Attentismus

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Attentismus (lateinischattendere, „achtgeben, abwarten, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“) bezeichnet ein untätiges, abwartendesVerhalten. Dabei werden Handlungsentscheidungen aufgeschoben in der Erwartung, dass die Situation sich klärt. Das Gegenteil von Attentismus istAktivismus.

Inhaltsverzeichnis

Attentismus in der Politik

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Der Begriff des Attentismus geht auf das frühe 20. Jahrhundert zurück. In Frankreich trat der Begriffattentisme als Bezeichnung für politisches Verhalten um 1918 auf.[1] Als Attentismus bezeichnet man später die abwartende Haltung der europäischen Politik gegenüber dem Aufstieg desNationalsozialismus.[2] Ebenso nannte man die passive Haltung der Bevölkerung im Angesicht der deutschen Besatzungsmacht, die von den Anhängern eines aktiven Widerstandskampfes kritisiert wurde, Attentismus.[3]

Dieter Groh übertrug den Begriff in einer 1973 verfasstenHabilitationsschrift mit dem programmatischen Titel „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“ auf die politische Haltung der deutschenSozialdemokratie des frühen 20. Jahrhunderts. Er definierte Attentismus als ein Konglomerat „von politischer Abwartehaltung, auf Umsturz der bestehenden Verhältnisse zielender Revolutionshoffnung und verbalem Radikalismus“.[4] Damit charakterisierte er die Politik der SPD-Parteiführung unterAugust Bebel undKarl Kautsky, die die Revolution nicht aktiv herbeiführen, sondern ihr Kommen abwarten wollten. Dem standen der revolutionäre Aktivismus des radikal-linken Flügels (Rosa Luxemburg,Karl Radek) und derreformerischeAktivismus vonLudwig Frank[5] gegenüber. Karl Kautsky formulierte bereits 1893 seine Strategie: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen.“[6] Kautsky umschrieb damit die attentistische Grundhaltung der SPD.

Attentismus ist oft als eine Haltung zu verstehen, die vorhandene Probleme „aussitzt“ und sie nicht löst, sondern sich opportunistisch an die gegebene Situation anpasst. BundeskanzlerinAngela Merkel wird mitunter attentistisches Regierungsverhalten vorgeworfen.[7] So meint auch der deutsche BerufsdiplomatMarkus Ederer, gebraucht werde „mehr Mut zur Außenpolitik“, es müsse ein Ende haben mit dem „bisherigen Attentismus“.[8]

Attentismus in der Wirtschaft

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Formen

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Der Begriff Attentismus stammt aus der Politik, ist jedoch in derWirtschaftswissenschaft von besonderer Bedeutung. Attentismus wird durch unklare Randbedingungen und Planungsunsicherheit ausgelöst. Abwartendes oder verzögertesHandeln bedeutet, dass vorgesehene Entscheidungen von Wirtschaftssubjekten nicht wie geplant umgesetzt werden, beispielsweise weil sich eine angekündigte oder erwartete staatliche Maßnahme auf diese Entscheidungen auswirken könnte. Attentismus ist zu beobachten, wenn für die betroffenenWirtschaftssubjekte vorteilhafte Regelungen (Gesetze, Maßnahmen derZentralbank) in Zukunft eingeführt oder nachteilige entfallen sollen. Um in den Genuss dieser Regelungen zu gelangen, müssen ohnehin geplante Entscheidungen hinausgeschoben werden. Betroffene Wirtschaftssubjekte sind diePrivathaushalte,Unternehmen und der Staat mit seinen Untergliederungen (öffentliche Verwaltung,Staatsunternehmen,Kommunalunternehmen).

Attentismus gibt es auf allenMärkten, auf denen dieMarktpreise oderMarktzinsen schwanken. DieBörsen kennen den Attentismus durchMarktteilnehmer, die zwar die Börse beobachten, aber abwarten und nicht in dieMarktentwicklung eingreifen. Attentismus ist eineMentalität derRisikovermeidung durch Abwarten und Beobachten desMarktes. Ist beispielsweise auf demGeldmarkt eineZinserhöhung angekündigt, werdenAnleger ihre vorgeseheneGeldanlage bis nach der erfolgten Zinserhöhung verschieben undUnternehmerInvestitionen vorziehen, so dass die mit der Investition verbundeneFremdfinanzierung noch zu einem niedrigerenKreditzins stattfinden kann. Erwarten die Wirtschaftssubjekte sinkende Marktpreise und halten sie sich entsprechend mit Käufen zurück, kann dieser Attentismus eine Spirale weiterer Preissenkungen und einen starken Einbruch wirtschaftlicher Aktivitäten auslösen.[9] Angekündigte Steuererleichterungen animieren die begünstigten Wirtschaftssubjekte, zunächst ihre Entscheidungen aufzuschieben und zurückzustellen, bis die Steuererleichterungen in Kraft treten, um ihre Entscheidungen dann umzusetzen. Der Attentismus ist in diesen Fällen mit einemMitnahmeeffekt verbunden.

