Empirische Sozialforschung bezeichnet die systematischeErhebung und Auswertung vonDaten derSozialwissenschaften übersoziale Tatsachen durchBeobachtung,Befragung/Interview,Experiment oder durch die Sammlung sogenannterprozessgenerierter Daten. Neben der AllgemeinenSoziologie und den speziellen Soziologien (wie beispielsweise die Familien-, Organisations- oder Berufssoziologie) gilt die empirische Sozialforschung als dritter großer Bereich der Soziologie. Zugleich ist sie eine disziplinübergreifende Erfahrungswissenschaft, da sie anderen Sozialwissenschaften Erhebungsverfahren und Methoden zur Verfügung stellt (z. B. der Politologie in derWahlforschung; der Volks- und Betriebswirtschaftslehre in derMarktforschung; derSozialpsychologie mit Experimenten; derWirtschafts- undSozialgeschichte mitquantitativen Verfahren), an deren Entwicklung die Soziologie zwar in prominenter, aber nicht ausschließlicher Weise beteiligt war.
Die empirische Sozialforschung entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert aus verschiedenen Vorgängerdisziplinen. Zu nennen ist in erster Linie dieKameralistik, diestatistische Methoden für die merkantilistische Staatsverwaltung entwickelt hatte. Sodann wurden im 19. Jahrhundert vor allem in GroßbritannienSocial Surveys zur Untersuchung vonIntegrationsproblemen und zurArmutsbekämpfung durchgeführt.[1] In Deutschland erhob derVerein für Socialpolitik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zahlreicheEnqueten, die auf die „soziale Frage“ fokussiert waren und der Vorbereitung zur Sozialgesetzgebung dienen sollten.[2] Starke Impulse gingen seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von Untersuchungen in den Vereinigten Staaten aus. VornehmlichGemeindestudien (beispielsweiseMiddletown vonRobert S. Lynd und Helen M. Lynd[3]), Betriebsuntersuchungen (wie die in denHawthornewerken vonElton Mayo und seinen Mitarbeitern[4]) und schließlich die ethnographischen Methoden und differenzierten Erhebungsverfahren der sogenanntenChicagoer Schule bereicherten das Repertoire der empirischen Sozialforschung. Ab den 1930er Jahren gewannen dieMeinungs- undMarktforschung eine große Bedeutung. In Europa kam die empirische Sozialforschung, so auch die empirische Wahlforschung, vor allem unter amerikanischem Einfluss, erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Entfaltung. In derSoziologie im Nationalsozialismus spielte sie aber bereits eine größere Rolle.
Mit empirischer Sozialforschung können eine Reihe sehr unterschiedlicher Ziele verfolgt werden:
In denSozialwissenschaften wird bis heute eine sehr kontroverse Diskussion darüber geführt, ob es besser ist, empirische Forschung mittelsqualitativer Methoden oderquantitativer Methoden durchzuführen. In diesemMethodenstreit, der besonders zu Ende der 1960er Jahre sehr heftig ausgetragen wurde, fließenmethodologische, soziologisch-theoretische und manchmal auch politisch-weltanschauliche Fragen mit ein.
In der quantitativen Sozialforschung wird vor allem mit standardisierten Daten gearbeitet (etwa mit den Ergebnissen von Umfragen, bei denen die Befragten zwischen festen Antwortalternativen wählen), weil standardisierte Informationen besonders leicht mit statistischen Methoden verarbeitet werden können. Anders als bei der qualitativen Sozialforschung können die Ergebnisse der quantitativen Sozialforschung nummerisch in Diagrammen dargestellt werden und treten durch ihre Übersichtlichkeit häufiger im Alltag (in z. B. Zeitungen und Werbungen) auf. Alsmethodologische Grundlage der quantitativen empirischen Sozialforschung dienen bestimmte Strömungen der modernenWissenschaftstheorie, wie dieAnalytische Philosophie oder derKritische Rationalismus vonKarl Popper undHans Albert. Ein wichtiger Grundsatz der quantitativen Sozialforschung ist, dass Forschung prinzipiell unabhängig von derSubjektivität der Forscherin/des Forschers ablaufen soll (Prinzip derIntersubjektivität). Das Ziel quantitativer Sozialforschung kann einerseits in der Beschreibung gesellschaftlicher „Makrophänomene“ (etwa Geburtenraten, Arbeitslosenquoten usw.) bestehen oder in der Überprüfung von Hypothesen, die aus sozialwissenschaftlichen Theorien abgeleitet werden.
Parallel zur quantitativen Sozialforschung hat sich seit den 1920er Jahren diequalitative Sozialforschung entwickelt, die mit unstandardisierten Daten arbeitet, wie sie bspw. in offenen Interviews, die eher einem normalen Gespräch als einer standardisierten Befragung ähneln, gesammelt werden. Im Rahmen derhistorischen Soziologie und derIdeengeschichte der Soziologie gehört auch dieQuellenkritik zu den qualitativen Verfahren. Vorteile der in den 1990er Jahren weiterentwickelten Verfahren qualitativer Datenerhebung und kombinierter Techniken (z. B.teilnehmende Beobachtung,qualitatives Interview,Gruppendiskussion) werden von Vertretern der Qualitativen Sozialforschung darin gesehen, dass hiermit die Handlungsorientierungen, Relevanzsetzungen undDeutungsmuster der Akteure im Gegenstandsbereich oft besser erfasst werden könnten als mit standardisierten Methoden. Zu der qualitativen Sozialforschung gehören dieHermeneutischen Methoden, dieinterpretativen Methoden, sowie dierekonstruktiven Methoden[5]. Häufig werden diese methodenspezifischen Begriffe als Synonym für "qualitative Sozialforschung" verwendet.
In der Regel zielt qualitative Sozialforschung dabei nicht auf die Überprüfung einer vorab (d. h. vor dem Kontakt mit dem empirischen Feld) formulierten wissenschaftlichen Hypothese, sondern das Ziel besteht darin, soziale Strukturen und Prozesse tiefergehend zu erkunden und zu erforschen und soziale Sinnstrukturen sichtbar zu machen. Die unterschiedlichen Formen des qualitativen Forschens beginnen dabei immer mit einem individuellen Feldzugang, der mit Einwilligung (einfacher Zugang) oder auch der das Feld während einer sensitiven Phase politisiert (schwieriger Zugang).
ZumParadigma unterschiedlicher Auffassungen über das Verhältnis von soziologischer Theorie zur empirischen Sozialforschung wurde die Diskussion dreier Soziologen:Paul Lazarsfeld, der als Begründer des „administrative research“ gilt,Theodor W. Adorno, der zuletzt die empirische Forschung von seiner philosophischen Position zunehmend kritisierte (sieheZur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland undSoziologie und empirische Forschung), undRobert K. Merton, der mit dem Konzept derTheorien der mittleren Reichweite eine Vermittlung zwischen großen Theorien und theorieferner Sozialstatistik suchte.[6]
C. Wright Mills hat in seinem einflussreichen WerkThe Sociological Imagination einerseits in der Konzentration auf die „administrative research“ (schon aus der Notwendigkeit der Projektfinanzierung heraus) die Gefahr des Bürokratismus und technokratischer Unterordnung der Sozialwissenschaften gesehen, andererseits in der von wirklichen gesellschaftlichen Problemen abgewandten „großen Theorie“ den ausschließlich ideologischen Nutzwert derselben.[7]