Die traditionelleErzählforschung (auch:Volksprosa-Forschung) ist ein Zweig der Ethnologie. Sie befasst sich mit den vonAndré Jolles alseinfache Formen bezeichneten Textsorten wieMärchen,Mythe,Sage,Schwank oderWitz. Die moderne Erzählforschung schließt darüber hinaus auch bestimmte Erzählformen der Gegenwart wieAlltagsgeschichte, Alltagserzählung, Arbeitserinnerungen,autobiografische Erzählung, Familien-Erinnerungsgeschichte, Krankheitserlebnisse und Krankenhauserinnerungen,Reiseberichte undmoderne Sagen mit ein.
Wenngleich sich das Märchen aufgrund seiner einzigartigen Popularität für viele Jahrzehnte der mit Abstand größten Aufmerksamkeit erfreuen konnte, lässt sich heute selbst zu den weniger bekannten Gattungen – wieExempel,Facetie oderOrtsneckerei – einiges anSekundärliteratur finden. Grund dafür sind in erster Linie eine (für die gesamteFolkloristikinstitutionalisierte) internationale Zusammenarbeit sowie eine vergleichende Methodik seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Hier ist besonders dieFinnische Schule der Erzählforschung hervorzuheben, die mit ihrergeografisch-historischen Methode ab den 1880er Jahren auf dieirrationalistischen,mythologischen undromantischen Schulen des 19. Jahrhunderts reagierte und den Weg zu einer wissenschaftlichen Erzählforschung ebnete. Diese Methode sah vor, dass alle Varianten eines konkreten Erzähltyps miteinander verglichen werden sollten, um dadurch analytisch auf Alter, Ursprungsland, Wanderwege und Verbreitung schließen zu können.[1]
Als Begründer gelten die drei finnischen ErzählforscherJulius Krohn, sein SohnKaarle Krohn sowieAntti Aarne, auf dessen Arbeit auch derAarne-Thompson-Index beruht. Der einflussreichste Vertreter wurde jedochWalter Anderson, insbesondere aufgrund seiner hervorragenden ModelluntersuchungKaiser und Abt von 1923.
Da die Finnische Schule nicht einmal theoretisch dazu in der Lage war, den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, wurde sie immer wieder scharf kritisiert. So entwickelten sich mit der Zeit mehr und mehr pluralistischeForschungsfragen, die vor allem kulturwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich, psychologisch, religionswissenschaftlich, soziologisch oder auch strukturalistisch geprägt sind und von denen zwei im Folgenden kurz angerissen werden sollen.
Mündliche Überlieferungen lassen sich aufgrund ihrer relativen Kurzlebigkeit höchstens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen; was die zahlreichen Jahrhunderte davor angeht, so ist man auf literarisch-schriftliche Quellen angewiesen. Was die Forschung nun beispielsweise unternimmt, ist die kritische Interpretation älterer Schriften mit Hilfe neuerer Aufzeichnungen aus der oralen Überlieferung. Ferner ergeben sich Fragen nach den Vermittlungsstellen zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur, nach den Ursachen für die – teilweise bemerkenswerten – Traditionsfestigkeiten sowie den jeweiligen Auswahlprozessen.
DiePerformanz, also insbesondere die Sprachverwendung und Inszenierung, ist auch durch den Erzähler selbst geprägt. Im Gegensatz zur traditionellen Erzählforschung, der es lediglich um die Texte an sich ging, interessiert sich die neuere Folkloristik insbesondere für die so genannten Erzählerpersönlichkeiten: Wer genau ist eigentlich dieser Mann oder jene Frau, der bzw. die auf ein beträchtliches Repertoire an Märchen, Sagen, Witzen o. ä. zurückgreifen kann? Was lässt sich über deren soziale Stellung und was über ihre Kreativität sagen? Ebenso wichtig kann die Frage nach den Orten des Erzählens sein; bekommt man die Geschichten ausschließlich im familiären Kreis zu hören oder finden die Erzählvorgänge auch in öffentlichen Räumen statt?