Der BegriffAnimismus (vonaltgriechischἄνεμοςánemos, deutsch‚Wind, Hauch‘, wielateinischanimus,[1] alsanima später inreligiösen Zusammenhängen auchSeele[2] oderGeist) beschreibt zunächst allgemein den „Glauben“, dass lebende Wesen wie unbelebte Objekte eine Seele besäßen.
Mit dem Begriff des Animismus decken bzw. deckten dieReligionswissenschaften und dieEthnologie drei unterschiedliche Bedeutungsfelder ab:
Grundsätzlich steht der unscharfe BegriffAnimismus für diespirituell-religiösen Vorstellungen einerAllbeseeltheit, die vor allem in denethnischen Religionen eine große Rolle spielt: Jeglichen oder bestimmten Objekten der Natur wird eine „persönliche“Seele oder ein innewohnendesGeistwesen zugesprochen, welches mit den gleichen Eigenschaften und Fähigkeiten wie der menschlicheGeist ausgestattet ist.[3][4]
Im umgangssprachlichen und imtheologischen Gebrauch wird der BegriffAnimismus alsSynonym für alle ethnischen Religionen verwandt. Kritiker betrachten diesen Sprachgebrauch alspejorativ (abwertend)[3] und weisen auf die Verwechslungsgefahr mit der überholten Animismus-Theorie hin.[5][6]
Die BezeichnungAnimismus wurde im Rahmen der Forschungen vonEdward Burnett Tylor 1871 in seinem WerkPrimitive Culture, Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom zur Bezeichnung bestimmter Geister- und Seelenvorstellungen bestimmter Völker (angeblich) früher gesellschaftlicher Entwicklungsstufen eingeführt.
Bisweilen wird auch das philosophische Konzept desPanpsychismus fälschlicherweise als Animismus gedeutet:[8] Dabei geht es jedoch nicht um eine dem Menschen ähnlicheAllbeseeltheit, sondern um die Theorie, dassgeistige Fähigkeiten aus unphysikalischen, vorbewussten Phänomenen entstanden sind, die in irgendeiner Form in jeglicher Materie vorhanden sind.
Animistische Religiosität und Spiritualität („Allbeseeltheit“)
Werden Objekte der Natur – Tiere (bisweilen auch ganzeTiergruppen), Pflanzen, Quellen, Felsen, Berge uvm. – alsbeseelt betrachtet, so spricht man im ethnoreligiösen Fachjargon vonanimistischen Auffassungen.[3] In vielen Kulturen werden solche „inneren Wesen“ der Menschenseele gleichgesetzt, während die äußere Erscheinung nicht mehr ist als das real Wahrgenommene. In Reinform sind solche Ideen vor allem beiJäger-Sammler-Kulturen verbreitet.
„Animisten“ betrachten jeden noch so kleinen Teil der Welt, der von ihnen als beseelt aufgefasst wird, als einen Ehrfurcht gebietenden Kosmos. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischenspiritueller Welt undmaterieller Welt.
Obwohl es keine einheitlichen animistischen Vorstellungen gibt, lassen sich doch einige wesentliche Merkmale aufzeigen, die im Allgemeinen vorkommen. So ist dem animistischen Denken jeder religiöse Überbau fremd. „Heilig“ im Sinne von „respektgebietend“, aber auch „respektfordernd“, sind Erscheinungen der natürlichen Umwelt in den meisten Ausprägungen: In jedem beseelten Stein, jeder -Pflanze, jedem -Tier und jedem -Menschen, auch an jedem -Ort entwickelt „Lebenskraft“ einen eigenen Willen, der natürlichen Regeln folgt.
Die Vorstellung der Beseeltheit der Objektwelt ist auch im japanischen Volksglauben noch zu finden: Gebrauchs- und Alltagsgegenstände und vor allem weggeworfene Dinge können zum Leben erwachen und dann alsTsukumogami mehr oder weniger harmlose Verwirrung anrichten.
