
DieösterreichischeNeutralität ist seit ihrer Beschlussfassung am 26. Oktober 1955 – einen Tag nach dem Abzug derBesatzungstruppen ausÖsterreich – ein grundlegendes Element in derAußenpolitik Österreichs. Seit 1965 ist der 26. Oktober in Erinnerung daranNationalfeiertag der Republik Österreich.
Die gesetzlichen Bestimmungen finden sich im Neutralitätsgesetz 1955 sowie in der jeweils aktuellen Fassung derBundesverfassung. Mit der Formulierung „Immerwährende Neutralität“ wurde ein üblicher Begriff desVölkerrechts verwendet. Österreich hat die militärische Bündnisfreiheit nach dem EU-Beitritt weitgehend aufrechterhalten, beteiligt sich allerdings an derGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
(Quelle:[1])
Die Überlegung, dass Österreich auf Grund seiner Lage im Zentrum Europas am besten neutral sei, wurde teilweise vor der Entstehung derErsten Republik diskutiert, so auch vom letztenk.k. Ministerpräsidenten und VölkerrechtlerHeinrich Lammasch, welcher sogar einen wehrhaften, keineswegs still sitzenden „Bund der Neutralen“ im Kontext der Invasion des neutralen Belgiens 1915 während des Ersten Weltkriegs gegen Expansionsstreben und zur Friedensstiftung vorschlug.[4][5] Sie konnte bei der Gründung der Ersten Republik kaum Fuß fassen, weder bei den durchaus interessierten Verhandlern inSaint-Germain, noch bei den deutschsprachigen Österreichern, da die meisten den Anschluss an das demokratische Deutschland erstrebten (Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung vom 12. November 1918).
Nach 1945 begannen Verhandlungen zwischen der österreichischen Regierung und den Vertretern der vier alliierten Besatzungsmächte, die sehr lang nicht zum Ziel führten, weil die Sowjetunion dem Abzug ihrer Truppen nicht zustimmte. Erst nach dem TodStalins 1953 trat ein gewissesTauwetter ein.
Die Neutralität war bereits früher vom damaligenBundespräsidentenKarl Renner vorgeschlagen, von der Bundesregierung jedoch nicht forciert worden: Man wollte ein eindeutig westlicher Staat sein und mitNeutralismus undBlockfreiheit nichts zu tun haben. 1954 verlangte Moskau bei der Berliner Außenministerkonferenz Österreichs Neutralität. Darüber gab es mit allen vier Alliierten eingehende Gespräche. Schließlich begaben sich BundeskanzlerJulius Raab, VizekanzlerAdolf Schärf, AußenministerLeopold Figl und StaatssekretärBruno Kreisky im Frühjahr 1955 zu Verhandlungen nach Moskau.
Am 15. April 1955 wurde dasMoskauer Memorandum unterzeichnet: Österreich verpflichtete sich politisch (rechtlich war das Memorandum kein Vertrag), sich nach Abzug der Besatzungstruppen „aus freien Stücken“ für militärisch neutral zu erklären. Im Gegenzug versprach die Sowjetunion, denStaatsvertrag zu unterzeichnen, was dann genau einen Monat später geschah.
Österreichs Verhandler nutzten in Moskau die ErklärungNeutralität nach dem Muster der Schweiz, um klarzustellen, dass es sich nicht um Gesinnungsneutralität oder einen „dritten Weg“ zwischen West und Ost handeln könne, dass aber die gesamte Politik, somit auch die Wirtschaftspolitik, darauf ausgerichtet sein müsse, in einem Kriegsfall die Neutralität aufrechterhalten zu können. Weiters konnten sie vermeiden, dass die Neutralität Bestandteil des Staatsvertrages wurde und Österreich somit zur Rechenschaft über seine Neutralitätspolitik verpflichtet werden konnte.
Der Beschluss des Neutralitätsgesetzes steht somit in direktem politischen (aber nicht rechtlichen) Zusammenhang mit demÖsterreichischen Staatsvertrag vom 15. Mai 1955, durch den Österreich nach derNS-Herrschaft (1938–1945), dem Ende desZweiten Weltkrieges und der darauf folgendenBesatzungszeit (1945–1955) seine volle staatliche Souveränität wiedererlangte.
Die Neutralität Österreichs wurde der Völkergemeinschaft bekanntgegeben, von dieser aber nicht garantiert; sie basiert also nicht auf einem internationalen Vertrag, sondern auf einer einseitigen Erklärung.
