
Diffusionismus (vonlateinischdiffundere „ausgießen, verbreiten“: Theorie der Kulturausbreitung) bezeichnet eine Reihesozial- undkulturwissenschaftlicherTheorien zur Erklärungkultureller Entwicklung und Ausbreitung in Zusammenhang mit Ähnlichkeiten zwischen benachbarten und auch weit voneinander entfernt liegendenKulturen (Gesellschaften). Eine Grundannahme dieser Forschungsansätze besagt, dass kulturelle Neuerungen (Innovationen) weltweit nur seltenerfunden werden und sich anschließend zu anderen Kulturen ausbreiten. Entsprechend werden Gleichheiten und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kulturen auf ihren Kontakt zueinander zurückgeführt (siehe auchKulturtransfer undHomologie).[1]

Der Diffusionismus entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Theorien desEvolutionismus (der höhergerichteten Gesellschaftsentwicklung) und spielte bis in die 1920er Jahre hinein als bedeutender Theoriestrang derSozial- undKulturanthropologie eine wichtige Rolle in der deutschsprachigen Völkerkunde (Ethnologie).[2]Imangelsächsischen Sprachraum wurde dieser Theorieansatz alsGerman School bezeichnet.[3]
Als Begründer des Diffusionismus gilt der deutsche Zoologe und GeographFriedrich Ratzel (1844–1904).[2][4]
Ein Vertreter des klassischen Diffusionismus war der deutscheVölkerkundlerLeo Frobenius als Begründer derKulturkreislehre (erstmals 1898). Sein SchülerHermann Baumann ging von einer wechselseitigen Beeinflussung der Kulturen gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. im Gebiet zwischenNil undIndus aus, die einen Weltmythos schuf, der sich später in Wellen in verschiedene Regionen verbreitete.
Weitere Vertreter waren vor allem die sich in den 1920er Jahren entwickelndeWiener Schule der Völkerkunde mitWilhelm Schmidt und seinem SchülerWilhelm Koppers, außerdem die MuseumsethnologenBernhard Ankermann,Fritz Graebner,William Halse Rivers undClark Wissler. DieWiener Schule verwendete die grundlegenden Begriffe „Urkultur, Primärkultur, Sekundärkultur“, wobei die Urkultur als wertvollste angesehen wurde, die so genannten „Kulturvölker“ im Vergleich dazu alsdegeneriert.[5]
Prominente Vertreter des Diffusionismus im Bereich derArchäologie, der sogenanntenKulturhistorischen Archäologie, warenGustaf Kossinna (1858–1931) undVere Gordon Childe (1892–1957), die versuchten, den Ausbreitungsprozess und die Wanderungen der frühenIndoeuropäer nachzuzeichnen.
Die Diffusionisten sahen kulturelleInnovationen als relativ seltene Ereignisse an und schätzten die Erfindungskraft des Menschen und den Einfluss von Umweltfaktoren aufkulturelle Techniken als allgemein eher gering ein. Die großen Kulturleistungen schrieben sie einigen wenigen kreativen Völkern zu – durchaus stimmig zum Hintergrund desGeniekults dieser Zeit und Vorstellungen von der Überlegenheit bestimmterRassen. Zur Rekonstruktion der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte griffen sie auf räumliche Erklärungsmuster zurück: „Aus der Verbreitung von Kulturelementen im Raum erhoffte man sich Rückschlüsse auf die geographischen Bewegungen in der Zeit und so auf die Geschichte der Völker.“[5]Die Übertragung kultureller Elemente oder Phänomene geschah nach dieser Theorie durchVölkerwanderungen, Handels- und Reisekontakte, durchMissionierung oder durch die Eroberung durch ein fremdesVolk. Oft war der extreme Diffusionismus – auch bei manchen Nachfolgern Friedrich Ratzels – mitrassistischen oderchristlich-fundamentalistischen Bedeutungsinhalten verbunden,[6] da er zu einer „Globalisierung des Eigenen“ neigte,[7] sowie dazu, die abendländische (oder später dieUS-)Kultur alsZivilisationsbringer gegenüber den „verharrenden“ außereuropäischen Gesellschaften zu verabsolutieren (siehe auchEurozentrismus).
Der amerikanischeAnthropologeRoland Burrage Dixon untersuchte die Schriften der frühen Diffusionisten 1928 in seinem WerkThe Building of Culture. Er sah Kulturen als ganzheitliche statische Einheiten an, die sich nur durch Wanderung verändern, eine Position, die keine Nachfolger fand. Im Gegensatz dazu betrachtete der dänische EthnographThomas Thomsen (1870–1941), der Feldforschung bei den Inuit in Grönland und Kanada betrieb, Kulturen als Ansammlung von materiellen Elementen und Artefakten, die getrennt „wandern“ können. Jeder Vergleich der Entwicklung von Kulturen müsse auf der Analyse ihrer einzelnen Elemente oder der Komplexe solcher Elemente beruhen. Eine ähnliche Position nahmKaj Birket-Smith ein, der die Verbreitung der zirkumpolaren Kultur derRentierzüchter untersuchte und sowohl auf Wanderungen als auch auf die Diffusion einzelner, teils seit dem Paläolithikum existierender Materialien und Artefakte zurückführte. Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einem Kulturelement um eine lokale Innovation oder um das Resultat eines Diffusionsprozesses handle, griff auch Birket-Smith auf geographische Aspekte zurück.[8]
Die meisten Vertreter des Diffusionismus setzten keine einzelne Urkultur, sondern lediglich eine begrenzte Anzahl von Kultur-Zentren voraus. Theorien, die davon ausgehen, dass sich alle kulturellen und technischen Innovationen voneinem einzigen Ausgangspunkt herleiten lassen, werden auch alsHyperdiffusionismus bezeichnet.[9] Zu dessen Anhängern gehörteAnne Walbank Buckland.
