in fünf Provinzen, die jetzt auf Griechischeparchiai genannt wurden: dieAnnonaria in Norditalien rund um Ravenna,Calabria,Campania, dieEmilia mitLigurien sowie dieUrbicaria um die Stadt Rom(Urbs).[3]
Die Grenzen des byzantinischen Reiches von 650 unter KaiserKonstans II.
Da insbesondere der Kampf gegen das persischeSassanidenreich alle Kräfte beanspruchte, entschied man sich in Konstantinopel wenig später, Italien,Africa und die Inseln notgedrungen weitgehend sich selbst zu überlassen. Um dennoch eine möglichst effiziente Verteidigung unter Nutzung aller lokalen Kräfte zu ermöglichen, schien es notwendig, die zivile und militärische Autorität in diesen Gebieten entgegen der Tradition in jeweils einer Hand zu bündeln. Spätestens 584 reorganisierte daher Kaiser Maurikios die Verwaltung der verbliebenen Gebiete Italiens. Sie wurden in die sieben Dukate,Istria,Venetia, das eigentliche Exarchat von Ravenna mitCalabria, diePentapolis mitRimini,Pesaro,Fano,Senigallia, undAncona, das Dukat Rom,Neapel undLigurien aufgeteilt,[4] die vor allem die Küstenstädte umfassten, da die Langobarden hier die Vorherrschaft im Hinterland erlangt hatten. Alle Gebiete an der östlichen Flanke desApennin standen unter der direkten Verwaltung des Exarchen und bildeten das Exarchat im engeren Sinn. Die anderen Gebiete wurden durchduces und einenmagister militum kontrolliert und standen mehr oder weniger direkt unter der Autorität des Exarchen, der seinerseits nur dem Kaiser Rechenschaft schuldete. Die Langobarden hatten ihre Hauptstadt in Pavia und kontrollierten das große Tal desPo. DasPiemont, dieLombardei, das Festland vonVenetien, die Toskana und das Hinterland von Neapel gehörten den Langobarden. Zum eigentlichen Herrscher in Rom entwickelte sich der Papst, der immer unabhängiger agierte. Wann das Exarchat Ravenna eingerichtet worden ist, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. In einem Brief vom 4. Oktober 584 an seinen NachfolgerGregor den Großen sprach PapstPelagius II. einen gewissen Decius mit diesem Titel an,[5] womit dieser Titel zum ersten Mal in einer Quelle erscheint.[6]
Die Notwendigkeit der Verteidigung des Exarchats gegen die Langobarden führte zur Bildung lokaler Milizen, die zuerst den Truppen des Kaisers zugeordnet waren, zunehmend aber selbstständig agierten, da sie an ihren Heimatstandorten rekrutiert wurden. Diese bewaffneten Männer bildeten denexercitus Romanae militiae. Sie waren die fernen Vorläufer der freien bewaffneten Bürger der italienischen Städte desMittelalters.
Am Ende des 6. Jahrhunderts bestand das Exarchat im Wesentlichen noch aus Istrien, einem schmalen Küstenstreifen Venetiens an der Adria, dem Gebiet um Ravenna, der anschließenden Küstenregion mit Ancona, dem Dukat von Rom mit dem schmalenByzantinischen Korridor durchUmbrien zum Exarchat und der unmittelbaren Umgebung vonGaeta und Neapel; sowie (bis 650) aus der Umgebung von Genua.[7]
Während des 7. und 8. Jahrhunderts machte die wachsende Bedrohung durch die Langobarden und dieFranken, die Spaltungen zwischen der östlichen und der westlichen Christenheit durch denMonotheletismus und denByzantinischen Bilderstreit und die erbitterte Rivalität zwischen dem Papst und demPatriarchen von Konstantinopel die Position des Exarchen zunehmend unhaltbar.
Dem zweiten ExarchenSmaragdus gelang es 585, einen Waffenstillstand mit den Langobarden zu schließen. 588 ließ er den PatriarchenSeverus von Aquileia ein Jahr lang in Ravenna festhalten und erzwang die Wiedervereinigung mit der römischen Kirche (Dreikapitelstreit). 616 wurdeEleutherius von KaiserHerakleios zum Nachfolger des bei einem Aufstand getöteten ExarchenJohannes ernannt. Eleutherius unternahm 619 einen Versuch, sich selbst vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen, wurde aber von seinen eigenen Truppen ermordet.[8] Unter seinem NachfolgerIsaacius trat eine kurze Periode des Friedens ein. KaiserKonstans II. schickte als Anhänger desMonotheletismus 649 den ExarchenOlympius nach Rom, um PapstMartin I. verhaften zu lassen. Olympius schlug sich jedoch auf die Seite des Papstes und strebte offenbar selbst nach dem Kaisertum. Er behielt die Macht im Exarchat drei Jahre lang, in denen Martin sein Amt unbehelligt ausüben konnte, und starb dann in einem Gefecht auf Sizilien.
