Biologismus (Begriffsbildung ausBiologie mit dem Suffix -ismus) bezeichnet die Übertragung biologischer Maßstäbe und Begriffe auf nicht oder nicht primär biologische Verhältnisse. Dazu gehören die einseitige oder exklusive Deutung dieser Verhältnisse anhand biologischer Betrachtungs- und Erklärungsmuster.
Der Ausdruck ist jedoch kein biologischer Fachbegriff. Es handelt sich stattdessen um einen Begriff derKulturwissenschaften, der eine distanzierende Wertung der als „biologistisch“ eingeschätzten Anschauungen beinhaltet, die als einseitig, sachfremd oder übertrieben gekennzeichnet werden sollen. Er wird daher in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten auchabwertend benutzt und kaum als Selbstbezeichnung derartigerWeltanschauungen. Als Selbstzuschreibung bevorzugen die Vertreter entsprechender Anschauungen stattdessen oft den BegriffNaturalismus.[1]
Ob und inwieweit eine Weltanschauung „biologistisch“ ist, ist zwischen Anhängern und Gegnern solcher Positionen dementsprechend häufig umstritten.
Der Begriff wurde um 1911 von demPhilosophenHeinrich Rickert in den kulturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt und wird bis heute verwendet, vor allem um bestimmte Erklärungsmodelle derSoziologie,Kulturanthropologie,Geschichtsschreibung undRechtswissenschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu beschreiben, die vomDarwinismus ausgehend – aber anders alsDarwin selbst oder engere Nachfolger wieT. H. Huxley – Prinzipien der biologischenEvolution zu allgemeinenethischen oder historischen Maximen umdeuteten.[2]
Von Biologismus spricht man, wenn versucht wird, menschliche Phänomene und Sachverhalte (etwa individuelle oder kollektiveVerhaltensweisen, gesellschaftliche Zustände oder politische Zusammenhänge) vorrangig oder allein durch biologische Tatsachen, Theorien und Modelle zu erklären. Die in der Biologie ermittelten Gesetzmäßigkeiten werden dabei als einheitliche Gesetze der realen Welt verallgemeinert und zu einer Art „Weltprinzip“ erhoben.[2] Biologismus wird daher auch als biologischerReduktionismus definiert, der alle relevanten sozialen oder kulturellen Phänomene auf biologische Grundtatsachen zurückführe.[3][4] Historisch wurden biologistische Ansätze einerseits durch Übertragung biologischer Konzepte auf dieSozial- und Kulturwissenschaften, andererseits durch die Ausdehnung der Biologie auf diephysikalischen Wissenschaften zur Geltung gebracht. Bekannte Vertreter als biologistisch eingeordneter Denkmodelle sind der ZoologeErnst Haeckel und der NaturphilosophAdolf Meyer-Abich – Letzterer ist einer der wenigen Vertreter, die ihre Thesen selbst als „biologistisch“ bezeichneten.[2]
Zahlreichesozialdarwinistische undvölkische Theorien sind stark biologistisch bestimmt. Innerhalb der Biologie und derMedizin waren biologistische Sichtweisen besonders in der erbbiologischenEugenik der Jahre zwischen 1900 und 1920 einflussreich.[5] Biologistische Erklärungsmodelle und Interventionskonzepte gab es zu dieser Zeit nicht nur im bürgerlich-akademischen Milieu, wo sie oft mitrassistischen Vorstellungen verbunden waren, sondern sie wurden ergänzend zuökonomisch-materialistischen Theorien auch von Teilen derArbeiterbewegung verwendet, um beispielsweise die Verelendung desProletariats mithilfe der Idee erblicherKeimschädigungen infolge misslicher sozialer Umstände zu erklären.[6] Auch die moderneSoziobiologie kann einseitig biologistische Züge annehmen, wenn sie biologische Verhältnisse nicht nur als Vorbedingungen soziokulturellen Handelns zu ergründen sucht, sondern die Eigenständigkeit und Eigendynamik soziokultureller Phänomene dabei außer Acht lässt.