Encheleer

Encheleer (altgriechischΈγχελέαιEncheléai[1];lateinischEnchelei) ist die eingedeutschte Bezeichnung für einenantikenVolksstamm im südlichenIllyrien.
Mythologie und Namensgebung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Laut dergriechischen Mythologie erhielten die Encheleer ihren Namen vonEncheleus (altgriechischἘγχελέαEncheléa), ihremeponymen Heros, der das Herrschergeschlecht dieses Volkes begründet haben und Sohn desIllyrios gewesen sein soll. Dieser wiederum war laut derBibliotheke des Apollodor (1. Jahrhundert n. Chr.) Sohn desKadmos und derHarmonia. Diese beiden, die Großeltern des Encheleus, hatten, ausPhönizien stammend, nach langen AbenteuernTheben gegründet und regiert. Als aber die Encheleer mit denIllyrern im Kampf lagen, sagte ein Orakel voraus, dass ihnen nur dann der Sieg verheißen sei, wenn Kadmos und Harmonia sie als Herrscherpaar in den Kampf führen würden. Die beiden gaben daraufhin ihre Herrschaft in Theben an einen anderen Enkel,Pentheus, ab, und zogen zu den Encheleern. Nachdem die Voraussage eingetroffen und der Kampf erfolgreich bestanden war, blieb das Paar weiter an der Regentschaft und gründete die StädteBouthoe undLychnidos. Schließlich wurden sie vonZeus in Schlangen verwandelt und auf dieInsel der Seligen entrückt.[2]
Appian (1./2. Jahrhundert n. Chr.) zufolge war Illyrios hingegen ein Kind desPolyphem und derGalateia.[3]
Vermutlich leitet sich die überlieferte Namensform des Stammes vom altgriechischenἔγχελυςénchelys für „Aal“ her, womit Encheleer so viel wie „Aalmänner“ bedeutet. Die Eigenbezeichnung der Encheleer ist nicht überliefert; es ist aber davon auszugehen, dass er dieselbe Bedeutung hatte und die griechische Fremdbezeichnung (Exonym) eine Übersetzung davon darstellt.[4]
Geschichte
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]LautHekataios von Milet (6./5. Jahrhundert v. Chr.) besiedelten die Encheleer die Region zwischen den Gebieten derChaonier im Süden und derTaulantier im Norden.[5] Durch spätere Quellen wie denPeriplus desPseudo-Skylax aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist für die Encheleer ein völlig abweichendes Siedlungsgebiet als für das 6. Jahrhundert v. Chr. belegt. Nun lebten sie nördlich der Taulantier am Unterlauf desDrin. So wird die StadtBouthoe an derBucht von Kotor (heute inMontenegro) zum Territorium der Encheleer gerechnet, während das (heute albanische)Epidamnos bereits zum taulantischen Gebiet gehörte.[6]
Herodot zitiert in seinem Geschichtswerk eine Prophezeiung, der zufolge ein VolkTheben erobern und den Tempel vonDelphi plündern, dann aber zugrunde gehen würde.Mardonios bezog dies Herodot zufolge auf die Perser; der antike Historiker selbst behauptet jedoch, damit seien die Encheleer gemeint gewesen.[7] Diese scheinen also mit einigem Erfolg in Griechenland eingefallen zu sein.[8]
356/355 v. Chr. und 344 v. Chr. kämpftePhilipp II. von Makedonien siegreich gegen die Encheleer und weitere illyrische Stämme, die zumindest nominell seine Herrschaft anerkannten. Nach seinem Tod 336 v. Chr. erhoben sie sich wieder, wurden aber vonAlexander dem Großen erneut besiegt.[9] Ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Encheleer von den antiken Autoren als Teilstamm der Illyrer bezeichnet, während sie in den Berichten der vorangegangenen Zeit als eigenständige Gruppe eingestuft worden waren.[10]
Dergriechische GeschichtsschreiberPolybios (2. Jahrhundert v. Chr.) erwähnt in seinenHistorien die StädteEnchelanai,Kerax,Sation undBoioi, allesamt amOhridsee gelegen, die vomillyrischen KönigSkerdilaidas regiert werden, die im Jahr 217 v. Chr. aberPhilipp V., König vonMakedonien, eroberte.[11]
Lokalisierung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Schon früh wiesen Forscher wieAlfred Philippson (1905) auf das Lokalisierungsproblem der Encheleer hin. Nach Hekataios von Milet (6./5. Jahrhundert v. Chr.) siedelte der Stamm nördlich desCeraunischen Gebirges zwischen den Chaoniern im Süden und den Taulantiern im Norden, und lautSkymnos (2. Jahrhundert v. Chr.) damit in der Gegend vonApollonia. (Eigentlich spricht Hekataios aber nicht von Chaoniern, sondern nutzt, wieNade Proeva (2018) präzisiert, den BegriffDexaroi, einHapax legomenon, das wohl einen chaonischen Stamm um denTomorr bezeichnet oder einigen Forschern zufolge mit den illyrischenDassareten gleichzusetzen ist.[12])Pseudo-Skylax (4. Jahrhundert v. Chr.) aber verortet sie weiter nördlich, und zwar im Norden von Epidamnos in der Nähe der Mündung desDrilon.[13] In dieselbe Region setzenAndreas Lippert undJoachim Matzinger (2022) die Encheleer und vermuten sie im südlichenDalmatien, konkret im heutigen Montenegro bzw. im Gebiet desShkodrasees. Zwischen ihnen und den Dassareten amOhridsee siedelten Lippert und Matzinger zufolge noch dieBryger.[14]
Malcolm Errington (1986) lokalisiert die Encheleer in der Ohridsee-Region und damit westlich derLynkestis.[15]
John J. Wilkes (1992) bietet quasi einen Kompromiss und vermutet die Encheleer am Ober- und Unterlauf des Drin und damit sowohl am Ohridsee als auch amSkutarisee.[16]
Milutin V. Garašanin (1997) zufolge befinden sich auch die ausgegrabenenNekropolen beiTrebeništa undGorenci (am Ohridsee) im „Land der Encheläer“ und damit auch im Gebiet der Dassareten. Für ihn sind die Encheleer „einwandfrei als Illyrer anzusehen“. Dass diegriechische Mythologie und Pseudo-Skylax sie im heutigen Montenegro verorten, liegt laut Garašanin wohl an nicht rekonstruierbaren Migrationen.[17]
Kadmos-Kult
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Heinrich Kiepert (1878) vermutete, dass die Encheleer die kultische Verehrung desKadmos (von dem sie der Mythologie zufolge abstammten) nach Illyrien brachten. Kultstätten für ihn fanden sich an den Mündungen der FlüsseAoos,Drilon undNaron sowie in den StädtenRhizon,Bouthoe undPola.[18]
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- Johann Georg von Hahn:Albanesische Studien. F. Mauko, Jena 1854,S. 240 (online).
