AlsDritte Französische Republik (französischTroisième République française) bezeichnet man denfranzösischen Staat zwischen 1870 und 1940. Der offizielle Staatsname warRépublique française.
Die Niederlage in derSchlacht von Sedan imDeutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die damit verbundene Gefangennahme KaiserNapoléons III. führte am 4. September 1870 in Paris zurAusrufung einer „temporären“Republik. Nach dem Waffenstillstand mit Deutschland wurde im Februar 1871 eine verfassunggebende Nationalversammlung gewählt, in der Monarchisten eine deutliche Mehrheit hatten. Diese waren jedoch in drei Lager gespalten, die jeweils eine andere Dynastie zurück auf den Thron bringen wollten: Legitimisten (Anhänger des bis zur Julirevolution 1830 regierendenHauses Bourbon),Orléanisten (in der Tradition des „Bürgerkönigs“Louis-Philippe) undBonapartisten. Überzeugte Republikaner stellten weniger als ein Viertel der Abgeordneten. Der zum provisorischen Staatsoberhaupt gewählte LiberaleAdolphe Thiers (von Februar bis August 1871 Chef der Exekutivgewalt, dann bis 1873 erster Präsident der Republik) versprach, die Frage der Staatsform zunächst offen zu lassen.
Die Verfassung schuf eineLegislative mit Zwei-Kammer-Parlament (Abgeordnetenkammer undSenat), das gemeinsam alsNationalversammlung einen Präsidenten mit starker Stellung gegenüber der Regierung auf sieben Jahre wählte. Die Stellung des Präsidenten war nicht ganz so stark wie später in dergaullistischen Konzeption für dieFünfte Republik. DerMinisterpräsident war abhängig von der Mehrheit in der Abgeordnetenkammer; die Kabinette wechselten recht häufig.
Außenpolitisch hatte es der neue Staat zunächst schwer. Der Kanzler desDeutschen Reiches,Otto von Bismarck, sorgte bis 1890 mit seinerBündnispolitik für eine außenpolitische Isolierung Frankreichs, das als einzige großeRepublik in Europa mit dem Misstrauen dermonarchischen Mächte zu rechnen hatte.
WeilElsaß-Lothringen nach dem Deutsch-Französischen Krieg an Deutschland gefallen war, lag dieGrenze zwischen Deutschland und Frankreich nun westlicher als zuvor. Im Jahr 1874 begannen die Franzosen mit dem Bau derBarrière de fer („Eiserne Sperre“), die aus zahlreichenFestungen,Forts und anderen Verteidigungsbauwerken bestand. In der Dritten Republik war derRevanchismus weit verbreitet; viele Politiker waren zu finanziellen und militärischen Anstrengungen für die Rückeroberung Elsaß-Lothringens bereit.
Boulangismus, Dreyfus-Affäre und „radikale“ Republik
Ab 1876 hatten die Republikaner die parlamentarische Mehrheit, nach den Wahlen 1881 sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Sie zwangen den royalistischen Staatspräsidenten Mac-Mahon 1879 zum Rücktritt und schrieben die zunächst nur provisorische Republik 1883 dauerhaft als Staatsform fest.
Das politische Spektrum der Dritten Republik hatte die Tendenz, immer weiter nach links zu rücken, wofürAlbert Thibaudet den BegriffSinistrisme prägte. Die verschiedenen monarchistischen Strömungen, die in der Nationalversammlung 1871 noch eine deutliche Mehrheit hatten, verloren sukzessive an Bedeutung. Die Anhänger der Republik spalteten sich inmoderate (oder „opportunistische“) undradikale (oder „unnachgiebige“) Republikaner. Wer 1871 noch ganz links stand, weil er für die republikanische Staatsform eintrat, konnte später schon als konservativ gelten. Ab den 1890er-Jahren gewannen auch dieSozialisten parlamentarische Bedeutung.
Ende der 1880er-Jahre hatte die Bewegung desBoulangismus, d. h. die Anhänger des als „General Revanche“ bekannten KriegsministersGeorges Boulanger große Popularität. Dieser schlossen sich Monarchisten, Katholiken, Antisemiten, aber auch radikale Republikaner und Sozialisten an. Die Affäre um den zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilten jüdischen HauptmannAlfred Dreyfus spaltete die französische Öffentlichkeit (und auch das republikanische Lager) von 1894 bis zu seinem endgültigen Freispruch 1906. Im Februar 1899 scheiterte ein Putschversuch der nationalistisch-antisemitischenLigue des Patriotes unterPaul Déroulède.
