Salazar stammte aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater hatte sich vom Landarbeiter zum Pächter eines kleinen Bauernhofes hochgearbeitet. Salazar sollte zunächstPriester werden.[1] Die damals vomlaizistischen Staat (seit 1910Republik) bedrängtekatholische Kirche erkannte das ökonomische und politische Talent Salazars und ermöglichte ihm ein Studium der Ökonomie und Finanzwissenschaften an der traditionsreichenUniversität Coimbra. Salazar erwies sich als einer der besten Studenten dieser Fächer.
Salazar lehrte alsProfessor fürNationalökonomie bzw.Volkswirtschaftslehre[2] an der Universität Coimbra. 1928 wurde er von PräsidentAntónio Oscar de Fragoso Carmona, der dieerste portugiesische Republik durch eineMilitärdiktatur ersetzt hatte, alsFinanzminister in die Regierung geholt. Salazar machte vollständige Handlungsfreiheit über die Staatsfinanzen zur Bedingung für seinen Regierungseintritt. Die Militärregierung unter General Oscar Carmona gab Salazar die geforderten Vollmachten. AufParteien,Gewerkschaften und politische Stimmungen brauchte er somit keine Rücksichten zu nehmen. Bereits seit 1928 war Salazar der eigentliche Machthaber in Portugal – er hatte eine Art Finanzdiktatur errichtet.
Am 5. Juli 1932 ernannte ihn Carmona zum Premierminister. Seine Hauptunterstützung erhielt Salazar von den Gruppen der Gesellschaft, die der Republik ablehnend gegenüberstanden, aber auch von der Militärregierung enttäuscht waren. FürMilitär,Kirche,Monarchisten, obere Mittelschicht undAristokratie war Salazar die bessere Wahl im Vergleich zu den vorhergegangenenJuntas.
1933 gab er Portugal in seiner Funktion als Ministerpräsident eine neueVerfassung, auf deren Grundlage er einEinparteiensystem errichtete.
Salazar verkündete denEstado Novo, den „Neuen Staat“, eine konservativ-autoritäre Diktatur. Seine Machtposition basierte auf wirtschaftlicher Stabilität und politischerRepression. Die bereits 1926 eingeführte Pressezensur verhinderte eine freie Meinungsäußerung, Streikverbot und Einschränkung der Versammlungsfreiheit verhinderten eine wirkungsvolleOpposition. Politische Parteien wurden – sofern sie sich nach demMilitärputsch nicht selbst aufgelöst hatten – verboten.Dissidenten wurden von derGeheimpolizeiPIDE (Polícia Internacional e de Defesa do Estado = Internationale Staatsschutz-Polizei) insExil getrieben, in Gefängnisse gebracht, ermordet oder mundtot gemacht.
Der Salazarismus wird in der historischen Forschung meist nicht als reinerFaschismus bezeichnet, sondern als konservativ-autoritäre Diktatur mitklerikal-faschistischen Zügen. Zwar etablierte Salazar 1936 zwei typisch faschistische Organisationen (die bis 1974 bestehen blieben): dieLegião Portuguesa, eine paramilitärische Miliz zum Schutz des Regimes nach Vorbild der deutschenSA, und dieMocidade Portuguesa, einen Jugendverband nach Vorbild derHitlerjugend. Dennoch unterschied Salazar genau zwischenAutoritarismus undTotalitarismus. Totalitäre Strukturen, auch in ihrer faschistischen Ausprägung, waren ihm zuwider – er setzte nicht auf Massenmobilisierung und Indoktrinierung der Bevölkerung, sondern eher auf Unterdrückung und „Ruhigstellung“. DieEinheitsparteiNationale Union (União Nacional, UN), der er vorstand, war eher eineAntipartei oder einParteiersatz und erreichte nie die Bedeutung oder Dynamik anderer faschistischer Parteien wie etwa derNSDAP. Die Mitgliedschaft war nicht obligatorisch, auch Nichtmitglieder konnten Staatsämter bekleiden.
Salazar machte nie ein Geheimnis daraus, dass er die Politik des italienischen FührersBenito Mussolini bewunderte und befürwortete. Vor allem in den Jahren 1936 bis 1939 (während desspanischen Bürgerkriegs) kann eine deutliche „Faschisierung“ der Salazar-Diktatur ausgemacht werden; diese wurde nach demZweiten Weltkrieg schrittweise wieder rückgängig gemacht.