Typische Kennzeichen von Glaubenssystemen mit einer animistischen Basis sind:
Es sind gerade unmittelbareNaturerscheinungen, die selbst beseelt sind, und mit denen der Mensch auf verschiedene Weise kommunizieren kann.
die Diesseitsorientierung und das daraus resultierende Verhalten hat in erster Linie die Sicherung der Existenz im Diesseits zum Ziel.
die Vorstellung, dass der Mensch einen Körper und mindestens eine Seele hat, die in gewisser Unabhängigkeit vom Menschen existiert. Sie ist ein zweites Ich des Menschen in der geistigen Welt. Verlässt dieses geistige Doppel den Menschen dauerhaft, wird er krank, schwach und kann sterben. Der Mensch lebt also in zwei Welten gleichzeitig, nach dem Tod des Körpers nur noch in der jenseitigen Welt.[11]
Die Theorie vom Animismus als umfassender „Urreligion“ ist heute – nach Auffassung einer bestimmten Denkrichtung – nur noch ein wissenschaftshistorisch relevantes Konzept; für Andere behält der Begriff seine Relevanz und der Animismus seine religionshistorische Stellung an den Anfängen der Evolution. Das ist eine Position, wie sie etwaEdward B. Tylor vertrat.[12] Er war es auch, der den Begriff 1871 in die wissenschaftliche Diskussion einführte. Nach Tylor ist Animismus die früheste von Menschen entwickelte Form der Religion. Grundvoraussetzung war nach seiner Vorstellung die Idee einer persönlichen, leibunabhängigen,frei beweglichen Seele, die zwangsläufig auch den Glauben an eine Weiterexistenz nach dem Tod,Wiedergeburt u. Ä. einschloss. Obwohl dieEthnographie ein breites Spektrum an voneinander abweichenden Darstellungen belegt, vereinheitlichte Tylor diese Ideen und schrieb zudem auch leblosen Geräten und Gütern prinzipiell eine „Gegenstandsseele“ zu. Er schlussfolgerte, dass sich daraus zuerst noch objektgebundene, später freie, übergeordnete Geister und schließlich dieGötter entwickelt haben sollen, um zuletzt in der zentralen Gestalt eines einzigen Gottes oder in einem allgemeinenPantheismus(Gott = Welt) aufzugehen.[3]
Die Menschen hätten nach Tylor ihre frühestenGesellschaftssysteme auf Grundlage des Animismus gebaut, um zu erklären, warum Dinge geschehen. Als er dies veröffentlichte, galt seine Theorie als politisch radikal, weil sie Völkern ohne Buchreligion zugestand, tatsächlich eine Religion zu haben.
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Neben Tylor entwickeltenHerbert Spencer undJohn Lubbock die Theorie, der Glaube an Seelen und Geister sei die Vorstellung aller ursprünglichen religiösen Vorstellungen: Der „primitive“ Mensch in einer relativ frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe habe aus den Erfahrungen in seiner Umwelt abgeleitet, dass er etwas habe, das seinen Leib bei Krankheit, Traum und Schlaf zeitweilig und im Tod endgültig verlasse: die Seele.
Spätere Abstraktionsstufen hätten daraus Geister entwickelt, Seelen von Toten, von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, die in relativer Selbständigkeit auf das Leben des Menschen einwirken und deren Verhalten der Mensch durch rituelle Kontaktaufnahme beeinflussen können. Weitere Abstraktion habe daraus die Vorstellung von Göttern und schließlich von einermonistischen Gottesvorstellung hervorgebracht. Diese evolutionistische Theorie der Entstehung religiöser Vorstellungen, der zufolge der Glaube an Geister das unbedingt notwendige Durchgangsstadiumaller religionsphilosophischen Entwicklungen – sozusagen das „Minimum der Religionsvorstellung“ – sei, wurde zwischen 1905 und 1909 mit philosophischen und psychologischen Argumenten vonWilhelm Wundt untermauert: DurchEinfühlung projiziere der Mensch das eigene Ich und dessen Ängste auf die Objekte, die sie für beseelt halten; sie leben im Bann ihrer Projektionen. In der nächsten Entwicklungsstufe desTotemismus sehen sie die Seelen ihrer Ahnen in einem Schutztier verkörpert.[13]
Die Hoffnung des zunächst unter dem Einfluss derRomantik, später unter dem desEvolutionismus stehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, durch die Erforschung der sogenannten „Naturvölker“ zur „Urreligion“ der Menschheit vorzudringen, gilt für bestimmte, theoretische Strömungen bzw. Tendenzen heute als obsolet. Diese Ethnien seien keine „Urvölker“ oder Vertreter einer „Urkultur“ der Menschheit, sondern Zeitgenossen, deren Geschichte im Vergleich zu Industriegesellschaften anders verlaufen sei und verliefe. Dem Inhalt nach ist uns diese Entwicklung meist unbekannt – mit Ausnahme der rezenten Perioden, also z. B. denIndianerkriegen in Amerika, die zum Niedergang vonIndianerkulturen führten –, dürfe aber als langfristig angenommen werden.