Deutsche Truppen besetzten bis zurSchlacht an der Marne einen beträchtlichen Teil des wirtschaftlich bedeutenden Nordostens Frankreichs. Erhebliche Zerstörungen waren die Folge und zahlreiche Bewohner flüchteten. Die Regierung (unter StaatspräsidentRaymond Poincaré) verlegte ihren Sitz von Anfang September bis Dezember 1914 nachBordeaux.
Im Kriegsverlauf an derWestfront erlitt die französische Armee bei mehreren erfolglosen Versuchen, die deutsche Front zu durchbrechen, erhebliche Verluste. Zu einem Symbol wurde die verlustreicheVerteidigung von Verdun 1916. Im Frühjahr 1917 kam es nach einer weiteren erfolglosenOffensive an der Aisne verbreitetzu Meutereien. Am 6. April 1917traten die USA in den Krieg ein. Im November 1917 wurdeGeorges Clemenceau zum Ministerpräsidenten gewählt. Im November 1918 beendete derWaffenstillstand von Compiègne (1918) den Krieg. Von den fast 8,1 Millionen Franzosen im Kriegsdienst waren zwischen 1,3 und 1,5 Millionen (16 bis 18,5 Prozent) gefallen.
Frankreich diktierte als Siegermacht den geschlagenenMittelmächten in denPariser Vorortverträgen harte Friedensbedingungen. Elsass-Lothringen kam wieder zu Frankreich. Ökonomisch gesehen war Frankreich einer der großen Verlierer, da es massive Verwüstungen erlitten und sich hoch verschuldet hatte. Die Kriegsanleihen betrugen 5 Mrd. Francs, Anleihen in Höhe von 15 Mrd. Francs an Russland und das Osmanische Reich waren verloren.[2]
Nach dem gewonnenen Krieg ging die Sorge um, Frankreich würde mit seinen empfindlichen demographischen Verlusten dem Versuch einer deutschenRevanche geschwächt gegenüberstehen. Tatsächlich wurden die Bevölkerungsverluste in den folgenden Jahren aber durchEinwanderung, die nach der Überwindung der Nachkriegsdepression liberal gehandhabt wurde, mehr als ausgeglichen: Fast zwei Millionen Menschen wanderten in der Zwischenkriegszeit nach Frankreich ein.[3]
Bei den Wahlen zurAbgeordnetenkammer im November 1919 verlor das Kabinett Clemenceau seine Mehrheit. Ein „Nationaler Block“(Bloc national), geeint in seiner Politik der Härte gegenüber Deutschland, bildete die Regierung und regierte bis 1924. Wichtige außenpolitische Themen waren diedeutschen Reparationszahlungen und der Aufbau einesCordon sanitaire zwischen Deutschland undSowjetrussland. Im Zuge seiner Politik der „Sicherheit am Rhein“ betrieb MinisterpräsidentPoincaré 1923 dieRuhrbesetzung, die schließlich in denDawes-Plan mündete. Im Mai 1924 gewann der RadikalsozialistÉdouard Herriot mit einem Bündnis linker Parteien, demCartel des gauches, die Wahlen, weshalb Poincarés Politik als gescheitert bezeichnet wird. Andere Historiker weisen darauf hin, dass Frankreich nun erstmals regelmäßige Reparationseinnahmen erhielt, weshalb Poincarés Bilanz durchaus nicht gänzlich negativ sei.[4]
Von 1924 an wurde die schleichendeInflation des Franc als krisenhaft empfunden, die auf die Kriegsfinanzierung der Jahre 1914 bis 1918 zurückzuführen war. Die Regierung Herriot scheiterte an der Stabilisierung der Währung, die erst 1926 der konservativen Regierung Poincarés gelang, der als Premierminister und Finanzminister in einer Person eine harteAusteritätspolitik durchsetzte. Im Oktober 1925 kam es im Rahmen von Verhandlungen in Locarno zu einer deutsch-französischen Annäherung (sieheVerträge von Locarno). Für Frankreich nahmAristide Briand teil (er war 1925 bis 1929 Außenminister in 14 aufeinanderfolgenden Regierungen), für DeutschlandGustav Stresemann.