- Alfred Philippson: Enchelees, Encheleioi. In:Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,2, Stuttgart 1905, Sp. 2549.
- Karl Tümpel: Encheleus. In:Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,2, Stuttgart 1905, Sp. 2549.
- John J. Wilkes:The Illyrians (The Peoples of Europe). Blackwell, Oxford (UK)/Cambridge (US) 1992,ISBN 0-631-14671-7, S. 98 f. und öfter.
- Nade Proeva:The Region of Ohrid and Struga in the 6th–5th c. BC. Area, Population, Ethnicity. In: Pero Ardjanliev u. a. (Hrsg.):100 years of Trebenishte. National Archaeological Institute with Museum – Bulgarian Academy of Sciences, Sofia 2018,ISBN 978-954-9472-70-7, S. 153–157.
- Lavdosh Jaupaj:Études des interactions culturelles en aire Illyro-épirote du VII au III siècle av. J.-C. Lyon 2019,S. 74–78 (Digitalisat).
Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑Hekataios von Milet, FGH I, Fragement 73.
- ↑Bibliotheke des Apollodor, 3, 5, 4;Herodot,Historien 5,61 und 9,43. Wiedergabe dieser drei Passagen bei Lavdosh Jaupaj:Études des interactions culturelles en aire Illyro-épirote du VII au III siècle av. J.-C. Dissertation, Lyon 2019, S. 75 (Digitalisat).
- ↑Appian,Illyrischer Krieg, 2.
- ↑So beispielsweise John J. Wilkes:The Illyrians. Blackwell, Oxford (UK)/Cambridge (US) 1992,ISBN 0-631-14671-7, S. 244; Andreas Lippert, Joachim Matzinger:Die Illyrer. Geschichte, Archäologie und Sprache. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022,ISBN 978-3-17-037709-7, S. 107 und 120.
- ↑Hekataios von Milet, Fragment 73.
- ↑Pseudo-Skylax,Periplus, 24 f.
- ↑Herodot,Historien 9,42 f.
- ↑Robin Hard:The Routledge Handbook of Greek Mythology. Routledge, London, New York 2004,S. 643,doi:10.4324/9781315624136.
- ↑Illyrien, Illyrer. In:Hatto H. Schmitt,Ernst Vogt (Hrsg.):Kleines Lexikon des Hellenismus. Harrassowitz, Wiesbaden 1993,ISBN 3-447-03278-2, S. 261–267, hier S. 262 (online).
- ↑Nade Proeva:The Region of Ohrid and Struga in the 6th–5th c. BC. Area, Population, Ethnicity. In: Pero Ardjanliev u. a. (Hrsg.):100 years of Trebenishte. National Archaeological Institute with Museum – Bulgarian Academy of Sciences, Sofia 2018,ISBN 978-954-9472-70-7, S. 153–157, hier S. 154.
- ↑Polybios,Historien 5, 108, 8.
- ↑Nade Proeva:The Region of Ohrid and Struga in the 6th–5th c. BC. Area, Population, Ethnicity. In: Pero Ardjanliev u. a. (Hrsg.):100 years of Trebenishte. National Archaeological Institute with Museum – Bulgarian Academy of Sciences, Sofia 2018,ISBN 978-954-9472-70-7, S. 153–157, hier S. 153.
- ↑Alfred Philippson: Enchelees, Encheleioi. In:Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,2, Stuttgart 1905, Sp. 2549.
- ↑Andreas Lippert, Joachim Matzinger:Die Illyrer. Geschichte, Archäologie und Sprache. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022,ISBN 978-3-17-037709-7,S. 11–12 und 107.
- ↑Malcolm Errington:Geschichte Makedoniens. Von den Anfängen bis zum Untergang des Königreiches. C. H. Beck, München 1986,ISBN 3-406-31412-0.
- ↑John J. Wilkes:The Illyrians. Blackwell, Oxford (UK)/Cambridge (US) 1992,ISBN 0-631-14671-7, S. 93; 99.
- ↑Milutin V. Garašanin:Značenje funeralnih maski u bogatim (kneževskim) grobovima Makedonije. In:Godišnjak. Band 30, 1992–1997, S. 59–68, hier S. 66.
- ↑Heinrich Kiepert:Lehrbuch der alten Geographie. Dietrich Reimer, Berlin 1878,S. 357 (Anmerkung 2).