Das Wissen über die Anfänge religiöser Vorstellungen ist in der Religionshistorie, also der anthropologisch-prähistorischen Forschung, begrenzt. Demgemäß müsse auch dieHypothese eines einstmals „reineren“ Gottesglaubens der „Urvölker“ (der „Urmonotheismus“ nachWilhelm Schmidt) als eine spekulative Option neben vielen anderen verstanden werden; ebenso alle älteren evolutionistischen Konstruktionen überPräanimismus, Animismus undManismus. Auf Grund des knappen Materials sei eine Weiterentwicklung von Hypothesen zu gefestigtem Wissen schwierig. Ethnologisch, religionshistorisch und entwicklungspsychologisch stünden „animistische“ und andere ethnisch-religiöse Vorstellungen nicht am Anfang der Entwicklung, sondern seien jüngere und abgeleitete Phänomene. Bereits der EthnologeWilhelm Schmidt habe dies erkannt und stellte daher die Theorie auf, nach der es gerade umgekehrt sei: Am Anfang habe der Monotheismus gestanden, wie er im Judentum, Christentum und im Islam gelehrt wird. Daraus entwickelte sich einOligotheismus (Glaube an die wenige Götter), aus dem wiederum einPolytheismus (Glaube an viele Götter) hervorging, der sich schließlich zu einem Animismus wandelte. In der einschlägigen Literatur ist dieser Ansatz alsDegenerationshypothese bekannt.[14] Jedoch auch diese Theorie wird heute von manchen Autoren als zu stark abstrahiert abgelehnt.
Auch vonklerikaler Seite wurde die Animismustheorie kritisiert, da man in ihr einen Angriff auf den Ausschließlichkeitsanspruch der übernatürlichen christlichen Offenbarungslehre sah. Diese Kritik formulierte zunächst vor allemAndrew Lang,[15] später besonders Wilhelm Schmidt mit seiner Theorie desUrmonotheismus.[16]
Der Versuch, aus der Analyse rezenterJäger-und-Sammler-Kulturen auf die Entwicklung früherer spiritueller Vorstellungen zurückzuschließen, ergibt eine hypothetische, aber fragwürdige Abfolge von Animismus als frühester Denkform, gefolgt vom Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode, dann von Schamanismus und schließlich von Ahnenkult. Der Glaube an aktive Ahnengeister oder gar aktive Hochgötter sei jedoch bei „frühen Menschen“ nicht zu finden.[17]
Zeitgenössische Kritik am evolutionistischen Stufen-Modell spirituell-religiöser Systeme („Animismus“)
Im Zuge einer Aufarbeitung wissenschaftlicher Theorien aus der Analyse von „kolonialistisch-eurozentristischenHypothesen bzw.Standpunkten“, insbesondere des 19. Jahrhunderts, wurde auch der Begriff des „Animismus“ einer Revision unterzogen. Die Erkenntniszunahme in den Wissenschaften durch multi- und interdisziplinäre Forschung hat nicht nur das Verständnis und die Beschäftigung mit den Lebensweisen und Kenntnissen der indigenen Bevölkerung verbessert, sondern auch die immer noch vorherrschenden Ideologien und methodischen Praktiken in Frage gestellt.[20]Nurit Bird-David (1999)[21][22] leitete mit ihrenArbeiten undempirischen Studien über den Animismus in rezenten Jäger-Sammler-Ethnien eine wissenschaftliche Kontroverse ein. In ihrerFeldforschung bei der Ethnie derKattu Nayaka bemerkte Bird-David, dass deren animistisches Verständnis der Welt eine Art des Wissens und Seins in der Welt verkörpere, die als „relationale Erkenntnistheorie“, (englischrelational epistemology) bezeichnet werden könne. Diese Vorstellungswelt, so Bird-David, fördere ein „intimes Verständnis der Umwelt“, die die vielfältigen Aspekte von Jäger-Sammler-Kulturen prägen, wie z. B. eine Ökonomie des Wohlergehens (englischaffluent economies), das Teilen innerhalb dersozialen Gruppe, die Kommunikation mitVorfahren, Heilpraktiken sowie Eltern-Kind-Beziehungen.