[2] Seit den 1970er und 1980er Jahren spielt für Deutungen, die als biologistisch eingeordnet werden, verstärkt die Rückführung der neuerenEvolutionsbiologie aufgenetische undneurophysiologische Grundlagen eine Rolle.[3][7] Bisweilen werden aber auch allgemeinszientistische odernaturwissenschaftlich-reduktionistische Anschauungen dem Biologismus zugeordnet, etwa die auch von Teilen der Wissenschaft vertretene Vorstellung,Psychisches lasse sich erschöpfend aus der Biologie erklären und psychische Phänomene basierten ausschließlich auf dieser Grundlage.[8] Von manchen Kritikern wird auch der Versuch, bestimmte Verhaltensweisen im Tierreich auf menschliche Gesellschaften zu übertragen oder menschliche Moral- und Wertvorstellung damit zu relativieren, als Biologismus bezeichnet.[9]
Weil derMensch Teil der belebtenNatur ist, sind sein Wesen und sein Verhalten auch Forschungsgegenstand der Biologie. Deren Erkenntnisse werden folglich als Beitrag zum fachübergreifenden Forschungsfeld derHumanwissenschaften verstanden. Dass psychische und soziale Phänomene auf einem biologischen Hintergrund beruhen, wird von Kritikern des Biologismus nicht bestritten.[8] Mit dem Begriff Biologismus wird jedoch versucht, einem alleinigenErklärungsanspruch der Biologie Grenzen zu setzen, zum Beispiel durchwissenschaftstheoretische Kritik. Dadurch wird zugleich die Eigenständigkeit einer sozial- und geisteswissenschaftlichen Methodik sowie eines ethischen Diskurses gegenüber der Biologie verteidigt. Außerdem sollen mit der Kritik die weltanschaulichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen betont werden, die aus einer unzureichend reflektierten, einseitig biologischen Betrachtungsweise erwachsen können.
Der Biologismus kann politisch instrumentalisiert werden, wenn beispielsweisesoziale Unterschiede als unveränderlich beschrieben werden und dabei von der problematischen Erkenntnissituation des reinnaturwissenschaftlichen Beobachters ausgegangen wird. Denn auch dessen fachwissenschaftliche Forschungen gehen letztlich von einer – notwendigerweise unvollständigen, nur teilweisen – Beobachtung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustandes in einem spezifischen (zeitlichen) Zusammenhang aus. Hierzu steht im Widerspruch, dass auf dieser Grundlage allgemeine,abstrakte Gesetzmäßigkeiten hergeleitet werden sollen, die ein biologistisches Weltbild stützen können. Darüber hinaus sind auch die dazu eingesetztenMethoden und Fragestellungen, die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen können, zeit- undkulturabhängig, obgleich für das Forschungsergebnis überzeitlicheGültigkeit beansprucht wird. Ein solches Vorgehen ist jedoch aus diesen und weiteren Gründen erkenntnistheoretisch problematisch.
Viele politische Strömungen (u. a. derNationalsozialismus[10] und derFaschismus) haben biologistische Erklärungsmodelle für ihre Zwecke instrumentalisiert, indem sie zum Beispiel angebliche oder tatsächliche Verhaltensweisen unter Tieren zur Rechtfertigungsozialer Ungleichheit,Ausbeutung undMord verwendeten.Diskriminierungen gehen häufig einher mit einer Argumentationsweise, der drei Funktionen zukommen:
Biologismus wird in diesem Zusammenhang als besondere Spielart derOntologisierung und desEssentialismus gedeutet. Der Versuch, im Rahmen des Biologismus aus den Verhältnissen in der Natur („Sein“) Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten („Sollen“), wird in der modernenEthik überwiegend alsnaturalistischer Fehlschluss (naturalistic fallacy) eingestuft.
Folgende Positionen werden unter anderem als Erscheinungsformen des Biologismus genannt:
Auch soziale Erklärungsmodelle werden häufig als biologistisch bezeichnet, so etwa: