Anaphylaxie
Klassifikation nachICD-10 | |
---|---|
T78.0 | Anaphylaktischer Schock durch Nahrungsmittelunverträglichkeit |
T78.2 | Anaphylaktischer Schock, nicht näher bezeichnet |
T80.5 | Anaphylaktischer Schock durch Serum |
T88.6 | Anaphylaktischer Schock als unerwünschte Nebenwirkung eines indikationsgerechten Arzneimittels oder einer indikationsgerechten Droge bei ordnungsgemäßer Verabreichung |
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ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
DieAnaphylaxie (fälschlich gebildet ausaltgriechischἀνάaná „auf(-wärts), nochmals“ undφύλαξιςphýlaxis „Bewachung, Beschützung“) ist eineakuteallergische Reaktion desImmunsystems von Menschen und Tieren auf wiederholte Zufuhr körperfremderProteine (Antigene) und betrifft den gesamten Organismus.
Das Bild anaphylaktischer Reaktionen reicht von leichten Hautreaktionen über Störungen von Organfunktionen bis zum anaphylaktischen Schock (Kreislaufschock mit möglichemOrganversagen bis zum tödlichenKreislaufversagen).
Pathogenese und Physiologie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Anaphylaxien sind Überreaktionen des erworbenenImmunsystems. Dabei kommt es zu überschießender Freisetzung von Mediatorsubstanzen (Histamin,Leukotriene usw.) durchMastzellen und basophileGranulozyten, die durch die vermittelnde Wirkung spezieller Antikörper (Immunglobulin E kurz IgE) verursacht wird.
Sie setzenSensibilisierung voraus. Dabei wird nach erstmaligem Antigenkontakt vonPlasmazellen ein Antikörper vomIgE-Typ sezerniert (freigesetzt), der sich anbasophileGranulozyten undMastzellen mit dem Fc-Anteil anlagert. Der freie Fab-Anteil des IgE-Moleküls weist damit in denExtrazellularraum.
Grundlegend ist die Reaktion vonAntigenen mit diesen zellständigen IgE-Antikörpern, entsprechend einer Typ-1-Reaktion nachGell undCoombs. Das Antigen (Molare Masse 10.000 bis 70.000u) besitzt meist zweiEpitope, so dass es zur Brückenbildung zwischen IgE-Antikörper-Molekülen kommt.
Nach einer erneuten Zuführung des Antigens bindet es an die IgE-Antikörper auf den basophilen Granulozyten und die Mastzellen. Dadurch setzen diese Zellen die in ihnen gespeichertenMediatoren (Histamin,Prostaglandine,Leukotriene, denPlättchen-aktivierenden Faktor (PAF) und andere) sowieZytokine frei.
DieMediatoren führen zum klinischen Bild der Anaphylaxie (s. u.). Die Sezernierung derZytokine führt wiederum zum Anlocken vonneutrophilen Granulozyten undThrombozyten, die ihrerseits weitere Mediatoren freisetzen, die Bedeutung imEntzündungsgeschehen haben.
Die Effekte der freigesetzten Mediatoren sind
- erhöhte Gefäßpermeabilität (Durchlässigkeit der Gefäßwände)
- Vasodilatation (Weitstellung von Gefäßen) und
- Bronchospasmus (Engstellung von Bronchien).
Ursachen
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Eingrenzung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Es wird die klassische anaphylaktische Reaktion von der IgE-unabhängigen anaphylaktoiden Reaktion unterschieden. Beide Reaktionen wiederum muss man von der reinen Histamin-Wirkung unterscheiden, wie sie systemisch bei einerHistamin-Intoleranz oder lokal z. B. bei Insektenstichen auftreten.
Der klassischen anaphylaktischen Reaktion und der anaphylaktoiden Reaktionen gemeinsam ist, dass Histamin und andere Mediator-Substanzen aus Mastzellen und basophilen Granulozyten freigesetzt werden. Deswegen verlaufen beide Ereignisse unter dem gleichen klinischen Bild. Der Unterschied ist aber, dass bei der anaphylaktischen Reaktion spezifische IgE Antikörper an ein Antigen binden. Bei den anaphylaktoiden Reaktionen führen aber nicht die Bindung der IgE-Antikörpern an das Antigen, sondern chemische, physikalische undosmotische Stimuli zur Freisetzung der Mediator-Substanzen aus Mastzellen und basophilen Granulozyten s. auchMastzellaktivierungssyndrom.