[23] Sie wird oft als eine der Initiatoren einer anthropologischen Neuinterpretation des Animismus angesehen.[24] FürGraham Harvey ist die von Tyler stammende „alte animistische“ Definition problematisch, dennoch sei der Begriff „Animismus“ „von erheblichem Wert als kritischer, akademischer Begriff für einen religiösen und kulturellen Stil, der sich auf die Welt bezieht“.[25][26][27]
Philippe Descola[28] sieht in dem eurozentristisch geprägten Begriff desNaturalismus eher eine Ausnahme in Bezug auf das Verständnis derWirklichkeit; „(…) In zahlreichen Gegenden des Planeten werden Menschen und Nichtmenschen nicht als Wesen aufgefasst, die sich in unvereinbaren Welten und nach getrennten Prinzipien entwickeln (…)“[29] So würden keineontologisch scharfen Differenzierungen zwischen den Menschen einerseits und den sie umgebenden Tier- und Pflanzenspezies getroffen werden. Sie lebten alle in einer großen, „kontinuierlichen allbeseelten Welt“, die von einem uniformen Prinzip durchdrungen sei.[30]
Eduardo Viveiros de Castro (2012)[31] zeigte in seinen empirischen Untersuchungen, dass die zentralen Annahmen derindigenen Ethnien in Südamerika, den Kosmologien[32], der am Amazonas lebenden indigenen Völker eine exakte Umkehrung, der in der „westlichen Welt“ vorherrschenden Deutung der Wirklichkeit sei. Während im „eurozentrischen“ Verständnis davon ausgegangen wird, dass Menschen sich von den Nichtmenschen in derKultur unterscheiden, aber materiell-biologisch den Körper mit ihnen gemeinsam haben, sehen die Menschen in den indigenen Ethnien dies diametral anders. Die Nichtmenschen teilen sich mit den Menschen ihre Existenz als Kulturwesen, sie unterscheiden sich aber durch ihre Körperlichkeit, denAffekten und Sichtweisen auf die Wirklichkeit.[33]
Die Kritik an den Animismustheorien (im Sinne einer „Urreligion“) durch die Philosophie, Teile der Religionswissenschaften und der Ethnographie führte auch zur Formulierung präanimistischer Auffassungen, also der Annahme einermagischen Kraft (bei J. Frazer, 1890), einerunpersönlichen Kraft (bei J. Hewitt, 1902), eines Glaubens des „primitiven“ Menschen an dieBeseeltheit der gesamten Natur (beiWladimir Germanowitsch Bogoras, 1904), die erst vorhanden gewesen sein müsse, um die vom Animismus skizzierte Entwicklung der religiösen Vorstellungen auszulösen und zu ermöglichen. Obwohl diese Kritik keine eigene weitergehende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der religiösen Vorstellung gab, wurden doch dabei auch Emotionen, Affekte, unbewusste Impulse mit in die Betrachtung einbezogen, soweit sie zu Gewohnheiten und rituellen Handlungen geworden waren und obwohl ihnen erst viel später eine religiöse Deutung unterlegt wurde.
Vertreten wurde diese Auffassung vor allem von K. Preuss (1904), A. Vierkandt (1907) und R. Marett (1899), der den BegriffPräanimismus prägte, ferner vonErnst Cassirer undRudolf Otto, der bereits 1910 die Wundtsche Version des Animismus einer prinzipiellen Kritik unterzogen hatte.
