Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland ist ein 2014 durch den BestsellerautorThilo Sarrazin bei derDeutschen Verlags-Anstalt veröffentlichtesmedienkritischesSachbuch mitautobiografischen Zügen. Es handelt vom durch den Autor wahrgenommenenlinksliberalen „Meinungskonformismus“ in den Medien Deutschlands. Sarrazin stellte darin „14 Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart“ auf. Das Buch wurde am 24. Februar, am Tag des Erscheinens, in nahezu allenFeuilletons der überregionalen deutschen Printmedien eher negativ aufgenommen, dieBild-Zeitung brachte hingegen positiv konnotierte Vorabdrucke. Das Buch erreichte auf derSpiegel-Bestsellerliste im März den Platz eins.
Nach Einschätzung des SozialwissenschaftlersAlexander Häusler vomForschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus derFH Düsseldorf kann derTagesspiegel-ArtikelDaspolitisch korrekte Deutschland (2012) des konservativen Publizisten und späteren AfD-PolitikersAlexander Gauland, auf den Sarrazin später auch Bezug nimmt, als Vorlage für das BuchDer neue Tugendterror (2014) gelesen werden. Darin vertritt Gauland, dass „vom Mainstream abweichende Positionen [zunehmend] ins moralische Aus“ gedrängt werden würden.[1]
Sarrazins Buch gliedert sich in sechs Kapitel und eine zusätzliche Schlussbetrachtung („Ideologie, Wirklichkeit und gesellschaftliche Zukunft“). Im ersten Kapitel beschreibt er dieMeinungsfreiheit mit ihren Grenzen. So geht er auch auf den Begriff derPolitischen Korrektheit ein. Im zweiten Kapitel erklärt er anhand einer Fallstudie, wie er mit der Meinungsfreiheit in Konflikt kam. Das dritte Kapitel widmet er den Elementen der Meinungsfreiheit mit Ausführungen u. a. zu den PhilosophenNiccolò Machiavelli undAlexis de Tocqueville. Darüber hinaus widmet er sich der Anpassung des Menschen in einer Gesellschaft („Die NeueVerhaltensökonomik“). Im vierten Kapitel geht es um dieSprache des „Tugendterrors“, so auch umgeschlechtergerechte Sprache. Es folgt im fünften Kapitel ein geschichtlicher Abriss des „Tugendterrors“ von derChristianisierung bis zur Gegenwart und ein Exkurs zu „Moral und Gewissheit“.
Er stellt dann im sechsten Kapitel seine Kernbotschaften in „14Axiome[n] des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart“ dar:
Vorabdrucke von Sarrazins Buch erschienen bei derBildzeitung. Mitte/Ende Februar 2014 wurden dann fünf Vorabverrisse publiziert, u. a. durchHelmut Schümann imTagesspiegel,[2] durchJoachim Mischke imHamburger Abendblatt[3] und durchJan Fleischhauer beiSPON[4]. Am Tag der Veröffentlichung (24. Februar) mit einer Erstauflage von 100.000 Exemplaren und der Vorstellung, mit einführenden Worten des KommunikationswissenschaftlersHans Mathias Kepplinger, im Gebäude derBundespressekonferenz in Berlin[5] vor zahlreichen Journalisten wurde Sarrazins Buch in deutschen Medien fast einhellig negativ rezensiert.
Er gab dann mehreren Zeitungen/Zeitschriften (u. a. derWirtschaftswoche) und Rundfunkanstalten (u. a.n-tv,Deutschlandfunk undMDR) Interviews. Die MedienCosmo TV,Kulturzeit,quer usw. berichteten. Er führte Streitgespräche mit den JournalistenJakob Augstein vomfreitag (Peter Hahne) undDaniel Bax von dertaz (Das Duell). Zudem trat er beim österreichischenTalk aus dem Hangar-7 auf. Bei einzelnen Talkshows, z. B.Menschen bei Maischberger (ARD), wurde er allerdings wieder ausgeladen.
