Die Stadt liegt in ca.10 m Höhe an derSomme, etwa 12 km südöstlich derSomme-Bucht, durch die der kleine Küstenfluss in denÄrmelkanal mündet. Die DepartementshauptstadtAmiens liegt etwa 45 km stromaufwärts, weit im Landesinnern; deshalb gilt Abbeville als Zentrum der vomSeeklima beeinflussten maritimenPicardie. Das Gemeindegebiet liegt imRegionalen Naturpark Baie de Somme Picardie Maritime. In Abbeville befindet sich auch die Parkverwaltung.
Abbeville war jahrhundertelang geprägt von Baumwollspinnereien und von der Viehzucht. Noch heute spielen die Textilindustrie sowie mehrere Brauereien wichtige Rollen im Wirtschaftsleben der Stadt. DerFlugplatz Abbeville-Drucat liegt etwa 4 km nördlich auf dem Gebiet der GemeindeBuigny-Saint-Maclou.
In den 1830er-Jahren vom französischen HobbyarchäologenJacques Boucher de Perthes in der FundstelleMoulin Quignon nahe Abbeville entdecktealtsteinzeitlicheFaustkeile belegen eine Besiedlung dieses Platzes durchHomo heidelbergensis bereits vor mehr als 650.000 Jahren.[2] In Abbeville fanden sich geringe römische Siedlungsspuren, etwa ein römischer Keller unter der KircheNotre Dame de Châtel, die auf eine eventuelle Bewohnung des Ortes seit dem 3. Jahrhundert schließen lassen.[3]
Als einer von 13 unter der Herrschaft derAbtei Saint-Riquier stehenden Marktflecken erscheint Abbeville, damals lateinischAbbatis villa genannt, erstmals im Jahr 831 in derChronique de l’abbaye de Saint-Riquier, die vom KlerikerHariulf d’Oudenbourg im frühen 12. Jahrhundert verfasst wurde. Damals residierte bereits einVogt in einer kleinen Burg des Ortes. Trotzdem war Abbeville zu dieser Zeit offenbar noch unbedeutend; dieNormannen besetzten nämlich zwischen 845 und 861 den weiter flussabwärts gelegenen OrtGrand-Laviers.Hugo Capet ließ Abbeville im Jahr 990 zu einer Festung ausbauen, welche die Mündung der Somme sichern sollte. Er ließ Gräben um die Stadtmauer ziehen und übergab den Ort seinem inMontreuil residierenden GefolgsmannHugo von Ponthieu. Dieser war mit Hugo Capets Tochter Gisela verheiratet und bekam auch dieadvocatia über Saint-Riquier. Hugos SohnEnguerrand I. nahm den Titel eines Grafen vonPonthieu an und in der Folgezeit wurde Abbeville der Hauptort dieser Grafschaft.[3][4]
Im Jahr 1053 wurde in Abbeville die ersteStiftskirche zu Ehren des heiligenWulfram von Sens erbaut. Nach den PredigtenPeters des Einsiedlers berief der GrafGui I. von Ponthieu im Jahr 1096 führende flämische, normannische und pikardische Adlige nach Abbeville. Der Herzog derNormandie, der Graf vonFlandern,Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen, und andere Edelleute folgten der Einladung und versammelten in Abbeville ihre Truppen, um von dort die Abfahrt insHeilige Land zumErsten Kreuzzug zu organisieren. Aufgrund seiner Gebrechlichkeit konnte der Graf von Ponthieu jedoch nicht selbst am Kreuzzug teilnehmen.[5] Ebenso diente Abbeville später den Führern desZweiten Kreuzzugs als Sammelplatz vor dem Aufbruch ins Heilige Land. Die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen GrafGuido I. von Ponthieu und denKapetingern sorgten dafür, dass Abbeville königstreu blieb. Um 1130 erhielt der Ort von seinem Oberherrn, dem GrafenGuillaume I. Talvas, das Recht, sich als Gemeinde mit einem Bürgermeister und 24 Schöffen zu organisieren. Allerdings stellte erst GrafJean I. von Ponthieu im Jahr 1184 die entsprechende Urkunde aus. Diese Gemeindeorganisation blieb im Wesentlichen bis zurFranzösischen Revolution bestehen.
Der französische KönigPhilipp II. August zog im Jahr 1221 Ponthieu kurzzeitig ein, wodurch auch Abbeville unter königliche Herrschaft kam. Vier Jahre später wurde es – wie das übrige Ponthieu – der GräfinMarie zurückerstattet. Fälschlicherweise wurde der am 4. Dezember 1259 zwischen dem französischen KönigLudwig IX. und dem englischen KönigHeinrich III. geschlosseneFriede nach Abbeville benannt, obwohl dieser eigentlich inParis unterzeichnet wurde.[6] 1279 erbte der englische KönigEduard I. als Schwiegersohn der GräfinJohanna von Ponthieu deren Grafschaft, so dass Abbeville damals an England fiel, in dessen Besitz es bis zu einem 1345 erfolgten Aufstand blieb. Aufgrund desFriedens von Brétigny kam es im Jahr 1361 wieder unter Kontrolle der Engländer, die jedoch bereits acht Jahre später von französischen Truppen mit Unterstützung der Einwohner vertrieben wurden.
Nach dem TodKarls VI. (1422) erkannte AbbevilleHeinrich VI. als französischen König an. Der burgundische HerzogPhilipp der Gute erhielt es 1435 durch denVertrag von Arras mit den übrigen Somme-Städten, für die Frankreich allerdings ein Rückkaufrecht besaß. KönigLudwig XI. machte von diesem Recht 1463 Gebrauch und bestätigte Abbeville seine Privilegien, doch kam die Stadt bereits 1465 durch denVertrag von Conflans anKarl den Kühnen und damit wieder zu Burgund. Das von diesem Herrscher in Abbeville erbaute Schloss wurde später (1591) durch den Herzog von Aumale zerstört. Nach dem Tod Karls des Kühnen (1477) annektierte Ludwig XI. erneut Abbeville, wo im Oktober 1514 die Heirat von KönigLudwig XII. mitMary Tudor, einer TochterHeinrichs VII. von England, stattfand. 1583 gehörte die Stadt zur Apanage vonDiane de France. Abbeville unterstützte während derHugenottenkriege zuerst dieHeilige Liga, erkannte dann aber im April 1594Heinrich IV. an, der seinerseits der Stadt ihre alten Rechte bestätigte. Als Diane de France starb (1619), wurde Abbeville anCharles de Valois übergeben, der es bis zu seinem Ableben (1650) behielt.
Gründungsaktie der Königlichen Tuchmanufaktur in Abbeville aus dem Jahr 1855. Die als eine der allerersten Textilfabriken der Welt geltende Manufaktur wurde 1849 von dem Politiker Jean-Baptiste Randoing übernommen, der sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hat.
Wirtschaftlich gesehen war Abbeville imMittelalter seit dem 12. Jahrhundert ein wichtiger Handelshafen amÄrmelkanal. Hier blühte auch das Tuchmachergewerbe und die Stadt war im 13. Jahrhundert Mitglied der Londoner Hanse. Schätzungen zufolge hatte Abbeville bis zu 40.000 Einwohner. DieVersandung der Somme-Bucht drängte aber das Meer allmählich zwölf Kilometer zurück. Damit ging seit dem 17. Jahrhundert ein ökonomischer Verfall der Stadt einher, zu dem auch die Aufhebung desEdiktes von Nantes (1685) beitrug. Während der RegierungLudwigs XIV. erhielt Abbeville immerhin 1665 durchColbert die erste, vom Niederländer Josse van Robais (1630–1685) errichtete königliche Tuchmanufaktur sowie 1667 die erste Teppichfabrik. Der verarmte AdligeJean-François Lefèbvre, chevalier de la Barre wurde 1766 in Abbeville wegen angeblicher Gottlosigkeit zum Tod verurteilt.
