Biblizismus

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Der AusdruckBiblizismus bezeichnet eineBibelauslegung im rein wörtlichen Sinn ohne Berücksichtigung historisch-kritischer Forschungsergebnisse.[1][2] Innerhalb der protestantischen Theologie kam der BegriffBiblizismus Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Er steht für die Kritikhistorisch-kritischer Theologen des Bibelgebrauchs in derErweckungsbewegung, insbesondere über die Art, wie die Bibel als Buch durch dieBibelgesellschaften verbreitet wurde.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

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Der englische Begriffbiblicist ist erstmals 1837 belegt und bezeichnet jemanden, der sich auf die Bibel beruft – im Gegensatz zu einer mehr spekulativen Theologie.[3] Der früheste Beleg fürbiblicism ist ein Brief von John Sterling anThomas Carlyle (7. Dezember 1843) im Zusammenhang mit Carlyles Plan, ein Buch überOliver Cromwell zu schreiben. Der Biblizismus imPuritanismus des 17. Jahrhunderts wird als „üppig wuchernd“ und vital bezeichnet, im Gegensatz zum Biblizismus der Evangelikalen im frühen 19. Jahrhundert. 1874 istbiblicism dann gleichbedeutend mitbibliolatry (Bibelkult), einem Begriff, den es im Englischen wie im Deutschen bereits in derAufklärungszeit gab.[4]Gotthold Ephraim Lessing beispielsweise verwahrte sich gegen den Verdacht, das Wort Bibliolatrie nach dem Muster vonIdololatrie gebildet zu haben. Der schottische PredigerEdward Irving hatte gegenüberSamuel Taylor Coleridge 1826 zugeben müssen, ein Bibliolatrist zu sein. Von Coleridge ist bekannt, dass er die Tätigkeit derBibelgesellschaften sehr kritisch sah. Sterling war von Coleridge beeinflusst. Die von ihm 1843 geprägte Neubildungbiblicism hatte (alsIsmus) gegenüberbibliolatry den Vorteil, etwas neutraler zu klingen. Er war damit auch besser geeignet für die Auseinandersetzung mit Vertretern der Erweckungsbewegung.[5]

Martin Kähler (um 1870)

August Tholuck prägte die deutschen BegriffeBiblizismus undBiblizität (ob erbiblicism auf einer Englandreise kennengelernt hatte, ist wegen der damaligen Ungebräuchlichkeit des Worts schwer abzuschätzen). Er verwandte sie zur Bezeichnung von inneren Differenzierungen in der niederländischen reformierten Theologie im frühen 17. Jahrhundert (Dordrechter Synode).[6]Martin Kähler erinnerte sich, beim Studium an derUniversität Tübingen in den späten 1850er Jahren mit dem Biblizismus, „wie man das nannte“, konfrontiert worden zu sein. Biblizismus war demnach eine in Tübingen damals übliche Fremdbezeichnung fürJohann Tobias Beck und seine Schule,[7] denn deren Selbstbezeichnung warBiblischerRealismus.[8] Kähler verwandteBiblizismus gegen die Kritik Tholucks auch als Selbstbezeichnung, sprach aber betont von „seinem“ Biblizismus. Er sah sich als ein an der Bibel orientierter Theologe. Keineswegs sei er ein Biblizist wie Beck, „dem alle kirchlicheDogmatik ein Greuel ist“.[9] Kähler scheint durch seinen differenzierten Umgang mit dem BegriffBiblizismus diesen auch bekannt gemacht zu haben.[10]