Sarrazin stellte zunächst sein Buch auf zahlreichenAutorenlesungen in Deutschland vor, u. a. auf derLeipziger Buchmesse.Der Spiegel listete das Buch bei Neuerscheinung auf Platz vier der Bestsellerliste für Sachbücher.[6] Im März war es für zwei Wochen auf Platz eins.[7][8] Als er im März sein Buch bei einer Podiumsdiskussion der ZeitschriftCicero imBerliner Ensemble vorstellen wollte, kam es zum Eklat durch Demonstranten, die durch Geschrei, Pöbeleien, Trillerpfeifen und Handgreiflichkeiten die Möglichkeit zum Meinungsaustausch verhinderten.[9] Im Mai stellte er auf Einladung desFPÖ-Bildungsinstituts und des Liberalen Klubs sein Buch auch in Österreich vor.[10][11] Im September 2014 folgte eine Präsentation im Rahmen einerAfD-Veranstaltung unter Anwesenheit vonArmin-Paul Hampel.[12]
Hans Mathias Kepplinger vomInstitut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz resümierte trotz vereinzelter Kritik: „Die entscheidende Frage wird lauten, ob die Medien seine – Sarrazins – Beispiele totschweigen oder aufgreifen, beziehungsweise ob sie diese nachdenklich diskutieren oder den Autor diskreditieren“.[13] Der Potsdamer WirtschaftsphilosophGerd Habermann, der auch Vorsitzender derFriedrich-August-von-Hayek-Stiftung ist, erkannte einerseitsliberale Züge und bezeichnete den Autor als „antiegalitäre[n] Publizist[en]“.[14]
In der ZeitschriftAufklärung & Kritik merkte hingegen der SozialphilosophJohannes Heinrichs an: „Ich bleibe im Zweifel, ob Sarrazins zentrale Diagnose vom ideologisch einheitlichen Gleichheitsdenken voll zutrifft (und nicht Ausfluss seinerneoliberalen Sichtweise ist) – oder ob Abwertung des Denkens überhaupt und emotionales Mitläufertum die Ursachen für den Meinungsterror sind. Wobei sich die Frage nach dem Verfall der gesellschaftlichen Diskussion, einschließlich der Werte-Kommunikation, durch Nichtunterscheidung der argumentativen und emotionalen Komponenten stellt.“[15]
Auf der PlattformEndstation Rechts sprach der ExtremismusforscherArmin Pfahl-Traughber vonStrohmann-Argumenten und Manipulationstechniken auf Seiten Sarrazins.[16] Der Bonner PolitikwissenschaftlerFrank Decker vomInstitut für Politische Wissenschaft und Soziologie hielt ihn für ein „extreme[s] Beispiel“ eines europäischenRechtspopulisten.[17] Der Osnabrücker MigrationsforscherKlaus Jürgen Bade wurde deutlicher und attestierte Sarrazin in einer eigens angefertigtenMiGAZIN-Analyse „Kulturrassismus“ und eine „neokonservative Sozialphilosophie“. Er beschrieb ihn als „angebliche[n]Tabubrecher“.[18]
Der Tübinger MedienwissenschaftlerBernhard Pörksen sieht das Buch als Zeichen der „aktuell grassierende[n] Medienverdrossenheit“.[19]
Die ExtremismusforscherUwe Backes,Alexander Gallus undEckhard Jesse kommentierten: „Viele seiner pointiert formulierten Monita sind nicht aus der Luft gegriffen“.[20]
Der JournalistDavid Hugendick von der WochenzeitungDie Zeit sprach von einer „narzisstischen Kränkung“ und führte aus: „Thilo Sarrazin kennt die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr genau“. Er hält es für die „Rezeptionsgeschichte der sogenannten Sarrazin-Debatte, aus der sein Urheber nun eine neue Diagnose ableitet“. Die Qualität des Buches sei „Basis-Nietzsche und Volkshochschul-Freud“. Hugendick bestritt die „Existenzvernichtung“ Sarrazins und hielt ihm vor: „Bestsellerliste als Plebiszit gegenGutmenschen“.[21]