Am 16. Mai 1940, dem siebten Tag desWestfeldzuges, erreichten Panzer der2. Panzer-Division desXIX. Armeekorps die Kanalküste bei Abbeville.[7] DieWehrmacht war schnell durch die neutralen Niederlande und durch Belgien marschiert und kesselte das britische Expeditionskorps in und umDünkirchen ein. Damit war die alliierte Nordgruppe mit rund 400.000 Mann eingeschlossen (näheres sieheSchlacht um Dünkirchen). Vom 28. Mai bis 4. Juni 1940 fand dieSchlacht von Abbeville statt.
Bombardements der Deutschen wie der Alliierten richteten während desZweiten Weltkriegs zwischen 1940 und 1944 Zerstörungen im Stadtgebiet an. Im Herbst 1944 zog sich die Wehrmacht aus Abbeville zurück.
Im Jahr 2013 sorgte der Abriss der Kirche des Heiligen Jakob(Église Saint-Jacques d’Abbeville) für überregionale Schlagzeilen[8]. Mit dem Überschrift „Église Saint Jacques l’oubliée....“ wurde auf die unwiederbringliche Zerstörung von architektonischer Geschichte und Kulturgut hingewiesen[9]. Kritik ließ die katholische Kirche jedoch nicht auf sich sitzen: Da sich seit derFranzösischen Revolution alle Kirchengebäude in Frankreich in Staatsbesitz befinden, sei der französische Staat für den Unterhalt und für den Abriss von Kirchen zuständig.
Abbeville ist wegen altsteinzeitlicher Funde in einer Kiesgrube nahe der Stadt namengebend für die altsteinzeitliche Epoche desAbbevillien.
DieStiftskircheSt. Wulfran ist ein Meisterwerk spätgotischer Baukunst. Ihre im Jahr 1488 begonnene Erbauung wurde 1539 unterbrochen und fand erst im 17. Jahrhundert ihre Fertigstellung. Das Bauwerk erlitt im Zweiten Weltkrieg schwere Zerstörungen.
DiespätgotischeÉglise Saint-Sépulcre soll an der Stelle stehen, wo sich die Kreuzfahrer im Jahr 1096 zum 1. Kreuzzug eingeschifft haben. Ihr Inneres wird seit 1993 von einem Glasfensterzyklus vonAlfred Manessier dominiert.
DieÉglise Saint-Gilles erhielt ihre heutige Form ebenfalls im 15. Jahrhundert; der mächtigeGlockenturm(clocher) stammt jedoch erst aus dem Jahr 1720. In den 1870er Jahren wurde eine umfassende Restaurierung imneogotischen Stil durchgeführt.
Die durch ihre hochaufragendeHelmspitze charakterisierteÉglise Saint-Jacques entstand in den Jahren 1868 bis 1876.
Der im Jahr 1209 fertiggestellteBeffroi d’Abbeville wurde von den Bürgern der Stadt als Zeichen ihres Verteidigungswillens errichtet. Er beherbergt heute ein archäologisches Museum und das Museum der Schönen Künste.
Das barockeSchloss Bagatelle gilt als das raffinierteste Exemplar von kleinen, verspielten Prunkbauten in Frankreich.[10]
↑Pierre Antoine, Marie-Hélène Moncel, Pierre Voinchet et al.:The earliest evidence of Acheulian occupation in Northwest Europe and the rediscovery of the Moulin Quignon site, Somme valley, France. In:Scientific Reports. Band 9, Artikel Nr. 13091, 2019,doi:10.1038/s41598-019-49400-w.
↑Jacques Thiébaut (Hrsg.):Dictionnaire des châteaux de France. Band 4:Artois, Flandres, Hainaut, Picardie; Nord, Pas-de-Calais, Somme, Aisne. Berger-Levrault, Paris 1978,ISBN 2-7013-0220-X, S. 31.