Während des Zweiten Weltkrieges steuerte Salazar Portugal auf einem Mittelweg. Er unterstützte in großem Umfang die spanischen Nationalisten durch materielle und logistische Hilfe während des Bürgerkriegs und duldete die Rekrutierung zahlreicher portugiesischer freiwilliger Kämpfer, stellte sich jedoch, ähnlich wieFranco, nie auf die SeiteDeutschlands. 1939 initiierte er eineniberischen Neutralitätspakt, auch geläufig unter dem NamenIberischer Block. Er unterstützte dieAlliierten, indem er ihnen – nach Geheimverhandlungen unter anderem mitGeorge F. Kennan – ab 1943 den FlughafenLajes Field auf denAzoren alsMilitärbasis überließ. Hätte er sich auf die Seite derAchsenmächte gestellt, hätte dies Krieg mitGroßbritannien bedeutet und damit dieportugiesischen Kolonien bedroht.
Salazar gelang es, mit einer geschicktenNeutralitätspolitik den Alliierten und den Achsenmächten Konzessionen zu machen, ohne sich auf eine Seite zu stellen. So überließ er – gegen gute Bezahlung – den Deutschen Bergbaukonzessionen für den Abbau des kriegswichtigen MetallsWolfram. Den Briten und später den USA überließ er Häfen und Flughäfen auf den Azoren undMadeira. Salazar machte niemals Anstalten, sich dem radikalenAntisemitismus der anderen rechten Diktaturen Europas anzuschließen. Etwa 30.000 Flüchtlinge fanden in Portugal zumindest vorübergehend Zuflucht, darunter rund 2000 überwiegend jüdische Flüchtlinge durch den mutigen Einsatz des portugiesischen DiplomatenAristides de Sousa Mendes, der damit allerdings gegen die Anweisung Salazars verstieß.
Zum Zeitpunkt der Ernennung Salazars zum Finanzminister war der portugiesische Staat überschuldet; Salazar kürzte die staatlichen Ausgaben und erhöhte steuerliche Abgaben. Die Politik der geringen Ausgaben, mit einigen Ausnahmen wie demMilitär, behielt Salazar auch in den folgenden Jahren seiner Regierung bei. DerStaatshaushalt wurde ausgeglichen und dieAuslandsschulden beglichen.
Portugal hatte zum Ende seiner Herrschaft das niedrigstePro-Kopf-Einkommen, die höchsten Militärausgaben, die höchsteSäuglingssterblichkeit, das niedrigsteBildungsbudget und mit 40 % die höchsteAnalphabetenquote in Westeuropa. Während in der Nachkriegszeit der Wohlstand der Bevölkerung in weiten Teilen Europas stark zunahm, erhielt die Mehrheit der Portugiesen nur ein Einkommen nahe demExistenzminimum und auch dasStudium an einerUniversität war aufgrund der mangelnden finanziellen Unterstützung vorwiegend den wenigen Wohlhabenden vorbehalten.
Da zahlreiche Bewohner Portugalsauszuwandern versuchten, verhängte Salazar 1967 einAuswanderungsverbot. Die Wirtschaft wurde überwiegend von rund 30 reichen Familien kontrolliert, zwischen der Regierung Salazar und den großen Wirtschaftsunternehmen bestand ein großer personeller Austausch (Drehtür-Effekt).[4]
1945 kontrollierte PortugalKap Verde, das heutigeSão Tomé und Príncipe,Angola,Guinea-Bissau,Cabinda undMosambik inAfrika,Diu, Daman undGoa inIndien,Macau in China undOsttimor in Südostasien. Salazar hielt an diesem Anspruch auf die Kolonien fest, bedeuteten sie doch Prestige und wirtschaftliche Stabilität. Die Kolonien und der damit verbundene Stolz, die dritteKolonialmacht nach Großbritannien undFrankreich zu sein, bildeten eine der Grundlagen seiner Herrschaft. Salazar hat während seiner rund vierzigjährigen Regierungstätigkeit jedoch keine einzige Kolonie besucht.
Nur der große Kolonialbesitz des Landes ermöglichte es, dass Portugal – wie von Salazar gewünscht – eine wichtige internationale Rolle spielte. Das Land selbst betrieb einen ideologisch begründeten „stolzen Isolationismus“ und blieb ein vom übrigen Europa abgeschotteter Staat, auf den dieWestmächte nur wenig Einfluss hatten. 1949 war Portugal – unter anderem wegen seiner geostrategischen Bedeutung und seiner antikommunistischen Haltung – Gründungsmitglied derNATO. 1955 trat Portugal denVereinten Nationen bei.
