Eriksons Mutter Karla Abrahamsen (1877–1960[1]) stammte ausKopenhagen und wuchs in einer gut situiertenjüdischen Familie auf. Ihr Ehemann, der Börsenmakler Valdemar Salomonsen, verließ sie kurz nach der Hochzeit, und Karla Abrahamsen ging nach Deutschland. Damals war sie bereits schwanger, Salomonsen war jedoch nicht der Vater des Kindes.[2] Diese Unkenntnis, wer sein leiblicher Vater war, belastete Erikson sein Leben lang. Er erfuhr es weder von seiner Mutter noch durch intensive Nachforschungen, die er sein Leben lang anstellte. Er selbst hatte die Vorstellung, dass sein Vater ein dänischerAdeliger war.[3]
Die ersten drei Jahre wuchs Erikson in Frankfurt am Main bei seiner Mutter mit dem NamenErik Abrahamsen auf. Im Jahr 1905 heirateten seine Mutter und der jüdische Kinderarzt Theodor Homburger (1868–1944[4]), der das Kind behandelt hatte. Erikson bekam jetzt den Nachnamen des Stiefvaters[3] und hieß fortanErik Homburger. Die Familie zog nachKarlsruhe. Während seiner gesamten Kindheit wurde ihm verheimlicht, dass sein Stiefvater nicht sein biologischer Vater war.[5] Erikson hatte die beiden Halbschwestern Ellen Homburger und Ruth Homburger.[6]
Nach dem Besuch des KarlsruherBismarck-Gymnasiums studierte Erikson an einerKunstakademie. Darauf folgten Wanderjahre als Künstler. Anschließend arbeitete er alsHauslehrer einer amerikanischen Familie inWien. Über diese Familie entstand der Kontakt zur psychoanalytischen Bewegung. Erikson lernteAnna Freud kennen und kam mit ihrerLehranalyse in Kontakt. Bekannt wurde er auch mitSigmund Freud,Heinz Hartmann,Ernst Kris,Eva Rosenfeld undHelene Deutsch. Dadurch wurde sein Interesse an der Psychoanalyse geweckt: Er gab die Malerei auf, begann eine Lehranalyse und ließ sich zum Psychoanalytiker ausbilden.[7]
In Wien lernte Erik Erikson 1929 seine spätere Ehefrau, die kanadischeErzieherin undTanzwissenschaftlerinJoan Serson kennen.[8] Zwischen 1931 und 1944 bekam das Ehepaar insgesamt vier Kinder: Kai Theodor (* 1931), Jon (* 1933), Sue (* 1938) und Neil (* 1944). Trotz der intensiven Arbeit im psychoanalytischen Bereich unterzogen sich Erikson und seine Ehefrau selbst nie einerPsychoanalyse[7] – das Familienleben war von „Mustern des Schweigens“[9] geprägt sowie von einer distanzierten Beziehung des Vaters zu seinen Kindern, wie seine Tochter beschreibt:
„Er hatte das Aufziehen der Kinder schon immer meiner Mutter überlassen, weil er sich selbst in all diesen Dingen für erbärmlich inkompetent, meine Mutter dagegen für außerordentlich begabt hielt.“[10]
Da bei Neil nach der Geburt dasDown-Syndrom festgestellt wurde, traf Erikson ohne Wissen seiner Ehefrau die Entscheidung, das Kind in ein Heim zu geben. Dies wurde sowohl innerhalb der Familie als auch nach außentabuisiert –, die Familie zog fort und es bestand kein Kontakt zu dem Kind. Neil starb mit 21 Jahren.[11] Das Aufrechterhalten einer perfekten „Fassade“ belastete die Familie schwer:
„Das öffentliche Bild, das sie abgaben, repräsentierte all das, was sie unbedingt sein wollten, während sie in ihrem privaten Leben von unerforschten, nie geklärten Gefühlen hinsichtlich ihrer Beziehung zu Neil, ihrer Beziehung zueinander und ihrer Beziehung zu ihren drei anderen Kindern heimgesucht wurden.“[12]