Die folgenden Jahre waren Krisenjahre mit schnell wechselnden Regierungen. Ab 1931 litt Frankreich unter derWeltwirtschaftskrise, die in Frankreich weniger stark ausgeprägt war als etwa in Deutschland, dafür aber länger andauerte. Am 6. Februar 1934 beteiligte sich diefaschistische BewegungCroix de Feu an einer antiparlamentarischenStraßenschlacht, danach tratÉdouard Daladier zurück.
Gaston Doumergue, Präsident der Jahre 1924 bis 1931, bildete eine „Regierung der nationalen Einheit“ (französischUnion Nationale), die ohne Zustimmung derKommunisten und Sozialisten auskommen musste. Im Frühjahr 1936 wurden die Parlamentswahlen von der neu gebildetenFront populaire aus Sozialisten, Kommunisten undRadikalsozialisten mit derParole „Brot, Frieden, Freiheit“ gewonnen. Der SozialistLéon Blum wurde Juni 1936 bis Juni 1937 und im März/April 1938 Ministerpräsident. Beim ersten Mal wurdeCamille Chautemps sein Nachfolger, beim zweiten MalÉdouard Daladier (10. April 1938 bis 21. März 1940). DieVolksfront verfolgte konsequent das Prinzip der Nichteinmischung in denSpanischen Bürgerkrieg und der „kollektiven Sicherheit“. Gegenüber demNS-Staat praktizierte sie eineAppeasement-Politik.
Frankreich war zu Beginn desZweiten Weltkrieges militärisch relativ unvorbereitet: In seinerStrategie war es bisher davon ausgegangen, einen deutschen Angriff mit derMaginot-Linie aufzuhalten und dann mit Hilfe der Verbündeten im Osten das Deutsche Reich in einenZweifrontenkrieg zu verwickeln. Nun stand dieTschechoslowakei als Verbündeter nicht mehr zur Verfügung, undPolen brauchte selber Hilfe. Dazu hätte es einer offensiven Ausrichtung der Streitkräfte bedurft, für die derPanzeroffizierCharles de Gaulle seit 1934 geworben hatte. Vergeblich, Frankreich blieb bei seiner Defensivstrategie und war daher militärisch nicht in der Lage, dem Verbündeten mit einem Offensivstoß über den Rhein zu Hilfe zu kommen.[5]
Die französische Armee blieb daher bis zur deutschenBesetzung Belgiens am 10. Mai 1940 in der Defensive („Sitzkrieg“) und überschätzte ihre ab etwa 1930 gebaute Maginot-Linie, ein aus einer Linie vonFestungswerken bestehendes Verteidigungssystem.
Besetztes Frankreich und Vichy-Regime
Am 10. Mai 1940 begann dieWehrmacht denWestfeldzug mit einem Angriff auf dieneutralen StaatenNiederlande,Belgien undLuxemburg. Die Niederlande kapitulierten am 14. Mai; Belgien am 28. Mai. Teile der französischen Armee und dieBritish Expeditionary Force (BEF) rückten in Belgien vor. Sie wurden vomSichelschnittplan der Deutschen überrascht; die BEF wurdein Dünkirchen eingekesselt und konnte (aber nur unter Zurücklassung der meisten Ausrüstung) in derOperation Dynamo zu großen Teilen gerettet werden. Am 5. Juni begann die Wehrmacht im Zuge desAngriffs auf Frankreich mit der abschließenden Offensive; der französische Widerstand ließ schnell nach. Am 14. Juni 1940 besetzten deutsche Truppen Paris; die französischen Truppen waren vorher abgezogen und Parisoffene Stadt. Eine völlige Niederlage der französischen Armee zeichnete sich ab. Nach dem Rücktritt des MinisterpräsidentenPaul Reynaud beauftragte StaatspräsidentAlbert Lebrun am 16. Juni 1940Marschall Pétain mit der Regierungsbildung und mit Waffenstillstandsverhandlungen. Hitler konnte den Besiegten die Bedingungen diktieren; derWaffenstillstand von Compiègne (22. Juni 1940) war de facto eineKapitulation gegenüber dem Deutschen Reich.
Etwa sechs Zehntel Frankreichs(Zone occupée) kamen unterdeutsche Besatzung (siehe Karte).Philippe Pétain gründete am 11. Juli 1940 inVichy denÉtat français (französisch fürFranzösischer Staat). Am Tag zuvor hatte die in Vichy versammelte Nationalversammlung ihn mit demVerfassungsgesetz vom 10. Juli 1940 dazu bevollmächtigt.[6] Damit endete die Dritte Republik.
1875 waren drei Verfassungsgesetze angenommen (Verfassungsgesetz über die Organisation der französischen Staatsgewalt,Verfassungsgesetz über die Organisation des Senates,Verfassungsgesetz über die Beziehungen der französischen Staatsgewalten untereinander), es galt also keine einheitliche Verfassung im eigentlichen Sinne.[7]
Die Legislative wurde in zwei Kammern geteilt, die zusammen ein Parlament(Assemblée Nationale) bildeten(sieheZweikammersystem). DieChambre des Députés, dieAbgeordnetenkammer mit mehr als 600 Abgeordneten, wurde durch ein Allgemeinwahlrecht gewählt. DerSenat (300 Senatoren, gewählt für neun Jahre) wurde alle drei Jahre in einem Drittel neu gewählt. Die Mitglieder des Senats wurden von den Wahlkomitees (collèges électoraux) der Départements oder der Dorfgemeinschaften gewählt.
Das Haupt der Exekutive war der für sieben Jahre durch die Assemblée Nationale gewählte Präsident (Président de la République). Er hatte selbst keine Haftbarkeit und alle seine Aktivitäten mussten von einem Minister beglaubigt werden. Seine einzige Macht war zu entscheiden, wer ein neues Kabinett bilden sollte. Die Regierung war verantwortlich gegenüber dem Abgeordnetenhaus und dem Senat.
Münze aus der Zeit der Dritten Republik (1936). Der Ährenkranz und die Füllhörner sollen Wohlstand und Überfluss vermitteln.
Die III. Republik war gekennzeichnet von einer Reihe von Konflikten, Krisen und Skandalen. So schien 1889 einPutsch durch GeneralGeorges Boulanger zu drohen, der sich später erschoss. Im gleichen Jahr erschütterte derPanamaskandal die Republik und in den 1890er-Jahren führte dieDreyfus-Affäre erst an den Rand eines Krieges mit Deutschland und dann an den Rand eines Bürgerkrieges zwischen Nationalisten – die eine Revision desHochverratsurteils gegenAlfred Dreyfus als Angriff gegen die französische Armee ansahen – und Republikanern. Als eine Konsequenz aus der Dreyfus-Affäre wurde 1905 dasGesetz zur Trennung von Kirche und Staat angenommen, wodurch die vollkommeneTrennung zwischen Staat und religiösen Institutionen – französischla laïcité, deutschLaizismus – in derfranzösischen Verfassung verankert wurde. In derFaschoda-Krise von 1898 kollidierten die kolonialen Ansprüche von Frankreich und Großbritannien; ein militärischer Konflikt beider Staaten in Afrika (und anschließend möglicherweise in Europa) konnte befürchtet werden.
Hinsichtlich der Zahl seiner Regierungen war Frankreich wesentlich instabiler als Deutschland oder Großbritannien. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Dritten Republik 1940 gab es siebenundzwanzig französische Kabinette, in Deutschland vierzehn, in England sieben.[8]
William Fortescue:The Third Republic In France 1870–1940. Conflicts and Continuities. Routledge, London 2000,ISBN 0-415-16945-3.
Hans-Jürgen Heimsoeth:Der Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik. Frankreich während der »drôle de guerre« 1939/1940. (Pariser Historische Studien, 30). Bouvier, Bonn 1990,ISBN 3-416-80582-8.(Digitalisat)
William L. Shirer:Der Zusammenbruch Frankreichs. Aufstieg und Fall der Dritten Republik. („The collapse of the third republic“, 1969) Heyne, München 1978,ISBN 3-453-48040-6. (2 Bde.)
↑Youssef Cassis:Metropolen des Kapitals. Murmann, Hamburg 2007,ISBN 978-3-938017-95-1,S.244f.
↑Dirk Hoerder:Migrationen und Zugehörigkeiten. In: Emily S. Rosenberg (Hrsg.):C.H. Beck/Harvard UP: Geschichte der Welt, Bd. 5: 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege. C.H. Beck, München 2012,ISBN 978-3-406-64105-3, S. 432–588, hier S. 562.
↑Jacques Bariéty:Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. In: derselbe undRaymond Poidevin:Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975. C.H. Beck, München 1982, S. 293–422, hier 339 f.
↑Jean Doise, Maurice Vaïsse:Diplomatie et outil militaire (1871–1991). Éditions du Seuil, Paris 1992, S. 404–414.