In derFAZ hieß es beiJürgen Kaube: „Es ist nicht der Rechtsstreit, der klären könnte, ob man ihm die Meinungsfreiheit genommen hat, und es ist nicht die Wissenschaft, auch wenn er so tut. Es ist der rhetorische Meinungskampf, in dem auch Antirhetorik eine Rhetorik ist. Die alte soziologische Einsicht, dass Streit die Streitenden einander ähnlich macht, beweist sich auch an Thilo Sarrazin. Er imitiert, was er angreift, und fasst einige Äußerungen der Gesellschaft, in der wir leben, „pointiert zusammen““[22]
Johann Osel von derSüddeutschen Zeitung rezensierte: „Von Stammtischplumpheit ist Sarrazin jedoch entfernt, vieles ist hübsch in Fachsprache verpackt und mit allerlei Zahlenwerk garniert. Seine Argumentation hat er akkurat durchkomponiert, das Buch ist mit kühlem Kopf geschrieben. Aber auch mit kaltem Herzen.“ Weiter schrieb er: „Sarrazin [...] steckt Menschen in Korsette, diese sollen sie gefälligst lebenslang tragen. Dahinter steckt das Weltbild, mit dem er so gerne spielt: aus der Zeit derHexenverbrennung. Wer das kritisiert, betreibt laut dem Buch Tugendterror. Dabei preist sich der Autor im Nachwort selbst: als ‚Diskussionsveteran‘.“[23]
DieWelt titelte „Der Pedant Thilo Sarrazin schafft sich selbst ab“ und schrieb: „Seine enorme Präsenz in den Medien in den vergangenen Jahren, ein logischer Widerspruch zum konstatierten Totschweigen.“ Außerdem trage er seine Bildung „vor sich hier (sic), manchmal aber wird der selbsternannte Pedant Sarrazin den eigenen Ansprüchen nicht gerecht.“[24]
Die Kolumne vonJakob Augstein, zugleich Herausgeber der Wochenzeitungder Freitag, beimSpiegel eröffnete mit: „Böser Geist der sozialen Kälte“ und schloss mit „Er [Thilo Sarrazin] arbeitet am Fundament einer neuennationalkonservativen Ideologie. GegenFrauen,Homosexuelle,Muslime,Migranten undLinke: Sarrazin schließt die argumentative Versorgungslücke, die sich beim auf Ressentiment sinnendenKleinbürgertum auftut. Er ebnet Gedanken und Argumentationsfiguren den Weg in die Mitte der Gesellschaft, die sich unlängst noch am rechten Rand herumgedrückt haben. Thilo Sarrazin ist der Vordenker einerreaktionären Renaissance.“[25]
Der InlandsredakteurDaniel Bax von dertaz meinte: „Thilo Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben. Etwas Neues steht aber nicht wirklich darin. Eher ist es der Versuch, aus einer alten Erfolgsnummer noch einmal neues Kapital zu schlagen.“ und „Meinungsfreiheit ist für Sarrazin vor allem seine Freiheit, sich über andere zu erheben, ohne dafür kritisiert zu werden.“[26]
ImCicero,Alexander Marguier, hieß es: „Das alles, liebe Genossen, ist aber auch diesmal wieder kein Grund, Thilo Sarrazin aus derSPD ausschließen glauben zu müssen. Nach der Lektüre seiner neokonservativen Agenda im sechsten Kapitel („Vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart“) fragt man sich eher, warum Sarrazin diese Partei nicht längst aus eigenem Antrieb verlassen hat. Vielleicht deshalb, weil es sich mit entsprechendem Parteibuch medienwirksamer provozieren lässt?“[27]
DieWirtschaftswoche mit ihren AutorenTim Rahmann undRoland Tichy rezensierte: „In dem Wunsch, zu polarisieren und seine Ausgangsthese zu rechtfertigen, schießt Sarrazin übers Ziel hinaus. Die Frage, wie es zu der Begrenzung der Meinungsfreiheit kommt, einer ‚freiwilligen Gleichschaltung‘ (soEvelyn Roll schon vor Jahren in der Süddeutschen Zeitung) in einer sonst so freiheitlichen, jeder Zensur abholden Gesellschaft, beantwortet er nur fragmentarisch und argumentiert über lange Strecken selbstbezüglich. Aber ohne Zweifel: Die Debatte ist notwendig – und beginnt sich Raum zu schaffen.“[28]
Walter Bau (WAZ) stellte fest, „[n]icht jeder Gedanke in Sarrazins Buch [sei] abwegig“, doch könne man auch die „Art von Arroganz und Selbststilisierung“, wie Sarrazin sie pflege, anprangern. Nachdem er in seinem ersten Buch über ein angebliches „Juden-Gen“ „räsoniert“ habe, wage er sich „erneut an klebrige Vergleiche“; so halte er den Begriff „Neger“ für eine „völlig neutrale Bezeichnung“. Weiter könne „man kaum daneben liegen“. Sarrazin sei offenbar entgangen, dass Begriffe auch durch die Art geprägt würden, „wie sie von wem benutzt werden“.[29]
In der TageszeitungDie Presse kommentierteAnne-Catherine Simon: „Das Buch bringt all diese gar nicht neuen Befunde klar, unaufgeregt und etwas pedantisch. Es ist anregendePopulärliteratur [...]“. Und weiter, man kann „oft durchaus über vorschnelle Schlüsse und mangelnde Belege diskutieren. Die sind allerdings bei derlei nicht streng wissenschaftlichen Publikationen gang und gäbe, werden aber gern ignoriert, solange sie die vorherrschende Meinung stützen.“[30]
Die RezensentinBirgit Baumann resümierte im österreichischenStandard: „Der umstrittene SPD-Politiker und Exbundesbanker Thilo Sarrazin legt ein neues Buch vor. Darin beklagt er linken Tugendterror in Deutschland. Die Wahrheit über Muslime oder Frauen wolle niemand sehen. Und dass er selbst immer recht habe, natürlich auch nicht“.[31]
In der österreichischen WochenzeitungFalter merkte der KunstkritikerMatthias Dusini an: „Sarrazin hat einmal mehr bewiesen, dass er sein Herz nicht von zärtlichenIntegrationsbeauftragten und fürsorglichen TransgenderberaterInnen erweichen lässt. Dennoch kann man nach der Lektüre dieses Buches Entwarnung geben. Vorerst noch eher unbewusst, demonstriert dieser schwierige Teutone durchaus die Bereitschaft zur Integration.“[32]
Der PublizistGerd Habermann kam in derNeuen Zürcher Zeitung und beieigentümlich frei im „Kommentar aus Berlin“ für dieFamilienunternehmer (ASU) zu folgendem Schluss: „Sarrazins Buch [ist] ein weiterer präziser und nüchternerliberaler Beitrag zu einer verwirrenden Debatte, die wohl erst am Anfang steht, aber dringend auch von liberaler Seite geführt werden muss. Das Buch ist eine Schatzkammer an klugen Argumenten und Analysen und von erstaunlichemintellektuellem Mut.“[14][33]
Im Jahr 2014 erschien das Buch auch alsTonträger beimaudio media verlag in München. Insgesamt umfasst die Box elf CDs mit dreizehn Stunden. Die Sprecherrolle übernahm der Münchner Schauspieler und SynchronsprecherMichael Schwarzmaier; die Regie führte die leitende Redakteurin des audio media verlagsAnnegret Augustin.
Nach umstrittenen AussagenAndreas Mölzers und dem – auf Druck der Parteiführung – Verzicht auf die FPÖ-Spitzenkandidatur bei derEuropawahl 2014 titelte eine April-Ausgabe der von Mölzer mitherausgegebenen WochenzeitungZur Zeit: „Tugendterror – wer ist der nächste?“. Dies wurde in der österreichischen Presse bisweilen als Anspielung auf Sarrazins Buch gedeutet.[34]
Der Ministerpräsident Baden-Württembergs,Winfried Kretschmann, griff das WortTugendterror mit Bezug auf dieFranzösische Revolution auf und meinte: „Ich bin ein ganz strikter Gegner von diesemJakobinismus. Tugendterror führt zu nichts Gutem.“[35]
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