Auswirkungen

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Bereits schlichte Verlautbarungen künftiger wirtschaftspolitischer Absichten staatlicherOrgane können bei Marktteilnehmern Signalwirkungen auslösen, die diese Teilnehmer zu einer Reaktion veranlassen. Diese Reaktion kann aus einem Vorziehen eigentlich später geplanter Entscheidungen (Vorzieheffekt) als auch in einem Hinauszögern eigentlich früher geplanter Entscheidungen (Attentismus) bestehen. Das abwartende Zögern der Marktteilnehmer auf geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank kann beispielsweise unerwünschte Zinseffekte mit sich bringen, die ihrerseits die Gesamtnachfrage beeinflussen. Ein Attentismus der Anleger vermag Zinssteigerungen zu erzwingen, umgekehrt kann ein Attentismus der Investoren undöffentlichen Hand eine Zinssenkung bewirken.[10] An der Börse könnenGerüchte insbesondere über Zinsänderungen oderDevisenkursänderungen zu einer Beschleunigung der Kursentwicklung führen, da Anleger dem Markt ihre Nachfrage nachWertpapieren oderDevisen entziehen.[11]

Attentismus führt meist zuIneffizienzen beim Politikeinsatz durchWirkungsverzögerungen.[12] Hierdurch verschärfen Zentralbanken und Regierungen eine Krise und erreichen das Gegenteil ihrer Absichten.[13] Nicht nur Maßnahmen der Zentralbank, sondern alle anstehenden staatlichen Maßnahmen mit Finanzwirkung können Attentismus betroffener Wirtschaftssubjekte hervorrufen. Die politische Lage kann auch unternehmerische Investitionsentscheidungen beeinflussen: „Der Attentismus gewinnt weniger Raum, wenn die Wirtschaft Vertrauen in die zukünftigen Absichten der Politik hat, wenn es uns gelingt, die Kooperation mit der Regierung zu verbessern“.[14] Eine deflationäre Entwicklung führt zu einem Attentismus bei Investitionen und Konsum, denn bei sinkenden Preisen lohnt es sich für Investoren und Konsumenten, so lange abzuwarten, bis die geplanten Käufe am günstigsten sind.

Regierungen und Zentralbanken sind dazu übergegangen, ihre finanzwirksamen Entscheidungen nicht mehr vorher anzukündigen, sondern sie überraschend bekannt zu geben. Viele Entscheidungen (etwa überAuf- oderAbwertung) werden deshalb amWochenende veröffentlicht, wenn die Marktteilnehmer wegenBankfeiertagen nicht reagieren können.

Siehe auch

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Weblinks

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Wiktionary: Attentismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Grand Larousse de la langue française en six Volumes, Bd. 1, 1971
  2. Le Front, 16. Mai 1936
  3. Henry Rousso,Les années noires. Vivre sous l’occupation, Paris, Gallimard, 2006.Zeitgenössisches Dokument
  4. Dieter Groh,Negative Integration und revolutionärer Attentismus: Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 1973, S. 36 ff.,ISBN 3-549-07281-3.
  5. Ludwig Frank,Auf der Landagitation, in: Pan, Heft 7 vom 4. Januar 1912, S. 209 f.
  6. Karl Kautsky:Der Weg zur Macht. Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus: Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1973, S. 36.
  7. Falsches Personal, falsches Programm, Der Tagesspiegel vom 23. September 2013.
  8. Kurs auf die Welt, Zeit online vom 6. Februar 2014.
  9. Otmar Issing,Der Euro: Geburt, Erfolg, Zukunft, 2008, S. 90.
  10. Berndt Keller/Paul Binder,Kritik der traditionellen Wirtschaftstheorie und der herkömmlichen Wirtschaftspolitik, 1975, S. 81.
  11. Wolfgang Gerke,Gerke Börsen Lexikon, 2002, S. 72.
  12. Michael Hohlstein (Hrsg.),Lexikon der Volkswirtschaft, 2009, S. 68.
  13. Fredmund Malik,Richtig denken - wirksam managen, 2007, S. 178.
  14. Otto Wolff von Amerongen, Präsident des DIHT,Neuer Datenkranz für den Aufschwung, in: Vortragsreihe des Instituts der deutschen Wirtschaft, Nr. 46, 1975.
Normdaten (Sachbegriff):GND:4314207-2(lobid,OGND,AKS)
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