Bei der Histamin-Intoleranz wird kein Histamin aus den Mastzellen freigesetzt, sondern mit der Nahrung aufgenommenes Histamin wird nicht abgebaut und kann seinen Effekt entfalten.
Die lokale Rötung und Schwellung beiInsektenstichen, aber auch bei Entzündungen, wird ebenfalls durch Histamin vermittelt. Hier kommt es aber zur physiologischen Wirkung an der betroffenen Stelle ohne die Wirkung im gesamten Körper. Auch wenn Rötung und Schwellung massiv sein können, handelt es sich ohne eine systemische Wirkung nicht um eine allergische bzw. anaphylaktische Reaktion bzw. von einem Schweregrad 0 s. Tabelle weiter unten.
Auslöser einer Anaphylaxie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Bei Erwachsenen werden Anaphylaxien am häufigsten von Insektengiften (52 %), gefolgt von Arzneimitteln (22 %) und Nahrungsmitteln mit 16 % ausgelöst. Bei Kindern stehen Nahrungsmittel mit 60 % an erster Stelle, gefolgt von Insektengiften mit 22 % und Arzneimitteln mit 7 %. Bei den Arzneimitteln als Auslöser stehenAntibiotika undnichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) im Vordergrund.[1]
Idiopathische Anaphylaxie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Sogenannte idiopathische Anaphylaxien, bei denen sich der konkrete Auslöser nicht ermitteln lässt, können u. a. durch zugrunde liegende und nicht diagnostizierte Mastzellerkrankungen (wie z. B.Mastzellaktivierungssyndrom / MCAS odersystemischer Mastozytose) ausgelöst werden, da diese zu einer übermäßigen Freisetzung von Mastzellmediatoren führen.
Klinik
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]
Das Ausmaß der allergischen Reaktion kann stark interindividuell variieren. Eine anaphylaktische Reaktion läuft in zwei Phasen ab:
- Initialphase und
- systemische Reaktion.
Initialphase
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Innerhalb von Minuten bis Stunden:
- Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle, Darmkoliken
- Hauterscheinungen (lokal)
- Bronchospasmen (allergischesAsthma)
Systemische Reaktion
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Folgend entwickeln sich:
- generalisierte Hauterscheinungen (Juckreiz, Gesichtsrötung (Flush), generelle entzündliche Hautrötung, sog.Erytheme,Nesselsucht)
- Atemwegsverengung (Obstruktion) durchÖdeme im Rachen- (Pharynx-) und Schlundbereich (Larynx) sowie Bronchospasmus und Lungenödem
- Magen-Darm-Symptome mit Koliken, Erbrechen, Durchfall (Diarrhoe)
- Hämodynamische Veränderungen aufgrund von Flüssigkeitsverschiebungen und Gefäßerweiterung (Vasodilatation), die zumSchock führen können.
Anaphylaktischer Schock
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Einanaphylaktischer Schock ist eine lebensbedrohliche Anaphylaxie. Er kann z. B. durch Insektengifte, Nahrungsmittel, Infusionen,Immunserum- oderBlutserum-Gabe, Tierallergene oder (bei einer Arzneimittelallergie) Medikamente ausgelöst werden. Durch die Weitstellung der Blutgefäße kommt es zu einem starkenBlutdruckabfall, außerdem tritt Flüssigkeit aus den Gefäßen in das umliegende Gewebe aus. Aufgrund des Blutdruckabfalls kommt es zu einer verminderten Durchblutung lebenswichtiger Organe.
Je schneller die Symptome während der Injektion eines Medikamentes auftreten, desto lebensgefährlicher ist der Zustand. Im schlimmsten Fall treten schon zehn Sekunden nach Beginn der Injektion die ersten Symptome auf. Diese sind sehr unspezifisch – z. B. Übelkeit, Kreislaufbeschwerden, Brechreiz oder Erbrechen, trockener Mund, Zungenbrennen, Sehstörungen, akute Atemnot, Konzentrationsstörungen.