Auch diese Theorien gelten heute vielen Autoren als obsolet. Andere dagegen urteilen differenzierter und beziehen nur gegen eine starre evolutionäre Einordnung des Phänomens Stellung.[34]
„Animismus ist keine ‚Religion‘, keine ‚Kirche‘, keine ‚Sekte‘, keine ‚Bewegung‘. Es ist Richtung, eine Tendenz, ein Aufzeigen, ein Gefühl, und das ist gut so, denn sobald eine ‚Religion‘ einen Namen, eine Struktur, ein festes Glaubensbekenntnis hat, ist sie wahrscheinlich gar keine Religion mehr.“
Heute wird der Begriff Animismus umgangssprachlich und vor allem in Zusammenhang mit theologischen Schriften häufig als synonyme Bezeichnung für die schriftlosen ethnischen Religionen verwendet. Die meisten Autoren, die den Begriff in dieser Weise verwenden, weisen jedoch Tylors Animismustheorie zurück. In den meisten Fällen stellen sie ihren Arbeiten daher eine eigene Definitionihres Animismus voran. So etwa der evangelische TheologeRainer Neu[36] oder derevangelikaleReligionsethnologeLothar Käser.[37]
Weltlich orientierte Ethnologen hingegen sehen auch diese Verwendung kritisch, da Animismus nurein Teilaspekt ethnischer (und anderer) Religionen ist und eine Verallgemeinerung zu Missverständnissen führen würde. Zudem stelle sich der Animismus gleichermaßen als religiöser Aspekt wie als Regelwerk des Aufbaus derSoziokultur und auch als mythische Welterklärung in jeder Kultur anders dar.[3][5] Überdies könne er durch den Bezug zur überholtenAnimismustheorie als Relikt evolutionistischer Sichtweisen aufgefasst werden.[6] Eine „-ismus-Bildung“ kann daher zur falschen Assoziation einer tatsächlich nicht vorhandenen Einheitlichkeit führen.
Für die ethnischen Religionen nord- und zentralasiatischer Völker wird der Begriff noch recht häufig verwendet(etwaSibirischer Animismus).
Jean Piaget übernahm den BegriffAnimismus aus der Ethnologie zurKlassifizierung einer kindlichen Geisteshaltung, die sich grundlegend vomEgozentrismus ableitet. Die Übernahme ist gut begründet. Auch viele Kinder besitzen ein implizites Weltverständnis solcher Art, dass sie die Welt mit Seele, Intentionen und Bewusstsein ausgestattet sehen. Kinder in der animistischen Phase nehmen an, dass alles, was in der Welt geschieht, aufgrund moralischer Prinzipien geschieht. Kausal-physikalische Zusammenhänge werden zu großen Teilen ausgeblendet; nicht weil das Kind sie nicht akzeptieren will, sondern es kognitiv nicht in der Lage ist, seine psychische Identität von der Außenwelt zu trennen.[38]
Die neuereEntwicklungspsychologie hat gezeigt, dass Beseelung bzw. Beseeltheit ein primäres Erlebnis der kindlichenPsyche ist, wohingegen dieAbstraktion „toter“ Dinge von „lebendigen“ erst eine Leistung des herangewachsenen Menschen auf Grund des Lernens ist. Diese Entdeckung steht im Widerspruch zuWilhelm Wundts psychologischer Begründung des Animismus, nicht das Kind, sondern der Erwachsene sei „Animist“.
Lothar Käser:Animismus. Eine Einführung in die begrifflichen Grundlagen des Welt- und Menschenbildes traditionaler (ethnischer) Gesellschaften für Entwicklungshelfer und kirchliche Mitarbeiter in Übersee. Liebenzeller Mission, Bad Liebenzell 2004,ISBN 3-921113-61-X. Mit verkürztem UntertitelEinführung in seine begrifflichen Grundlagen auch bei Erlanger Verlag für Mission und Ökumene, Neuendettelsau 2004,ISBN 3-87214-609-2.[39]
Lothar Käser:Fremde Kulturen – Eine Einführung in die Ethnologie. Liebenzeller Mission, Bad Liebenzell 1997,ISBN 3-921113-84-9.