Die Ambivalenz des Biblizismus-Vorwurfs zeigt sich beiKarl Barth, der den „sogenannten Biblizismus“ einer eingehenden Kritik unterzog. Dessen Inbegriff war für ihn der Bremer reformierte PfarrerGottfried Menken († 1831).[11] Indem er die Bibel und nur die Bibel studieren wollte, wurden Kirche (Menken mied diesen Begriff) undBekenntnis gleichgültig. Hier fand Barth einen „frommen, aber in seiner Keckheit doch ebenfalls ausgesprochen modernen Sprung in die Unmittelbarkeit“ und fragte rhetorisch: „Wird der, der die Bibel allein zum Meister haben will, als ob dieKirchengeschichte mit ihm noch einmal anfangen müßte, die Bibel nun wirklich ungemeistert lassen? Wird es in dem so geschaffenen leeren Raum eigenen Befindens vielleicht zu einem besseren Hören der Schrift kommen als im Raum der Kirche?“[12] Bei Menken und Beck konstatierte er (ebd.) „Lieblingsideen“ und „Absonderlichkeiten“. Barth verstand dasDogma als Korrektiv; sein eigener Gebrauch der Bibel wird freilich („gerade auch an seinem eigenen Maßstab gemessen“[13]) ebenfalls als Biblizismus kritisiert. Diese Kritik traf bereits BarthsRömerbriefkommentar. Im Vorwort der zweiten Auflage erklärte Barth hierzu, sein angeblicher Biblizismus bestehe einzig darin, dass er das „Vorurteil habe, die Bibel sei ein gutes Buch und es lohne sich, wenn man ihre Gedanken mindestens ebenso ernst nimmt wie seine eigenen“.[14] Barths Vater gehörte zu jenen Studenten, die nach Tübingen gezogen waren, um Beck im Hörsaal zu erleben. Vom Vater immer wieder auf Becks Schriften hingewiesen, entdeckte Barth Becks Römerbriefkommentar und nutzte ihn begeistert für seine eigene Kommentierung, die ihn dann bekannt machte.[15]

Die Ablehnung der historisch-kritischen Bibelauslegung an den Universitäten ist nachGisa Bauer eine „evangelikale Grundkonstante“.[16] Die in derKonferenz Bibeltreuer Ausbildungsstätten (KbA) zusammengeschlossenen Institutionen treten laut Satzung für einen „ehrfürchtigen und vertrauensvollen“ Umgang mit der Bibel ein. Innerhalb desEvangelikalismus lässt sich mit Friedhelm Jung (Die deutsche evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, 1992) ein strenger Biblizismus bzw.Fundamentalismus (vgl. die dreiChicago-Erklärungen) und ein gemäßigter Biblizismus bzw. eine historisch-biblische Methode unterscheiden. Für letztere steht beispielsweiseGerhard Maiers exegetische Arbeit.[17]

Hermeneutik

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Gerhard Gloege unterscheidet drei Typen des Biblizismus:[18]

  1. Theoretisch-doktrinärer Biblizismus: Die Bibel als Kodex göttlicher Lehre;
  2. Praktisch-programmatischer Biblizismus: Sammlung von Vorschriften für die private und gemeinschaftliche Lebensführung;
  3. Heilsgeschichtlicher Biblizismus: Kompendium von Gottes Handeln in der Menschheitsgeschichte.

Der moderne Biblizismus beansprucht Treue zum reformatorischenSola-scriptura-Prinzip, welches besagt, dass Lehren, die sich nicht aus der Bibel begründen lassen, abzulehnen sind. Dabei wird nicht unterschieden, ob die Aussagen überhaupt nicht in der Bibel vorkommen oder ob sie dem Gesamtzusammenhang gar widersprechen.

Der Biblizismus führt darüber hinaus. Nach dessen Auffassung ist der gesamte Text der Bibel wörtlich zu nehmen und alle Aussagen sind somit auch als historische oder naturwissenschaftliche Aussagen nicht anzweifelbar. Als Folge eines biblizistischen Verständnisses der heiligen Schrift wird oft derJunge-Erde-Kreationismus als Beispiel angeführt.