Auch Hautreaktionen, Juckreiz, Quaddelbildung oder die Ausbildung einesLidödems oderQuincke-Ödems sind möglich, fehlen wegen der schnellen Entwicklung aber oft auch ganz.
Im weiteren Verlauf treten die typischen Symptome einesSchocks auf, d. h. der Puls wird flach und schnell und es kann Bewusstlosigkeit und anschließend der Tod eintreten.
Systematik und Therapie
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Anaphylaktische Reaktionen werden in vier Schweregrade eingeteilt:[2]
Schweregrad | Symptome | Therapie | |
---|---|---|---|
0 | lokal begrenzte Hautreaktion | ||
1 | leichte Allgemeinreaktion | ausgebreitete Hautreaktion (Rötung, Juckreiz, Quaddeln), Schleimhautreaktionen, Allgemeinreaktion (Unruhe, Kopfschmerz) | H1- und H2-Antihistaminika sowie ggf.Glucocorticoide oral oder intravenös |
2 | ausgeprägte Allgemeinreaktion | Kreislaufstörung, Luftnot, Stuhl- und Urindrang | Infusionstherapie mitElektrolytlösungen, Glucocorticoid i. v., H1- und H2-Antihistaminika i. v., bei Atemwegsreaktion O2 undβ2-Mimetika inhalieren |
3 | bedrohliche Allgemeinreaktion | Schock,Bronchospasmus,Atemnot, Bewusstseinseintrübung | intravenöse Therapie mit Adrenalin, Glucocorticoid und Infusionslösungen; falls kein Venenzugang vorhanden: Adrenalingabe intramuskulär. Pulmonal: β2-Mimetika/Adrenalin inhalieren. |
4 | vitales Organversagen | Atem-, Kreislaufstillstand | Regeln derReanimation |

Prinzipien der Behandlung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Eine weitereAllergenzufuhr muss beendet werden (z. B. Medikamenteninjektion abbrechen, weitere Wespenstiche verhindern). Anaphylaktische Reaktionen können extrem rasant verlaufen, so dass ein Notruf bei deutlichen Hinweisen sofort abgesetzt werden soll.Im Rahmen der Ersten Hilfe soll beruhigend auf die Person eingewirkt werden. Körperliche Anstrengungen sollen vermieden werden (nicht selbst ins Krankenhaus begeben!), die Lagerung soll sich an den vorherrschenden Symptomen orientieren: bei Überwiegen der Kreislaufsymptome (Blässe, Herzrasen, Schwindel) bietet sich die klassische Schocklagerung mit erhöhten Beinen an; bei Leitsymptom Atemnot ist der Oberkörper erhöht zu lagern; bei Kindern ist es am wichtigsten, dass sich die Lagerung angstfrei gestalten lässt (das kann z. B. heißen: Auf dem Arm eines Elternteils). Falls der Betroffene einenAutoinjektor mitAdrenalin mit sich trägt (siehe unten), braucht er eventuell Unterstützung bei der Anwendung. Falls verfügbar, wirdSauerstoff über eine Maske gegeben. Bei Bewusstlosigkeit mit erhaltener Atmung instabile Seitenlage bringen; bei einemKreislaufstillstand wird mit derReanimation begonnen.
Vom Arzt oder Rettungsdienst wird einvenöser Zugang geschaffen und mit der Volumentherapie mit kristallinen Elektrolytlösungen (Ringer-Lösung,Kochsalzlösung) begonnen. Im Falle von Bewusstlosigkeit und/oder Atemstörungen muss dieIntubation und künstliche Beatmung in Betracht gezogen werden. Die medikamentöse Therapie besteht aus der intramuskulären oder intravenösen Gabe vonAdrenalin,Glucocorticoiden undAntihistaminika (kombinierte Gabe von H1- (Clemastin,Dimetinden) und H2-Antagonisten (Cimetidin oderRanitidin)).
Während eine schwere anaphylaktische Reaktion innerhalb von Minuten lebensgefährlich werden kann, bleiben bei erfolgreicher Therapie keine Spätschäden zurück. Bei erneutem Kontakt mit dem auslösendenAllergen muss jedoch mit einem weiteren anaphylaktischen Schock gerechnet werden.
Notfall-Selbstbehandlung
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Personen mit bekannter Gefährdung, die bei Kontakt mit einem bestimmten Allergen, beispielsweise Insektengift, eine Anaphylaxie erleiden könnten, haben die Möglichkeit, ein Notfallset mit sich zu führen, so dass sie sich schon vor Eintreffen des Arztes oder der Sanitäter selbst eine lebensrettende Adrenalin-Spritze geben können. Dies erfolgt in der Regel mithilfe einesAdrenalin-Autoinjektors. Jedoch muss auch dann noch der Rettungsdienst hinzugezogen werden. In den Notfallsets befinden sich außerdem ein schnell wirkendes Antihistaminikum und Cortison.[3][4]
Geschichte
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]In einem richtungsweisenden Artikel beschriebenPaul Portier (* 1866) und derserumtherapeutisch tätige PhysiologeCharles Richet 1902 folgendes Phänomen: Sie injizierten in Paris Hunden einen Extrakt aus dem giftigen Stachel desSamtanemonenfisches. Die überlebenden Versuchstiere erhielten zwei Wochen später erneut das Gift. Die erhoffte Immunität bzw. ein Schutz gegen das Toxin(Phylaxis) blieb jedoch aus. Stattdessen zeigten die Hunde einen Schockzustand. Der Blutdruck fiel, das Blut war nicht mehr gerinnbar, und pathologisch waren Veränderungen in der Darmwand zu erkennen. Dieser Zustand wurdeAnaphylaxis oderanaphylaktischer Schock genannt.[5] Der von Richet geprägte Begriff der „Anaphylaxie“ sollte ein Ausdruck für das Gegenteil der „Phylaxie“, griechisch für „Schutz“, sein und müsste – bei Verwendung desα-privatum – korrekt „Aphylaxie“ heißen.[6][7] Ab 1903 beschäftigte sich auchMaurice Arthus, der Entdecker derArthus-Reaktion, mit Allergien und Anaphylaxien. Um 1906 erforschteRichard Otto die Meerschweinchenanaphylaxie, die „Antianaphylaxie“ und die „passive Anaphylaxie“.[8] Im Jahr 1909 stelltenArtur Biedl undRudolf Kraus die Theorie auf, dass körpereigene Substanzen für die Reaktion verantwortlich seien. Ein Jahr später isolierten und identifiziertenHenry Dale undGeorge Barger ausMutterkorn dasHistamin.[9]
Literatur
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- S2k-LeitlinieAnaphylaxie, Akuttherapie und Management der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI). In:AWMF online (Stand 31. Dezember 2013)
- Werner E. Gerabek:Anaphylaxie. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.):Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005,ISBN 3-11-015714-4, S. 55.
- Hans Schadewaldt:Idiosynkrasie, Anaphylaxie, Allergie, Atopie. Ein Beitrag zur Geschichte der Überempfindlichkeitskrankheiten. Opladen 1981 (=Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge Geisteswissenschaften, 251).
Weblinks
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten |Quelltext bearbeiten]- ↑P. Schweikert-Wehner:Arzneimittelinduzierte Anaphylaxie bei Kindern.Band 100,Nr. 3. mgo Fachverlag GmbH & Co. KG, 2023,ISSN 0030-9346,S. 531–533.
- ↑U. Müller-Werdan, K. Werdan:Anaphylaktischer Schock. In: Eckart, Forst, Burchardi (Hrsg.):Intensivmedizin. ecomed-Verlag, 2004,ISBN 3-609-20177-0.
- ↑Anaphylaktischer Schock – Notfallset für Allergiker. Lifeline.
- ↑Initiative Insektengift-Allergie
- ↑Wissenschaft-Online-Lexika: Eintrag zuAnaphylaxie imLexikon der Ernährung. Abgerufen am 28. Juni 2011.
- ↑Lothar Kerp:Allergie und allergische Reaktionen. In:Ludwig Heilmeyer (Hrsg.):Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 1130–1159, hier: S. 1130.
- ↑Gundolf Keil:Robert Koch (1843–1910). Ein Essai. In:Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 73–109, hier: S. 85.
- ↑Paul Diepgen,Heinz Goerke:Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 56.
- ↑Hans Bangen:Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992,ISBN 3-927408-82-4, S. 75.