↑Nach demGriechisch-Deutschen Schul- und Handwörterbuch vonWilhelm Gemoll. Freyta, München 1959 (7. Aufl.), auch „Atem, Odem“ und „Lebenshauch“, wobei anders als bei dem weitgehend gleichbedeutendenPsyche (altgriechischψυχή) nicht mehr die Aktivität zu atmen mit-, sondern nur die Luft bzw. Luftbewegung als solche gemeint gewesen zu sein scheint, obwohl beide Wörter auch zur Bezeichnung für „Leben, lebendig“ und „Lebenskraft“ verwendet wurden; dasHerkunftwörterbuch der Deutschen Sprache (Bd. 7 des GroßenDuden) gibt beim Eintrag „animieren“ auch noch an, dassaltgriechischἄνεμος mitaltgriechischἆσθμαásthma undlateinischhalare „hauchen“ (wie z. B. inin-halare „einhauchen“, vgl. „inhalieren“) sprachhistorisch in Zusammenhang stehe; überfranzösischanimer wurde im Deutschenanimieren für „anregen, ermuntern“ üblich,animalisch dagegen zur oft abfällig verwendeten Bezeichnung für „tierisch“, im Unterschied zuenglischanimals (buchstäblich „Atmende“ oder „atmende Wesen“) für „Lebewesen, Tiere“
↑Julian Jaynes; Reinbek: Rowohlt, 1993; S. 350–356; KapitelDie Erfindung der Seele
↑abcdefKlaus E. Müller:Animismus. Stichwort in: Walter Hirschberg (Begr.), Wolfgang Müller (Red.):Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005,ISBN 3-496-02650-2. S. 25.
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↑abKarl R. Wernhart:Ethnische Religionen – Universale Elemente des Religiösen. Topos, Kevelaer 2004,ISBN 3-7867-8545-7. S. 83–84.
↑abAdam Jones:Neue Fischer Weltgeschichte. Band 19: Afrika bis 1850. S. Fischer, 2016, eISBN 978-3-10-402419-6, Kap. F, 1. Seite.
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↑Klemens Ludwig:Flüstere zu dem Felsen. Herder, Freiburg 1993,ISBN 3-451-04195-2, S. 195.
↑Marvin Harris:Kulturanthropologie – Ein Lehrbuch. Aus dem Amerikanischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Campus, Frankfurt/New York 1989,ISBN 3-593-33976-5. S. 303.
↑Edward B. Tylor:Primitive Culture. John Murray, London 1871, deutsche Übersetzung:Die Anfänge der Cultur : Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Leipzig 1873 –Digitalisat I,II
↑Wilhelm Wundt:Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Kröner, Leipzig 1912.
↑Wilhelm Schmidt:Der Ursprung der Gottesidee. 12 Bände. 1912–1955.
↑"Results indicate that the oldest trait of religion, present in the most recent common ancestor of present-day hunter-gatherers, was animism, in agreement with long-standing beliefs about the fundamental role of this trait. Belief in an afterlife emerged, followed by shamanism and ancestor worship. Ancestor spirits or high gods who are active in human affairs were absent in early humans, suggesting a deep history for the egalitarian nature of hunter-gatherer societies. (...)In this study we used a suite of phylogenetic comparative methods to investigate the early evolution of religion. We reconstructed ancestral states for seven characters describing religious beliefs and behaviors in a global sample of 33 hunter-gatherer societies and tested for correlated evolution between these characters and for the direction of cultural change.Our results indicate that the oldest trait of religion, shared by the most recent common ancestor of present-day hunter-gatherers, was animism. This supports long-standing beliefs about the antiquity and fundamental role of this component of human mentality, which enables people to attribute intent and lifelike qualities to inanimate objects and would have prompted belief in beings or forces in an unseen realm of spirits." Hervey C. Peoples, Pavel Duda, Frank W. Marlowe:Hunter-Gatherers and the Origins of Religion. In: Human Nature, N.Y., Hawthorne, 2016; 27; S. 261–282. s.PMC 4958132 (freier Volltext).
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↑Jack D. Forbes:Die Wétiko-Seuche. Eine indianische Philosophie von Aggression und Gewalt. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1981.
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