Wenn man als Kennzeichen des Biblizismus ansieht, dass er

  • alle biblischen Aussagen wörtlich auffasst,
  • alle biblischen Aussagen als gleichwertig behandelt
  • und diese unmittelbar auf das private Leben der Christen sowie die Lehre der Kirche in der eigenen Gegenwart anwendet,

so führt dies angesichts der Probleme und Widersprüche, die sich bei der Umsetzung dieses Programms ergeben, zu einem verdecktenEklektizismus.[19] Gloege sieht den Biblizismus einerseits durch dieDialektische Theologie, andererseits durch die historisch-kritische Bibelwissenschaft als „erledigt“ an und urteilt, der Begriff sei „weder für die Dogmatik noch für die Ethik anders brauchbar als zur Bezeichnung eines Irrweges“.[18]Erdmann Schott hält es hingegen für fragwürdig, bestimmte theologische Richtungen als Biblizismus zu etikettieren, und verweist auf die „Unsicherheit des Sprachgebrauchs“, weshalb er von der Verwendung des Begriffs abrät.[13]

In einer Studie zum Umgang amerikanischer Evangelikaler mit der Bibel stellte Mary M. Juzwick fest, dass Biblizismus als Lesepraxis folgende Kennzeichen aufweist: Die Wahrheit der Bibel wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Die Bibelleser haben eine hohe Bereitschaft, die Texte immer wieder neu zurekontextualisieren. Bei der Lektüre finden sie lebenspraktische Anwendungen. Das Bibellesen vermittelt ihnen ein Rollenbild als Mann oder Frau. Das Aufspüren von Bezügen zwischen verschiedenen Bibelstellen gilt als wertvoll, auch wenn sich kein praktischer Nutzen daraus ergibt. Viel Aufmerksamkeit wird darauf verwandt, einander scheinbar widersprechende biblische Aussagen zueinander in Beziehung zu setzen.[20]

Siehe auch

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Biblizismus. In: Duden. Abgerufen am 25. Februar 2024. 
  2. Biblizismus. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 25. Februar 2024. 
  3. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 68.
  4. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 69.
  5. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 70–72.
  6. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 73–75.
  7. Martin Kähler:Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert. 2. erw. Auflage. R. Brockhaus, Wuppertal/Zürich 1989,ISBN 3-417-29343-X, S. 157–158.
  8. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 77.
  9. Heinrich Karpp:Das Aufkommen des Begriffs Biblizismus. 1976, S. 82.
  10. Heinrich Karpp: Biblizismus. In:Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 6, de Gruyter, Berlin / New York 1980,ISBN 3-11-008115-6, S. 478–484. hier S. 482.
  11. Heinrich A. Meyer-Reichenau:„Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute“. Studien zur Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, S. 227.
  12. Karl Barth:Die Lehre vom Wort Gottes (= Kirchliche Dogmatik. Band I/2). 3. Auflage. Evangelischer Verlag, Zollikon 1945, S. 680.
  13. abErdmann Schott: Biblizismus 1. Theologiegeschichtlich. In:Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tübingen 1957, Sp. 1262–1263.
  14. Karl Barth:Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. Hrsg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaia. TVZ, Zürich 2010, S. 20.
  15. Michael Beintker:Johann Tobias Beck und die neuere evangelische Theologie: Michael Trowitzsch zum 6. Juli 2005. In:Zeitschrift für Theologie und Kirche 102/2 (2005), S. 226–245, hier S. 241f. Vgl. ebd. das Zitat aus einem Brief Barths an Eduard Thurneysen (27. Juli 1916): „Fundgrube entdeckt:J. T. Beck!! Als Bibelerklärer einfachturmhoch über der übrigen Gesellschaft, auch überSchlatter …“
  16. Gisa Bauer:Evangelikales Schriftverständnis: Aspekte und Beobachtungen. In:Kirchliche Zeitgeschichte 29/1 (2016), S. 109–122, hier S. 110.
  17. Hier referiert nach: Gisa Bauer:Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonfliktes (1945 bis 1989). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, S. 67–70; und dies.:Evangelikales Schriftverständnis: Aspekte und Beobachtungen. In:Kirchliche Zeitgeschichte 29/1 (2016), S. 109–122, hier S. 121f.
  18. abGerhard Gloege: Biblizismus 2. Systematisch-theologisch. In:Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tübingen 1957, Sp. 1263.
  19. Manfred Marquardt: Biblizismus. In:Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tübingen 1998, Sp. 1553–1554.
  20. Mary M. Juzwik:American Evangelical Biblicism as Literate Practice: A Critical Review. In:Reading Research Quarterly 49/3 (2014), S. 335–349, hier S. 343.
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