Kritiker des Diffusionismus wieAdolf Bastian verwiesen auf die große Ähnlichkeit der „Elementargedanken“ vieler Völker, eine Vorstellung, die auf dieArchetypenC. G. Jungs verweist.
In ihren ursprünglichen Fachgebieten (Anthropologie undEthnologie,Archäologie undKulturgeographie) werden diffusionistische Theorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach wie vor kaum anerkannt, teilweise auchtabuisiert.[10]
Alsheliozentrischer Diffusionismus werden historische Theorien bezeichnet, deren Vertreter dasAlte Ägypten als Wiege der menschlichen Kultur sahen. So habe die ägyptische Kultur eine Reihe vonZivilisationen befruchtet, die alle die Sonne als Hauptgottheit verehren.[11] Vertreter waren beispielsweise der AustralierGrafton Elliot Smith (1871–1937) und der BriteWilliam James Perry (1887–1949).
Dem modernen Diffusionismus werden eine Reihe unterschiedlicher Theorien zugeordnet, die nicht mehr vorrangig der Ausbreitung dominanter Kulturen durch Eroberung oder Landnahme große Bedeutung als Treibkraft kultureller Entwicklung beimessen, sondern der Kontaktaufnahme undInteraktion früher isolierter Kulturen auch über weite Räume hinweg, beispielsweise durch die Überquerung des Pazifik. Ein bekannter Vertreter war der norwegische ForscherThor Heyerdahl (1914–2002).
Gemäßigt diffusionistische Theorien vertrat der britische marxistische ArchäologietheoretikerVere Gordon Childe (1892–1957), der zunächst den TheorienGustaf Kossinnas folgte, sie dann aber wegen ihrer rassistischen Bedeutungsinhalte kritisierte und der internen Entwicklungsdynamik und Differenzierung der frühen Gesellschaften eine größere Bedeutung im Vergleich zu Wanderungen und asymmetrischen Kulturkontakten beimaß. Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur waren für ihn keine dinglichen Realitäten, sondern geistige Sinnzusammenhänge oder Ordnungsstrukturen, deren Grundlagen zu erfassen seien.[12] In Abgrenzung zu linear-rassistischen Evolutionstheorien benutzte Childe die Begriffeneolithische Revolution undurbane Revolution.[13]
Im Gegensatz zum Diffusionismus stehen Theorien dersoziokulturellen Evolution, desEvolutionismus und derMemetik (Verbreitung von Bewusstseinsinhalten). Eine mittlere Position zwischen diffusionistischen und evolutionistischen Theorien vertritt das Konzept derKontaktinnovation an der Grenzlinie zwischen zwei Kulturen, das beispielsweise in derSprachwissenschaft undArchäologie eine Rolle spielt.[14][15]
So sind bspw. alle diffusionstheoretischen Versuche fehlgeschlagen, die Entstehung der alten westafrikanischen Königreiche auf Diffusionsprozesse der Kultur desReichs von Kusch zurückzuführen, etwa durch die Verbreitung der Staatsidee durch berittene Kriegereliten, während sie John Donnelly Fage und Roland A. Oliver mit den fruchtbaren Kontakten zwischen Ackerbauern und Nomaden erklären.[16] Dabei wirken interkulturelle Unterschiede zwar als Hemmnisse der Diffusion der jeweiligen Kulturelelemente, befördern aber das Tempo vonErfindungen und Neuerungen an den Grenzlinien zwischen Kulturen und bewirkenemergente Eigenschaften (spontane Herausbildungen). Unklar ist, ob und wie solche Diffusionsprozesse ohne sprachliche Verständigung möglich sind.
Unter dem Gesichtspunkt der Verbreitung von Innovationen hat sich die Beschäftigung mit kulturellen Diffusionsprozessen in angrenzendenFachwissenschaften zu einem selbstverständlichen Gegenstand der Forschung entwickelt, beispielsweiseDiffusionstheorien bezüglich sozialer Systeme oder Märkte.[17]Dazu gehören vor allem dieAgrarökonomie undAgrarsoziologie, dieWirtschaftsgeographie,Politikwissenschaft (Diffusion),Erziehungswissenschaft und dieGeschichtswissenschaft.[18] Mit Ausnahme Letzterer schließt die Forschung auch die Betrachtung vonGesellschaften unter der Fragestellung ein, wie sie dahingehend beeinflusst werden können,Innovationen vorzunehmen, sowie die Vorhersage der Ergebnisse solcher Neuerungen (beispielsweise bezüglichTechnologietransfer).[9]