
DieDeutsche Fortschrittspartei (DFP, „Fortschritt“) wurde am 6. Juni 1861 von liberalen Abgeordneten impreußischen Abgeordnetenhaus als erstedeutsche Programmpartei gegründet. Sie war die erste deutsche Partei mit einem festenParteiprogramm.[1]
Sie stand impreußischen Verfassungskonflikt in strikter Opposition zur PolitikOtto von Bismarcks. Im Zuge derReichsgründung näherte sie sich Bismarck an, etwa während desKulturkampfs, um später wieder auf deutliche Distanz zu gehen. Die Fortschrittspartei fusionierte 1884 mit derLiberalen Vereinigung zurDeutschen Freisinnigen Partei.[2]
DerParteigründung war eine Abspaltung von elfAbgeordneten derFraktion Vincke im preußischen Abgeordnetenhaus vorausgegangen. Zu den Abtrünnigen, die z. T. spöttisch „Junglitauen“ genannt wurden, weil ein Großteil von ihnen aus den östlichenProvinzen Preußens stammte, zählten unter anderenMax von Forckenbeck undLeopold von Hoverbeck. Sie forderten eine konsequentereliberalePolitik und legten im Januar 1861 in einerFraktionssitzung ein entsprechendesParteiprogramm vor, das jedoch von der Fraktionsmehrheit abgelehnt wurde. Daraufhin trat jene Gruppierung in Verhandlungen mit Liberalen undDemokraten inBerlin, um die Gründung einer nationalen Partei zu forcieren. Hinzu kamen auch einige Mitglieder desDeutschen Nationalvereins, die seinerzeit keinemParlament angehörten, wie der spätere NobelpreisträgerTheodor Mommsen,Hermann Schulze-Delitzsch,Rudolf Virchow undHans Victor von Unruh. AuchPaul Langerhans,Carl Philipp Cetto undFranz Duncker gehörten zu den Mitbegründern. Den Abschluss dieser Konstituierungsphase bildete die Verabschiedung des Gründungsprogramms der Deutschen Fortschrittspartei am 6. Juni 1861.
Nach dem preußischen Vorbild schlossen sich bald auch in einer Reihe von Staaten desDeutschen Bunds Liberale und Demokraten zu einzelstaatlichen Fortschrittsparteien zusammen. Bereits im Dezember 1861 machteWürttemberg den Anfang, gefolgt vonHessen im August 1862,Nassau im Februar 1863,Bayern im März 1863 sowieHannover undSachsen im April 1863. Später traten einzelne Mitglieder dieser Schwesterparteien imnorddeutschen bzw.gesamtdeutschen Reichstag der durch die preußischen Gesinnungsgenossen dominierten Fortschrittsfraktion bei.
Die DFP sprach sich in ihrem Gründungsprogramm[3] aus dem Jahr 1861 vor allem fürrechtsstaatliche Reformen aus. Sie forderteunabhängige Richter und gleichen Zugang allerBürger zu denGerichten. Zur Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit sollte die Abhängigkeit derStaatsanwaltschaft von der Regierung – wie diese bis heute inDeutschland besteht – abgeschafft werden. Darüber hinaus solltenpolitische Straftaten nicht mehr von Richtern im Staatsdienst, sondern wieder von normalen Bürgern im Rahmen derGeschworenengerichte beurteilt werden.
Die Fortschrittspartei forderte die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament und setzte sich für die Stärkung derkommunalen Selbstverwaltung in den Gemeinden, Kreisen und Provinzen sowie die staatsbürgerlichen Gleichberechtigung unter „Aufhebung desständischen Prinzips und der gutsherrlichenPolizei“ ein.
Die DFP sprach sich für die Gleichberechtigung allerReligionsgemeinschaften aus und forderte gleichzeitig dieTrennung von Kirche und Staat, insbesondere mit Blick auf den Schulunterricht und Eheschließungen.
Die Gewerbegesetzgebung sollte liberalisiert werden, damit „die wirtschaftlichen Kräfte des Landes gleichzeitig entfesselt werden“.
Einsparungen im Staatshaushalt wurden insbesondere bei den Militärausgaben gefordert. Die Landesverteidigung sollte sich primär auf eine Milizarmee (Landwehr) und weniger aufBerufssoldaten stützen.

Die Fortschrittspartei war die erste moderne politische Partei in Deutschland. Sie folgte einem formulierten Programm und hat sich danach einen Namen gegeben. Nach außen gegenüber denWählern trat man nunmehr mit gleichen Forderungen auf, während es bislang häufig üblich war, dass jeder Bewerber sein eigenes politisches Programm formuliert hatte. Bislang hatte es nur Fraktionen gegeben, die entweder nach den führenden Personen oder der Sitzordnung im Parlament benannt waren. Neu war auch, dass die Partei beanspruchte einegesamtdeutsche Partei zu sein.
Trotz des Anspruchs eine moderne Partei zu sein, wurde die Ausgestaltung nicht zuletzt von der restriktivenVereinsgesetzgebung behindert. Regelrechte Parteimitgliedschaften waren etwa nicht möglich. Es entstand ein Zentralwahlkomitee, dasWilhelm Loewe bis 1871 leitete. Die Angehörigen des Komitees waren aus vereinsrechtlichen Gründen zunächst die einzigen offiziellen Mitglieder der Partei. Im Jahr 1867 bildete sich ein Zentralwahlverein. Dieser spielte über Berlin hinaus jedoch keine Rolle. 1873 wurde er unter Führung vonEugen Richter so umgebildet, dass ihm die in Berlin wohnenden oder anwesenden Abgeordneten des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags angehörten. Dieser Zentralwahlverein befand etwa über Wahlaufrufe, beschlossWahlbündnisse, empfahl den Organisationen auf der Ebene derWahlkreise Kandidaten und förderte die Gründung von lokalen oder regionalen Organisationen.
Anfangs hatten der Nationalverein und lokale Bürgervereine die Aufstellung der Kandidaten unterstützt. Später bildeten sich mehrere Typen der Organisation heraus: Komitee, Volksversammlung und Wahlverein. Zunächst dominierte das Komitee aus regionalen oder lokalenHonoratioren. Eine größere Wahlpropaganda wurde selten organisiert. Nachdem sich diese Komitees nach der Wahl anfangs aufgelöst hatten, begann mit der Zeit eine Institutionalisierung. Etwa seit dem Beginn der 1880er Jahre gab es in fast allen Wahlkreisen vor allem in denGroßstädten feste Komitees. In den Kleinstädten und auf dem Land gab es Vertrauensmänner aus den lokalen Honoratioren. In einigen Städten, insbesondere in Berlin und großen nord- und ostdeutschen Städten, gab es in Anknüpfung an dieRevolution von 1848 Volksversammlungen zur Wahl der Parlamentskandidaten. Der politische Einfluss war unterschiedlich. Teilweise waren sie reine Akklamationsorgane für längst von Honoratioren beschlossene Entscheidungen. In Berlin aber übten die Versammlungen teilweise erheblichen Einfluss aus. Das Prinzip der Volksversammlungen war solange funktionsfähig, wie die Fortschrittspartei sich als alleinige Vertretung des Volkes bezeichnen konnte. Nach der Bildung weiterer Parteien konnte dies nicht mehr funktionieren.
Im Laufe der Zeit entstanden lokale und regionale Wahlvereine. Allerdings blieb die Parteimitgliedschaft zunächst auf wenige führende Persönlichkeiten beschränkt. Unter dem Eindruck wachsender politischer Konkurrenz drängte insbesondere Eugen Richter auf eine Ausweitung der Wahlvereine. Diese hatten etwa 100 bis 200 Mitglieder. Es gab nunmehr Vereinsvorstände, die über den Kurs vor Ort bestimmten. Meist waren die Aktivitäten außerhalb der Wahlkämpfe relativ gering. Dies änderte sich in den 1870er Jahren.
Die Partei hatte ihren Schwerpunkt imBürgertum. Von 1861 bis 1866 war sie die stärksteFraktion im preußischen Abgeordnetenhaus. Sie hatte 1862 104, 1862/63 133, 1863/64 141 Mitglieder.
Die Partei lehnte die Anhebung der preußischen Militärausgaben ab. Daraus entstand der preußische Verfassungskonflikt. Damit standen sie inOpposition zumneuen preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. DessenLückentheorie und sein Regieren ohne vom Parlament verabschiedeten Haushalt sah die Partei als Bruch der Verfassung an.
Das Festhalten an dieser Position führte im Zuge des für Preußen 1866 siegreichenKrieges zu einem Stimmungsumschwung. Die Partei verlor zahlreiche Wähler und die Zahl der Abgeordneten sank 1866 auf 83 Mitglieder. In der Partei wuchs die Zahl derjenigen Abgeordneten, denen meist aus ökonomischen Gründen die politische Einheit wichtiger war als das Beharren auf dem bisherigen Rechtsstandpunkt. Die Mehrheit der Fraktion billigte 1866 dieIndemnitätsvorlage.[4] Damit gab die Partei ihren bisherigen Oppositionskurs faktisch auf. Ein Großteil derjenigen, die für eine Zusammenarbeit mit Bismarck eintraten, spaltete sich 1867 ab und gründete dieNationalliberale Partei. Zunächst bedeutete dies nur eine Trennung der Fraktionen, nicht der liberalen Partei. Dies änderte sich in den folgenden Jahren.
In den folgenden Jahren hatte die Fortschrittspartei bis 1879 zwischen 48 und 68 Fraktionsmitglieder im preußischen Abgeordnetenhaus.
Trotz Kritik an Bismarck hat die Partei die Gründung desNorddeutschen Bundes begrüßt und forderte unter preußischer Führung die Einigung ganz Deutschlands. Nach der Reichseinigung von 1871 verlor die Fortschrittspartei an Dynamik. Sie gewann in derReichstagswahl von 1871 8,2 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang und 45 Sitze.Bei der Wahl 1874 stieg dies leicht auf 8,6 Prozent der Stimmen und 49 Sitze, umbei der nächsten Wahl 1877 wieder auf 7,7 Prozent der Stimmen und 35 Sitze zu sinken. Bei derReichstagswahl von 1878, die unter dem Eindruck derAttentate auf den KaiserWilhelm I. und der Attacken Otto von Bismarcks gegen die Deutsche Fortschrittspartei als „Reichsfeinde“ stattfand, erzielte die Partei ihr schwächstes Ergebnis mit 6,7 Prozent der Stimmen und 26 Mandaten.[5] Obwohl die Partei einen gesamtdeutschen Anspruch vertrat, hatte sie ihren Schwerpunkt inPreußen, insbesondere inBerlin,Brandenburg,Hessen-Nassau undSchleswig-Holstein sowie zeitweise inOstpreußen,Schlesien und demRuhrgebiet. Außerhalb von Preußen war sie stärker inSachsen undFranken vertreten. In städtischen Wahlkreisen konnte die Deutsche Fortschrittspartei einen großen Anteil der Wähler für sich gewinnen.[6]
DieReichsverfassung hatte die Partei abgelehnt, weil sie nur wenig demokratisch war. Wichtige Akzente setzte die Fortschrittspartei in derWirtschaftspolitik. Im Kulturkampf unterstützte sie die Politik Bismarcks. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen wurde von ihr abgelehnt. Die Mehrheit der Fraktion lehnte bei der Heeresfinanzierung dasSeptennat von 1874 ab. Daraufhin traten elf Mitglieder der Reichstagsfraktion um Loewe undBerger aus der Fraktion aus.
