Distichon

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EinDistichon (PluralDistichen;griechisch „Zweizeiler“ vonδι-di- „zwei“ undστίχοςstíchos „Vers“, „Zeile“) ist in derVerslehre allgemein ein Verspaar bzw. eine zweizeiligeStrophenform.

Die verbreitetste Form des Distichons ist das aus einemdaktylischenHexameter (griechisch „Sechsmaß“) und einemPentameter (griechisch „Fünfmaß“) bestehende sogenannteelegische Distichon oder auchElegeion. Die Form ist in der griechischen Dichtung schon im 7. Jahrhundert v. Chr. beiKallinos undArchilochos nachzuweisen und wurde in der Antike vielfach fürEpigramme,Elegien,Idyllen undLehrdichtung verwendet. Der Pentameter wird häufig, aber nicht zwingend, zur Unterscheidung mit einerEinrückung versehen.

Inhaltsverzeichnis

Ein Beispiel in drei Sprachen

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Das wohl berühmteste elegische Distichon erinnerte alsEpitaph an dieSpartaner, die in derSchlacht bei den Thermopylen gefallen waren, und wurde oft fälschlich dem griechischen LyrikerSimonides von Keos (* ca. 556 v. Chr.; † 469 v. Chr.) zugeschrieben:[1]

Ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε
    κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.

Ō xein’, angellein Lakedaimoniois hoti tēde
    keimetha tois keinōn rhēmasi peithomenoi.

In der lateinischen Übersetzung, wie sie beiCicero im ersten Buch derTusculanae disputationes (1, 101) zu lesen ist, heißt es so:

Dic, hospēs, Spartae nos te hic vidīsse iacentēs,
    dum sanctīs patriae legibus obsequimur.

Friedrich Schiller übersetzt dieses Distichon in seiner ganz in Distichen verfassten ElegieDer Spaziergang, 1795, so:

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
    Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Metrisches Schema

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Dasmetrische Schema des antiken elegischen Distichons lautet

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—×
◡◡ˌ—◡◡ˌ— ‖ —◡◡ˌ—◡◡ˌ×

Das elegische Distichon in der lateinischen Dichtung

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Als weiteres Beispiel aus einem berühmten vollständig in Distichen verfassten Werk, derArs amatoria („Liebeskunst“) des römischen DichtersOvid:[2]

Parcite praecipue vitia exprobrare puellis,
    Utile quae multis dissimulasse fuit.

Dasa vonvitia wirdelidiert. Neben Ovid sind in der lateinischen LiteraturTibull,Properz,Catull[3] undMartial als Verfasser von Distichen zu nennen.

Das elegische Distichon in der deutschen Dichtung

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Friedrich Rückert:Grammatische Deutschheit, Parodie in elegischen Distichen (1819)

Ein Beispiel für das elegische Distichon im Deutschen gibt neben der oben aufgeführten Schillerschen Übertragung des Thermopylen-Epigramms die Übersetzung der Ovidschen Verse:[4]

Nehmt euch vor allem in acht, die Gebrechen der Mädchen zu rügen,
    ja, es hat manchem genützt, dass er mit Fleiß sie nicht sah.

Der antike Daktylus (—◡◡) besteht aus einemelementum longum (—), also einer langen Silbe, und einemelementum biceps (◡◡), dem meist eineDoppelkürze (◡◡), oft aber auch eine lange Silbe entspricht, wodurch einSpondeus (— —) entsteht. In der deutschen Nachbildung des antiken Versfußes wird statt des im Deutschen schlecht realisierbaren Spondeus die Umsetzung des Daktylus alsTrochäus (—◡) zugelassen, mannotiert den deutschen Daktylus daher als —◡(◡). Das metrische Schema des Distichons ist im Deutschen demnach:

—◡(◡)ˌ—◡(◡)ˌ—◡(◡)ˌ—◡(◡)ˌ—◡◡ˌ—◡
—◡(◡)ˌ—◡(◡)ˌ— ‖ —◡◡ˌ—◡◡ˌ—

Erste Versuche einer Nachbildung finden sich in der deutschen Barockdichtung beiFischart,Klaj undBirken, dort noch insilbenzählender und gereimter Form, reimlos undakzentuierend dann beiGottsched undKlopstock (Die zukünftige Geliebte,Elegie). Ihren Höhepunkt fand die deutsche Distichendichtung aber in der Klassik, deren beide HauptvertreterGoethe undSchiller diese Form für ihre epigrammatischenXenien aufgriffen. DieXenien erschienen imMusen-Almanach für das Jahr 1797, in dem sich auch Schillers bekannter Merkvers zum Distichon findet:[5]

Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule,
    Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

EineParodie vonMatthias Claudius darauf lautet:[6]

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
    Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

Meist geht dieser formale Rückgriff einher mit einem bewussten Anknüpfen an die antiken literarischen Vorbilder, das Distichon gilt im Deutschen daher als „antikisierende“ Form. Berühmt sind GoethesRömische Elegien, die sich auf die elegische Liebesdichtung eines Tibull, Properz und Ovid beziehen und aus denen die folgenden vier Distichen stammen:[7]

Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages,
    Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Wird doch nicht immer geküsst, es wird vernünftig gesprochen.
    Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet
    Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand,
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer
    Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.