Nach der Ankunft in den USA änderte das Ehepaar den bisherigenFamiliennamen „Homburger“: Der Sohn Kai bekam stattdessen den Nachnamen „Erikson“ – von „Eriks Sohn“ in Anlehnung anskandinavische Traditionen der Nachnamensgebung. Auch Joan und die später geborenen Kinder erhielten diesen Familiennamen. Lediglich Erik selbst behielt den Nachnamen seines Stiefvaters als mittleren Bestandteil seines Namens: „Erik H. Erikson“.[13]
Im Jahr 1938 lebte er eine Zeitlang mitSioux-Indianern zusammen und analysierte deren Zusammenleben. Im folgenden Jahr wurde Erikson US-amerikanischer Staatsbürger. Später reiste er auch an dienordkalifornische Westküste, um den indianischen Fischerstamm derYurok zu studieren.[14] In den USA wurde er – ohne jemals ein Universitätsstudium absolviert zu haben –Professor fürEntwicklungspsychologie an den EliteuniversitätenBerkeley undHarvard. Im Jahr 1959 wurde er in dieAmerican Academy of Arts and Sciences gewählt. In Harvard entwickelte und veröffentlichte er sein berühmt gewordenesStufenmodell der psychosozialen Entwicklung, eine Weiterentwicklung desfreudschen Modells psychosexueller Entwicklung, das die Entwicklung des Menschen von seiner Geburt an bis zum Tod in acht Phasen untergliedert. In jeder dieser Phasen des Entwicklungsmodells kommt es zu einer entwicklungsspezifischenKrise, deren Lösung den weiteren Entwicklungsweg bahnt. Das Schlüsselkonzept Eriksons zum Verständnis der menschlichen Psyche ist dieIdentität, beziehungsweise dieIch-Identität, im Gegensatz zurIch-Entwicklung, die meist im jungen Erwachsenenalterstagniert.
Erikson entwickelte das Phasenmodell zusammen mit seiner FrauJoan Erikson – er hatte nicht studiert, sie dagegen schon. Er selbst gab später an, er könne seinen eigenen Anteil von dem ihren nicht unterscheiden – auch die Tochter beschreibt das Arbeiten der Eltern explizit und ausführlich als „Arbeitsteilung“. Dabei führte die wechselseitige emotionale Abhängigkeit zu zahlreichen Spannungen, die jedoch nicht offen thematisiert wurden.[15] Darüber hinaus übersetzte bzw. korrigierte Joan seine Arbeiten, da sie Englisch als Muttersprache gelernt hatte, er aber nicht. In seinen letzten Jahren und nach seinem Tod entwickelte sie das gemeinsame Modell weiter und ergänzte eine 9. Lebensphase des hochbetagten Alters.[16][17]
Im Phasenmodell der Eriksons wird jede Krise durch Polaritäten charakterisiert:
Dabei wird angenommen, dass diese Phasen altersspezifisch, aufeinander aufbauend unduniversell sind. Dies ist allerdings umstritten.[18]
Neben der Kinder- und Entwicklungspsychologie beschäftigte sich Erikson auch mitEthnologie. Hier prägte er 1968 den fruchtbaren Begriff derPseudospeciation: der Urmensch hätte Stämme gebildet, die sich untereinander meist wie getrennte Arten (Pseudospecies) verhalten und miteinander konkurriert hätten.
Erikson verfasste ab den 1950er Jahren psychoanalytisch orientierteBiografien überMartin Luther undMahatma Gandhi, unter anderem im Zusammenhang mit dem von ihm begründeten Begriff derGenerativität. Mit seinem Buch über Luther wurde er zu einem Vorreiter derPsychohistorie. Methodisch in seiner Nachfolge bewegt sich damit auch die in Großbritannien lehrende australischeHistorikerinLyndal Roper, u. a. in ihren detaillierten Studien ebenfalls über Luther. Für die Biografie über Mahatma Gandhi(Gandhi's Truth, 1969) erhielt Erikson 1970 denPulitzer-Preis.