Richter verstärkte in den 1870er Jahren den organisatorischen Ausbau der Wahlvereine. Noch immer hatte sie ihren Schwerpunkt in Preußen, hinzu kamen Sachsen und Hamburg. Der Hamburger Wahlverein war in 100 Bezirksvereine mit zusammen 5.200 Mitgliedern aufgeteilt. Die Gesamtzahl der Parteimitglieder lag bei 20.000. Die Vereine folgten dem Prinzip derinnerparteilichen Demokratie. Vorstände und Wahlkreiskandidaten wurden gewählt. Die Aktivitäten der Partei waren deutlich größer als bei anderen bürgerlichen Parteien. Es wurden Versammlungen nicht nur während der Wahlkämpfe abgehalten. Es wurden Unterschriften für Petitionen gesammelt.
Bedeutende Parteiorgane warenDer Volksfreund von 1868 bis 1872 und ab 1882Der Reichsfreund.
Ein erster gesamtdeutscherParteitag fand 1878 in Berlin statt. Dort waren 91 Wahlkreise von 397 vertreten. Die Mitglieder des Zentralwahlkomitees in Berlin wurden als Führung der Partei bestätigt. Es wurde ein geschäftsführender Ausschuss aus fünf Mitgliedern unter Führung vonEugen Richter gewählt. Dieser hatte entscheidenden Einfluss, den er allmählich immer mehr auch auf die regionalen Gliederungen ausdehnte, bis er schließlich eine beherrschende Position in der Partei einnahm.
Der Parteitag von 1878 beschloss ein neues Programm. Man forderte eine stärkere Parlamentarisierung der Reichsverfassung und eine dem Parlament verantwortliche Regierung. Natürlich bestand man auf dem vollen Budgetrecht. Auch forderte die Partei eine Anerkennung der Selbsthilfeorganisationen sowohl derArbeitgeberverbände wie auch derGewerkschaften. Allerdings forderte die Partei nicht, wie vom linken Flügel gefordert, die Ausdehnung des demokratischen Reichstagswahlrechts auf die Länderparlamente. Noch immer hielt die Partei am liberalen Prinzip desFreihandels fest. Weitergehende Staatseingriffe in derSozialpolitik sah das Programm nicht vor.[7]
Trotz der ideologischen Gegnerschaft zurSozialdemokratie lehnte die Fortschrittspartei dasSozialistengesetz ab. Als Richter 1879 forderte: „Fort mit Bismarck“, erlebte die Partei einen starken Aufschwung und erreichte bei derReichstagswahl von 1881 mit 12,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang und 59 Mandaten den Höhepunkt ihrer Bedeutung.
Am 5. März 1884 fusionierte die Partei unter Federführung von Eugen Richter,Albert Hänel undFranz August Schenk von Stauffenberg mit derLiberalen Vereinigung, einer Abspaltung am linken Rand der Nationalliberalen Partei, zurDeutschen Freisinnigen Partei. Unterdessen weigerte sich imKönigreich Sachsen die fortschrittliche Landtagsfraktion die Fusion mitzutragen, die Mehrzahl ihrer Mitglieder blieb bis zur Jahrhundertwende eigenständig und schloss sich nicht dem 1887 gebildetenLandesverein der deutsch-freisinnigen Partei im Königreich Sachsen an.[8]
Bedeutende Politiker der Partei waren zunächstJohann Jacoby,Leopold Freiherr von Hoverbeck,Benedikt Waldeck,Hermann Schulze-Delitzsch,Franz Duncker,Hans Victor von Unruh,Albert Hänel,Adolph Diesterweg oderWilhelm Loewe und andere. In den 1870er Jahren wurde diese ältere Generation von einer jüngeren abgelöst, zu der der PublizistEugen Richter,Ludolf Parisius,Ludwig Löwe, Albert Hänel,Albert Träger,Hugo Hermes,Johann Classen-Kappelmann undOtto Hermes zählten.