Weitere bekannte Beispiele aus derWeimarer Klassik sind GoethesVenezianische Epigramme, das LehrgedichtDie Metamorphose der Pflanzen und SchillersDer Spaziergang undNänie:

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
    Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Nach Goethe und Schiller sind als bedeutende Vertreter deutscher Distichendichtung zu nennen:Hölderlin (Menons Klagen um Diotima,Der Wanderer,Brod und Wein),Mörike,Geibel undAugust Graf von Platen.

Sonderformen des elegischen Distichons

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Sonderformen des elegischen Distichons sind daszäsurgereimteleoninische Distichon sowie dasChronodistichon, einChronogramm in der metrischen Form eines Distichons.

Andere Formen des Distichons

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Neben dem sehr verbreiteten elegischen Distichon aus Hexameter und Pentameter finden sich sowohl in der antiken wie der deutschen Dichtung noch andere solcher Verspaare. Dazu zählen:

Das alkmanische Distichon

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Im alkmanischen Distichon folgt auf einen Hexameter einalkmanischer Vers. Das metrische Schema:

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—
◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—

Ein Beispiel (ausJohann Heinrich Voß,AnFriederich Heinrich Jacobi):

Möge der Hirsch sich bequemen dem Joch, und der Löwe dem Scherer,
    Eingepfercht mit dem folgsamen Hausvieh

Das archilochische Distichon

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Im archilochischen Distichon folgt auf einen Hexameter ein (kleiner) archilochischer Vers. Das metrische Schema:

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—
—◡◡ˌ—◡◡ˌ—

Ein Beispiel (aus Friedrich Gottlieb Klopstock,AnEbert):

Lindernde Tränen, euch gab die Natur dem menschlichen Elend
    Weis' als Gesellinnen zu.

Im 20. Jahrhundert findet sich ein Beispiel außerhalb des strengen Bezugs auf die Antike in einem derSonette an OrpheusRainer Maria Rilkes. Die ersten beiden Verse des zwanzigsten Sonetts des zweiten Teils:

Zwischen den Sternen, wie weit; und doch, um wievieles noch weiter,
    was man am Hiesigen lernt.

Das asklepiadeische Distichon

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Im asklepiadeischen Distichon folgt auf einenzweiten Glykoneus einkleiner Asklepiadeus. Das metrische Schema:

——ˌ—◡◡—ˌ◡
——ˌ—◡◡— | —◡◡—ˌ◡

In der deutschen Dichtung wird der einleitende Spondeus regelmäßig durch einen Trochäus ersetzt; die letzte Silbe ist stets betont. Zwei Distichen dieser Art formen dievierte asklepiadeische Strophe; ein Beispiel für die gereihte Verwendung des Distichons istLudwig HöltysAn meine Freunde. Dessen Schlussdistichon:

Dass kein Tropfen des Seelengifts
    Rann aus eurem Gesang, danket zu Gott hinauf!

Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Distichenformen, bei denen auf einen längeren Vers ein kürzerer folgt, geht in asklepiadeischen Distichon der kürzere Vers voran, der längere folgt. Hölty hat den Wechsel der Verse aber in einigen Gedichten auch mit dem längeren Vers einsetzen lassen, ein Beispiel dafür ist der Anfang vonDie Schale der Vergessenheit:

Eine Schale des Stroms, welcher Vergessenheit
    Durch Elysiums Blumen rollt

Die pythiambischen Distichen

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Wird der Hexameter mit einem jambischen Zweitvers verbunden, spricht man von einem pythiambischen Distichon. Ist der Zweitvers ein jambischer Dimeter, liegt ein 1. pythiambisches Distichon vor:

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—
—ˌ◡—ˌ—ˌ◡

Ein Beispiel bietet Johann Heinrich Voß'Aufheiterung, dessen vorletztes Verspaar so lautet:

Weg mit dem Finsteren! Schau, wie die Sonn' urplötzlich den Kirchturm
    Mit rotem Abendglanz verklärt!