Mitte der 1980er Jahre begann Erikson, sich emotional und geistig zunehmend zurückzuziehen. In dieser Phase setzte seine Frau die Arbeit zunehmend alleine fort.[19]Am 12. Mai 1994 verstarb Erik H. Erikson inHarwich,Massachusetts im Alter von 91 Jahren.
Zeit seines Lebens kämpfte Erikson „mit einer Neigung zurDepression“. Er litt unter Gefühlen der eigenen Wertlosigkeit, Unsicherheit und Unzulänglichkeit. Als er 1929 seine Frau kennenlernte, hatte er sich gerade von einer schweren Depression erholt. Seine Frau wurde ihm aufgrund ihrer emotionalen Stärke zu einer unverzichtbaren Stütze.[20]
In ihrem Artikel „Persönlichkeitsentwicklung nach Theorie von E. Erikson und nach A-Modell“ beschrieb die Psychologin undSozionikerin Tatiana Prokofieva 1999 den Zusammenhang zwischen den Entwicklungsphasen von Erikson und den psychischen Funktionen aus dem sozionischen A-Modell. Jede psychische Funktion durchläuft im Leben einer Person eine Phase besonders intensiver Entwicklung. Diese Entwicklungsphasen beschreibt Erikson. Der Übergang von Stadium 6 auf 7 nach Erikson entspricht dem Übergang von sozionischen Funktionen 8 auf 2 (Kreativfunktion) und ist allgemein alsMidlife-Crisis bekannt.
Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978; 3. Auflage 1984,ISBN 3-518-27865-7. (engl. 1970)
Einsicht und Verantwortung; Frankfurt a. M. (1964) 1971
Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze; Frankfurt a. M. 1966; 2. Aufl. 1973
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Daniel Burston:Erik Erikson and the American Psyche. Ego, Ethics and Evolution. Aronson, Lanham u. a. 2007,ISBN 978-0-7657-0494-8 (Psychological Issues).
Peter Conzen:Erik H. Erikson. Leben und Werk. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996,ISBN 3-17-012828-0.
Peter Conzen:Erik H. Erikson. Grundpositionen seines Werkes. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2010,ISBN 3-17-021075-0.
Sue Erikson Bloland:Im Schatten des Ruhms. Erinnerungen an meinen Vater Erik H. Erikson. Psychosozial-Verlag, Gießen 2007,ISBN 978-3-89806-501-6 (Bibliothek der Psychoanalyse).
Hubert Hofmann, Stiksrud Arne (Hrsg.):Dem Leben Gestalt geben. Erik H. Erikson aus interdisziplinärer Sicht. Krammer, Wien 2004,ISBN 3-901811-14-1.
Roland Kaufhold:Spurensuche zur Geschichte der die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen. In: Thomas Aichhorn (Hrsg.):Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 1938–1949. Teil 1. Edition Diskord, Tübingen 2003, S. 37–69 (Luzifer-Amor 16. Jg., Heft 31,ISSN0933-3347).
Juliane Noack:Erik H. Erikson – Identität und Lebenszyklus. In:Benjamin Jörissen,Jörg Zirfas (Hrsg.):Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Ein Lehrbuch. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010,ISBN 978-3-531-15806-8, S. 37–53.
Juliane Noack:Erik H. Eriksons Identitätstheorie. Athena Verlag, Oberhausen 2005,ISBN 3-89896-232-6 (Pädagogik. Perspektiven und Theorien 6), (Zugleich: Siegen, Univ., Diss., 2005).
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↑Sue Erikson Bloland:Im Schatten des Ruhms. Erinnerungen an meinen Vater Erik H. Erikson. Gießen 2007, S. 55.
↑abDie bei Anna Freud begonnene Analyse brach er ab (Sue Erikson Bloland:Im Schatten des Ruhms. Erinnerungen an meinen Vater Erik H. Erikson. Gießen 2007, S. 74.)
↑Sue Erikson Bloland:Im Schatten des Ruhms. Erinnerungen an meinen Vater Erik H. Erikson. Gießen 2007, S. 61.
↑Sue Erikson Bloland: Im Schatten des Ruhms. Erinnerungen an meinen Vater Erik H. Erikson. Gießen 2007, S. 79.
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