Von der Einnahme des letztenportugiesischen Kolonialbesitzes in Indien durch Truppen der Indischen Union am 18. Dezember 1961 bis über den Tod Salazars hinaus wurden vor allem dieafrikanischen Kolonien zu einem wachsenden Unruheherd für Portugal. Die ab 1961 aufflammendenKolonialkriege führten schließlich zum Ende der Salazar-Diktatur. Führende Militärs, allen voran GeneralAntónio de Spínola, drängten auf das Ende der Kampfhandlungen, denn Spínola hatte erkannt, dass die Kriege in Afrika nicht zu gewinnen waren.
1968 erlitt Salazar eineHirnblutung. PräsidentAmérico Tomás nahm an, dass der 79-Jährige nicht mehr lange leben würde, und ernannteMarcelo Caetano zum 27. September 1968 zu dessen Nachfolger. Als sich Salazars Zustand verbesserte, teilte keiner seiner alten Gefolgsleute ihm mit, dass er einen Nachfolger hatte. Salazar berief Kabinettssitzungen ein.[5] Bis zu seinem Tod im Juli 1970 lebte Salazar in seinem Haus in seiner Geburtsstadt Santa Comba Dão. Am 25. April 1974 wurde seinEstado Novo von derNelkenrevolution beendet.Die Übergangsregierung beendete denPortugiesischen Kolonialkrieg; die Kolonien wurden unabhängig.
Obwohl seine Regierung eine Diktatur war, war Salazar bei Teilen der portugiesischen Bevölkerung auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch populär. Gründe dafür waren seine Unbestechlichkeit, seine materiell bescheidene Amtsführung und sein unprätentiöses Auftreten. Er zahlte selbst Dienstreisen von seinem eigenen Geld, um den Staatshaushalt nicht zu belasten. Die Geschichte des Salazar-Regimes wurde nach seinem Tod in Portugal kaum aufgearbeitet.Salazar wurde 2007 in der Sendung „Os Grandes Portugueses“ (etwa vergleichbar mit „Unsere Besten“) mit deutlichem Vorsprung zum bedeutendsten Portugiesen aller Zeiten gewählt. Salazar wurde in einem schlichten Familiengrab auf dem Friedhof seines Geburtsortes Vimieiro beigesetzt.[6] Eigentlich hatte er eine anonyme Bestattung gewollt.
Harald Bodenschatz, Max Welch Guerra (Hrsg.):Städtebau unter Salazar. Diktatorische Modernisierung des portugiesischen Imperiums 1926–1960. DOM publishers, Berlin 2020,ISBN 978-3-86922-528-9.
Tom Gallagher:Salazar: The Dictator Who Refused to Die. C. Hurst, London 2022,ISBN 978-1-78738-388-3.
Kian-Harald Karimi:‚Es wird nicht diskutiert!‘ Die Ordnung des Diskurses im Neuen Staat. In: Henry Thorau (Hrsg.):Portugiesische Literatur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 236–258.
Antonio Louçã:Nazigold für Portugal: Hitler und Salazar. Holzhausen, Wien 2002,ISBN 3-85493-060-7.
Paul H. Lewis:Latin fascist elites. The Mussolini, Franco, and Salazar regimes. Westport, Conn. 2002.
António Costa Pinto:The Salazar „New State“ and European fascism. EUI working papers in history 12, San Domenico (FI) 1991.
Filipe Ribeiro de Meneses:Salazar: A Political Biography. Enigma Books, New York 2010.
Jürgen Zimmerer:Der bestregierte Staat Europas. Salazar und sein „Neues Portugal“ im konservativen Abendland-Diskurs der frühen BRD. In:Portugal – Alemanha – Brasil. Actas do VI Encontro Luso – Alemão = Portugal – Alemanha – Portugal: 6. Deutsch-Portugiesisches Arbeitsgespräch, Band 1 / Org. Orlando Grossegesse. Erwin Koller; Armando Malheiro da Silva. Minho, S. 81–101.
Franco und Salazar – Die iberischen Faschisten. Dokumentation. Portugal 2004, Regie: Joaquim Vieira, Fernanda Bizarro, Synchronfassung, ARTE F, Erstausstrahlung, 57 Min.
Als eine Aufarbeitung der sozialen Verhältnisse in der Salazar-Diktatur anhand von miteinander verknüpften Einzelschicksalen kann auch der FilmNachtzug nach Lissabon bzw. dessen BuchvorlageNachtzug nach Lissabon vonPascal Mercier gelten.