Ist der Zweitvers ein jambischer Trimeter, liegt ein 2. pythiambisches Distichon vor.

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—
—ˌ◡—ˌ—ˌ◡—ˌ—ˌ◡

Als Beispiel der Anfang vonKarl Wilhelm RamlersAn HerrnBernhard Rode:

Der du dem blutenden Cäsar beim Dolche des Freundes das Antlitz,
    Das noch den Mörder liebreich straft, in Purpur hüllst

Das jambische Distichon

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Im jambischen Distichon folgt auf einen jambischen Trimeter ein jambischer Dimeter.

—ˌ◡—ˌ—ˌ◡—ˌ—ˌ◡
—ˌ◡—ˌ—ˌ◡

Rudolf Alexander Schröder hat mit diesem Verspaar die Widmung seinerDeutschen Oden gestaltet, der Beginn[8]:

Wohin des Wegs, da sich der schroffe Felsensteig
    Mit schwarzen Schaudern überhüllt?

Bernhard von Lepel hat die Bewegung des Verspaares aufgelockert durch die häufige Verwendung von mitzwei schwach betonten Silben besetzten Senkungen, zwei Beispieldistichen ausDas Fest der heilgen Rosalie zu Palermo[9]:

Den Felsenweg klomm suchend bald das Volk empor
    Und fand das bleiche Gebein und trug's
In hohem, silbernem Sarge vor des Doms Altar –
    Aufjauchzte da die befreite Stadt.

Literatur

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  • Friedrich Beißner:Geschichte der deutschen Elegie. 2. Aufl. de Gruyter, Berlin 1965.
  • Walter Berger:Distichen. Lateinische Epigramme als ein humanistisches Vermächtnis. Wien 1994.
  • Sandro Boldrini:Prosodie und Metrik der Römer. Teubner, Stuttgart & Leipzig 1999,ISBN 3-519-07443-5, S. 97f.
  • Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.):Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Aufl. Metzler, Stuttgart 2007,ISBN 978-3-476-01612-6, S. 161.
  • Daniel Frey:Bissige Tränen. Eine Untersuchung über Elegie und Epigramm seit den Anfängen bis Bertolt Brecht und Peter Huchel. Königshausen & Neumann, Würzburg 1995,ISBN 3-88479-985-1.
  • Otto Knörrich:Lexikon lyrischer Formen (=Kröners Taschenausgabe. Band 479). 2., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005,ISBN 3-520-47902-8, S. 44f.
  • Marion Lausberg:Das Einzeldistichon. Studien zum antiken Epigramm. München 1982.
  • Burkhard Moenninghoff:Distichon. In:Klaus Weimar (Hrsg.):Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1:A–G. De Gruyter, Berlin / New York 1997,ISBN 978-3-11-010896-5,S. 379 f.
  • Ludwig Strauss:Zur Struktur des deutschen Distichons. In:Trivium 6 (1948), S. 52–83.
  • Carl Wefelmeier:Epilegomena zum Elegischen Distichon. In:Hermes 124. Bd., H. 2 (1996), S. 140–149.

Weblinks

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Wiktionary: Distichon – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. D. L. Page:Further Greek Epigrams. Epigrams before A.D. 50 from the Greek Anthology and other sources, not included in ‘Hellenistic Epigrams’ or ‘The Garland of Philip’. Revised and prepared for publication byR. D. Dawe andJ. Diggle. Cambridge University Press, Cambridge usw. 1981,S. 231–234 (englisch, altgriechisch). 
  2. OvidArs amatoria II,640 f.
  3. Otto Weinreich:Die Distichen des Catull. Tübingen 1926.
  4. Übersetzung vonWilhelm Hertzberg.
  5. Schiller:Das Distichon. In:Musen-Almanach für das Jahr 1797. Cotta, Tübingen 1796, S. 67.
  6. Matthias Claudius:Der berühmte Almanach. In:Urians Nachricht von der neuen Aufklärung. Hamburg 1797,S. 16.
  7. Johann Wolfgang von Goethe:Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Berlin 1960 ff, Bd. 1, S. 169.Römische Elegien, 5. Elegie, v. 11–18,online.
  8. Rudolf Alexander Schröder: Gesammelte Werke in fünf Bänden, erster Band: Die Gedichte, Suhrkamp, Berlin und Frankfurt am Main 1952, S. 11.
  9. Bernhard von Lepel: Gedichte, Hertz, Berlin 1866, S. 182.
Normdaten (Sachbegriff):GND:4150240-1(lobid,OGND,AKS)
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