Der ExarchPaulus soll auf Befehl KaiserLeos III. versucht haben, PapstGregor II. zu töten bzw. verhaften zu lassen. Wie derLiber Pontificalis berichtet, schlug dieser Anschlag jedoch fehl, was in Italien zu einer neuen Welle von Aufständen und zur weiteren Aushöhlung der kaiserlichen Herrschaft führte, wozu auch dieUsurpation desTiberios Petasius beitrug. 726/27 verbündete sich dann der letzte ExarchEutychius mit dem langobardischen KönigLiutprand gegen Papst Gregor, ohne dass es ihnen gelang, diesen zu stürzen. Nach der ersten Einnahme Ravennas um 729/34 durch die Langobarden konnte Eutychius, diesmal mit päpstlicher und venezianischer Unterstützung, die Stadt zurückgewinnen. Ravenna blieb bis zum Aufruhr wegen des Bilderstreits 727 Sitz des Exarchen. Im Jahr 751 eroberte dann der LangobardenkönigAistulf die Stadt, womit das Exarchat von Ravenna endete.
Im Gegensatz zur Forschungsliteratur erscheint in den Quellen der Begriffexarchatus erst nach dem Fall Ravennas 750/51. Für Konstantinopel hatte es sich um eineprovincia unter der Führung einespatricius et exarchus gehandelt. Der Terminusexarchus erscheint erstmals am 4. Oktober 584 in einem Brief Papst Pelagius’ II. Er bezeichnete einen Militärkommandanten. Dabei ist eine unmittelbare Ernennung von Lokalkommandanten durch den Exarchen letztmals für das Jahr 687 greifbar. Um 700 wurde die Einsetzung von lokalenduces bestenfalls noch vom Exarchen abgesegnet.
Als 756 die Franken die Langobarden vertrieben, beanspruchte PapstStephan II. das Exarchat für sich. Sein VerbündeterPippin der Jüngere, König der Franken, schenkte die eroberten Gebiete des ehemaligen Exarchats 756 dem Papsttum; diesePippinische Schenkung, die von seinem SohnKarl 774 bestätigt wurde, markierte den Beginn der weltlichen Herrschaft der Päpste, dasPatrimonium Petri.
Nach dem Ende des Exarchats wurden die Reste der byzantinischen Besitzungen auf dem Festland, Neapel und Kalabrien, demKatepanat Italien unterstellt. Als Sizilien von den Arabern im 9. Jahrhundert erobert wurde, wurden aus den Resten dieThemenLangobardia und Calabria geschaffen. Istrien wurdeDalmatien zugeschlagen.Bari, die letzte byzantinische Festung in Italien, fiel schließlich 1071.
Judith Herrin:Ravenna. Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen, wbg, Darmstadt 2022, S. 261–397 (zuerstRavenna. Capital of Empire, Crucible of Europe, Penguin, London 2020).
Francesco Borri:Duces e magistri militum nell’Italia esarcale (VI–VIII secolo), in:Reti Medievali Rivista 6 (2005) 19–60.
Charles Diehl:Etudes sur l’Administration byzantine dans l’exarchat de Ravenne. (568–751) (=Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome, 53). Thorin, Paris 1888 (zugleich: thèse, Universität Paris 1888).
André Guillou,Filippo Burgarella (Hrsg.):L’Italia bizantina. Dall’esarcato di Ravenna al tema di Sicilia (=Storia degli stati italiani dal medioevo all’unità), Utet Libreria, Turin 1988,ISBN 88-7750-126-X.
Ludo Moritz Hartmann:Untersuchungen zur Geschichte der byzantinischen Verwaltung in Italien (540–750), Hirzel, Leipzig 1889 (Digitalisat).
↑Papst Pelagius II. an Gregor (I.) a.584:MGH Epp. II, 441.
↑Enrico Zanini:Le italie bizantine: territorio, insediamenti ed economia nella provincia bizantina d’Italia (VI-VIII secolo), Edipuglia, Bari 1998, S. 59; Salvatore Cosentino:Storia dell’Italia Bizantina (VI–XI secolo). Da Giustiniano ai Normanni, Bononia University Press, Bologna 2008, S. 22, 136.