Die erste Bewährungsprobe der österreichischen Neutralität war derungarische Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzung im Jahr 1956. Das gerade erst geschaffeneBundesheer hatte den Auftrag, die Grenzen gegen bewaffnete Truppen abzusichern. Der Schießbefehl für den Fall, dass die Grenze überschreitende fremde Soldaten sich nicht sofort entwaffnen lassen, musste (abgesehen von einem Zwischenfall) nicht ausgeführt werden, weil dieSowjetarmee Österreichs Staatsgrenze nicht verletzte. Kurzfristig wurden in Österreich mehr als 180.000 ungarische Flüchtlinge aufgenommen und versorgt, bis sie später größtenteils in andere Länder weiterreisen konnten.
Trotz der Erklärung der immerwährenden Neutralität betrieb Österreich seit Wiedererlangung seiner Souveränität eine aktive Außenpolitik. Es trat bereits am 14. Dezember 1955 denVereinten Nationen bei.
Eine weitere Bewährungsprobe war die Niederschlagung desPrager Frühlings durch Truppen desWarschauer Paktes im August 1968. Wie schon 1956 nahm Österreich erneut eine große Zahl von Flüchtlingen auf und bezog dabei auch klar Stellung gegen das Vorgehen der Sowjetunion. Auch in diesem Fall wurden die Grenzen Österreichs von den fremden Armeen respektiert.
Im Rahmen der UNO nahmen immer wieder Soldaten (vor allem Sanitätseinheiten und militärische Beobachter) anfriedenserhaltenden Einsätzen teil (bis 2005: 60); z. B. Einsätze im ehemaligenBelgisch-Kongo (1960–1964), aufZypern und auf denGolanhöhen imNahen Osten.
Im September 1961 war Österreich Gründungsmitglied der aus der Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) hervorgegangenenOrganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Mehrere internationale Organisationen haben inWien ihren Sitz, darunter seit 1957 dieInternationale Atomenergieorganisation (IAEO), seit 1965 dieOrganisation erdölexportierender Länder (OPEC) und seit 1966 dieOrganisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO).
1979 wurde dasVienna International Centre („UNO-City“) als dritter ständiger Amtssitz der Vereinten Nationen eröffnet. Hier sind u. a. derHohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und dieInternationale Kommission für europäische Auswanderung (ICEM) beheimatet. Die RegierungKreisky vertrat die Auffassung, die Ansiedlung internationaler Organisationen in Wien sei für das Land ein besserer Schutz als ein erhöhtes Verteidigungsbudget.
Seit 1991 kann dieBundesregierung die Aus- oder Durchfuhr von Kriegsmaterial erlauben, wenn dies zur Umsetzung vonResolutionen desSicherheitsrates der Vereinten Nationen geschieht. Seit 2001 gilt dies auch für entsprechende Beschlüsse desEuropäischen Rats, derOSZE und Friedensoperationen anderer internationaler Organisationen nach UNO-Grundsätzen. Von dieser Möglichkeit wurde 1991 durch die Erteilung von Durchfuhr- und Überfluggenehmigungen an die USA im Rahmen desGolfkrieges Gebrauch gemacht. Im März 2015 gab das Verteidigungsministerium an, dass es monatlich Tausende Anfragen für Überflüge und Hunderte für Landtransporte gebe.[6]
Die Neutralität war lange Zeit ein wichtiger Hindernisgrund für Österreich, denEuropäischen Gemeinschaften beizutreten, da die weitgehende Aufgabe der wirtschaftlichen Selbstständigkeit als mit der Neutralität unvereinbar angesehen wurde. Dazu kam, dass auch der Staatsvertrag von 1955 einewirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland verbietet, was insbesondere in der Zeit desKalten Krieges bedeutsam war. Dennoch stellte Österreich am 17. Juli 1989, also noch kurz vor der „Wende“, ein Beitrittsgesuch zu den EG, und am 1. Jänner 1995 erfolgte der Beitritt zur in der Zwischenzeit aus den EG hervorgegangenenEuropäischen Union.
Der schon spätestens seit 1989 bemerkbare Wandel des Neutralitätsverständnisses führte 1993, anlässlich des Inkrafttretens desMaastrichter Vertrages, zu einer Neuinterpretation derselben durch die Bundesregierung. Demnach erschöpfe sich die Wirkung der Neutralität überwiegend in den in Art. 1 Abs. 2 des Neutralitätsgesetzes genannten Punkten.
Zwecks Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU wurde der Artikel 23f (nunmehr Artikel 23j) der Bundesverfassung geschaffen, der Österreich die Teilnahme an humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen, friedenserhaltenden Aufgaben sowie Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen (Petersberg-Aufgaben) ermöglicht.
1994 ist Österreich derNATO-Partnerschaft für den Frieden beigetreten.
1999 hat die von denUSA geführte NATO-Koalition imKosovokrieg für ihre Luftangriffe inSerbien den österreichischen Luftraum benutzt, obwohl Österreich dies nicht gestattet hatte. Gegen die insgesamt 61 Flugzeuge wurde diplomatisch protestiert, es wurden aber keine Abfangjäger eingesetzt.[7]
Neben der Teilnahme an verschiedenen EU-Battlegroups, zum Beispiel der Battlegroup 107, bestehend aus deutschen, niederländischen, finnischen und litauischen Verbänden oder der deutsch-österreichisch-tschechischen Battlegroup, beteiligt sich das österreichischeBundesheer auch regelmäßig an gemeinsamen internationalen Gefechtsübungen, hauptsächlich mit der deutschenBundeswehr. So zum Beispiel vom 9. bis 27. März 2015 auf dem hochalpinen Truppenübungsplatz Lizum/Walchen, während der binationalen Bundesheer-Bundeswehr-Brigadegefechtsübung „Edelweiß 2015“. Trainiert wurde dabei unter extremen Wetterbedingungen und in schwierigem Gelände, um die Kampffähigkeit im winterlichen Hochgebirge aufrechtzuerhalten.
Ein immer wiederkehrender Streitpunkt in der österreichischen Politik sind Waffenlieferungen an andere Länder (vgl.Österreichische Militärgeschichte).
Zahlreiche Meinungsumfragen belegen, dass die Neutralität im Lauf der Jahrzehnte von der Mehrheit der Bevölkerung voll akzeptiert wurde und als Teil der österreichischenIdentität empfunden wird.[8]
Seit demFall des Eisernen Vorhanges und demBeitritt zur Europäischen Union ist die Neutralität allerdings immer wieder im Gespräch. Vorstöße im Sinne einer „solidarischeren“ Außenpolitik (etwa eines NATO-Beitritts) kamen vor allem von Politikern derÖVP namentlich vonWolfgang Schüssel sowie demBZÖ, währendSPÖ undFPÖ sich eher bedeckt hielten oder dazu tendierten, an dem (von ihnen ursprünglich gar nicht präferierten) Neutralitätskonzept festzuhalten. Die (als populistisch geltende)Kronen-Zeitung und ihr HerausgeberHans Dichand vertraten ebenfalls die Position einer Aufrechterhaltung der „Immerwährenden Neutralität“. Eine intensive Diskussion entstand beispielsweise über die Frage der Beistandspflicht im letztlich nicht zu Stande gekommenenEU-Verfassungsvertrag sowie bei der Beteiligung Österreichs an derEU-Eingreiftruppe.
Aufgrund der eindeutigen Meinungslage der Bevölkerung vermieden es die Regierungen der letzten Jahre nach Auffassung von Kommentatoren bisher aus vor allem wahltaktischen Gründen, offiziell festzustellen, dass die Vollneutralität Österreichs heute nicht mehr besteht und auch die verbleibende Bündnisfreiheit außen- bzw. EU-politischer Zweckmäßigkeit entsprechend interpretiert wird. Unter Verfassungsjuristen wird diskutiert, ob der formelle Widerruf des Neutralitätsgesetzes als Gesamtänderung der Bundesverfassung zu interpretieren sei und daher von Gesetzes wegen eineVolksabstimmung erfordere. Das Gesetz ist allerdings ohne Volksabstimmung zu Stande gekommen und auch der durch Volksabstimmung legitimierte EU-Beitritt wird als Argument gegen einenBestandsschutz im Sinne des Art. 44. Abs. 3B-VG angeführt.
Die Auffassung, dass Österreichs Neutralität im klassischen Sinn nicht mehr bestehe, wird immer wieder von Experten derLandesverteidigungsakademie Wien vorgebracht. Dabei wird regelmäßig davon ausgegangen, dass „EU und NATO künftig noch enger zusammenarbeiten werden“. Zwischen NATO und EU gebe es, seit 2003 vertraglich vereinbart, eine „strategische Partnerschaft“ als Grundlage für die gemeinsame Sicherheit. Die Vereinbarung erlaube der EU den Rückgriff auf NATO-Mittel und -Kapazitäten, um eine militärische Operation durchzuführen.[9]
Eine repräsentative Umfrage in der Schweiz und in Österreich während desrussischen Überfalls auf die Ukraine 2022 ergab, dass die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung an der Neutralität festhält und sich für eine ausreichende militärische Verteidigungsfähigkeit des Landes ausspricht.[10] Dabei kann sich allerdings die Eigen- von der Fremdwahrnehmung unterscheiden, wenn beispielsweise die Sprecherin des russischen Außenministeriums,Maria Sacharowa, am 23. Mai 2023 sagte: „Österreich, das sich gegenüber Russland eindeutig auf die Seite des Westens in seiner feindlichen Politik gestellt hat, hat seine bisher unabhängige Rolle in der Außenpolitik aufgegeben und das Prinzip der Neutralität über Bord geworfen“.[11]